Ich muss Journalist sein, ich halte ja das Mikrofon

Nur theoretisch: Wozu wären Journalisten da, wenn sie Angela Merkel auf einer Auslandsreise nach Kanada begleiten? Sicher um zu berichten, was sie dort tut. Wie zum Beispiel die Agentur AP, die berichtet (zu lesen z.B. hier)

Sie halte das Vorgehen Kanadas, Haushaltsdisziplin zu wahren und nicht auf Pump zu leben „auch für das richtige Lösung in Europa“, sagte Merkel am Mittwoch in Ottawa bei einem Empfang des deutschen Botschafters. So müssten die Probleme in Europa angegangen werden.

Nun ist Kanadas ökonomischer Erfolg eindeutig. Auch durch die Krise ist das Land gut gekommen. Wenn man die Kanadier fragt, wie sie das gemacht haben, klingt das aber ein bisschen anders als bei Merkel. Zum Beispiel in der Vorstellung des aktuellen Staatshaushaltes:

The Government’s sound fiscal position prior to the crisis provided the flexibility to launch the stimulus phase of Canada’s Economic Action Plan, which was timely, targeted and temporary in order to have maximum impact. This plan was one of the strongest responses to the global recession among the Group of Seven (G-7) countries.

Denn tatsächlich hat Kanada erfolgreich – und aufgrund von vorhergehend sehr sorgsamer Haushaltsführung aus einer Position mit Haushaltsüberschüssen kommend – das stärkste Konjunkturpaket aller Industrienationen aufgelegt, nämlich in einer Größenordnung von 4 Prozent des BIP. Das ist klassisch keynesianische, antizyklische Wirtschaftspolitik, mithin das exakte Gegenteil von dem, was Merkel in Europa durchsetzt und per Fiskalpakt zum Gesetz gemacht hat. Kurz: Merkel lobt eine Politik als vorbildhaft, die sie selber – in den Worten eines englischen Diplomaten – „praktisch für illegal erklärt hat“.

Das könnte man mal erwähnen. Und AP ist keineswegs allein damit, einfach Merkel nachzubeten und Kanadas Politik damit als ein Beispiel des Gegenteils von dem zu verkaufen, was sie ist – in den meisten Medien wird mit diesem Tenor berichtet (als ein Beispiel: auf tagesschau.de klingt es ganz genau so). Eine kleine Einordnung Merkels falscher Behauptungen wäre dann vielleicht auch so etwas wie ein Hinweis darauf, warum man eigentlich heute noch Journalisten braucht.

Wir werden von Idioten regiert. Das verlangt das Gesetz

Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger hat gerade auf SpOn erklärt, warum ein Student, der das Spar-Programm der Troika als Antwort auf die Herausforderungen der Wirtschaft in Südeuropa (einem fiktiven G-Land, was immer das sein kann …) ankreuzt, bereits in einer Einführungsveranstaltung für Makroökonomie „in allen Universitäten der Welt“ mit „falsch“ bewertet würde.

Nun ist unsere Regierung gemeinsam mit der offenbar sedierten Opposition aus SPD und Grünen dabei, einen europäischen Fiskalpakt in Verfassungsrang zu heben, der erstens dieselben Typen, deren Programme schon von Erstsemestern als falsch erkannt werden müssen zu den Oberwächtern unseres Haushaltes macht, ihnen zweitens die Macht gibt, Strafen bis zu 0,1 Prozent unseres BIP zu verhängen, wenn ihnen die Art nicht gefällt, wie wir unser drittens zu hohes Defizit abbauen (aus Gründen, die irgendetwas mit Würfeln oder einer Runde Darts mit verbundenen Augen in einer Kneipe auf Beteigeuze zu tun haben müssen gilt ja eine Grenze von 60 Prozent im Verhältnis zum BIP, die wir sehr locker um mehr als 30 Prozent überbieten).

Zu zweitens: In Deutschland beträgt das BIP etwa 2 800 000 000 000 Euro (2,8 Billionen), ein Tausendstel davon sind immerhin 2,8 Milliarden Euro. Das ist schon auch Geld.

Selbstverständlich kann Deutschland aus diesem Vertrag jederzeit aussteigen, indem es mit verfassungsändernder Mehrheit aus der EU austritt. Da das Volk vorher nicht befragt wurde, wird also zumindest hinterher eine besonders aufregende Form der demokratischen Beteiligung angeboten: Ich nenne sie „Bürgerkrieg“. Ich glaube, das ist auch der offizielle Name.

Wir lassen also nicht nur zu, dass die EU offensichtlich in Theorie und Praxis nicht funktionierende Programme anwendet, die immer nur Sozialabbau bedeuten und den betroffenen Ländern nicht helfen, sondern sie im Gegenteil ins Elend stürzen: Wir machen es zum Gesetz, dass es so sein muss.

Strukturreformen: Gibt es das auch als App?

Als die Firma Apple die neueste Version ihres Film-Schnitt-Programms „Final Cut“ vorstellte, gab es Kritik vor allem aus der professionellen Nutzerschaft. Offenbar war vielen derjenigen, die Jahre mit dem Erlernen aller Feinheiten des Programms verbracht hatten, die Nutzung jetzt eigentlich zu einfach. So wie die Generation derjenigen, die einmal DOS-Eingabebefehle oder gar Programmiersprachen gelernt hatten, mit denen man die Quersumme beliebiger und im Prinzip unsinniger Zahlenreihen errechnen konnte, fanden sie sich von einem Moment auf den anderen mit einer Menge obsolet gewordenen Wissens beladen. Es gibt Dinge, die muss man einfach nicht mehr wissen oder können, denn es gibt jetzt eine App dafür. Wirklich wissen, wie Dinge funktionieren, müssen heute nur noch diejenigen, die solche Apps programmieren. Und vielleicht noch jemand als Kontrollinstanz.

Journalisten, diese merkwürdigen Zwitter-, Tritter- und Quatter-Wesen (Twitter-Wesen hoffentlich auch) müssen in manchen Fällen Kontrollinstanz sein. Ihre eigentliche Aufgabe besteht aber letztlich darin, in den relevanten Fragen ihren Lesern und Zuschauern die Möglichkeit zu geben, selbst zu kontrollieren, sich ein Meinung zu bilden und vernünftige Entscheidungen zu treffen.

Zwischenfrage: Wenn wir von Strukturreformen reden, wovon reden wir dann?

Meiner Erfahrung nach gehört die Phrase von den „notwendigen Strukturreformen“ in allen möglichen Ländern der europäischen Peripherie zu den am häufigsten gebrauchten Sätzen, bei denen der Sprechende überhaupt keine Ahnung hat, was er da eigentlich gerade meint. „Strukturreform“ wird gebraucht als „Irgendetwas Schlaues, das macht, dass alles wieder besser wird.“ Wenn alles schlecht ist, dann muss es im Umkehrschluss daran liegen, dass es keine Strukturreformen gegeben hat.

Zwischenfrage: Wie viele Strukturreformen hat Angela Merkel als deutsche Bundeskanzlerin durchgeführt?

Genau. Keine einzige. Nicht, weil es nicht nötig wäre. Die OECD mahnt seit Jahren Reformen im Bereich der „Services“ an, auch um den erwarteten Abschwung im Export auszugleichen. Aber das Deutschland seit Jahren vom Ausland das Gegenteil von dem fordert, was es selbst tut, ist ja längst ein prägendes Element dieser Bundesregierung (überboten höchstens noch von der lustigen Angewohnheit, immer genau das Gegenteil von dem zu tun, was man angekündigt hatte). Deutschland fordert also vor allem in Südeuropa Strukturreformen, verteilt absolut willkürlich Lob und Tadel ob der Umsetzung und deutsche Journalisten beten den Text bei jeder Gelegenheit nach. Der Begriff „Strukturreform“ ist eine Art Journalismus-App: Man drückt drauf, klingt klug und muss sich weiter keine Gedanken darüber machen, was im Hintergrund genau abläuft.

Der Grund ist einfach: Journalisten, die eine Frage stellen, tun das in der Regel nicht, um eine Antwort darauf zu erhalten im Sinne von: Lernen, was ist. Sie stellen Fragen, um Soundbytes zu erhalten, die auf möglichst spektakuläre Art den Soundbytes eines anderen widersprechen. Beide Soundbytes gemeinsam ergeben dann eine „ausgewogene Geschichte“. Spektakuläre Soundbytes allein reichen manchmal schon (so erhält eine Geschichte, in der die IWF-Chefin in dämlichster Art und Weise das Scheitern ihres Programms an moralischen Defekten „der Griechen“ festmacht Aufmacherstatus, ihre Entschuldigung praktisch keine Erwähnung, die Geschichte über den griechischen Ober-Steuerfahnder, der das Scheitern seines eigenen Hauses wiederum natürlich nicht selbst verantworten will sondern mithilfe der bereits zurückgenommenen Aussagen der Frau wieder auf andere schiebt ist erneut ein Aufmacher. Das ist die „Logik“ der Medien). Wenn das Ziel dahinter sein sollte, dass sich Leser aus den verschiedenen geäußerten Meinung ungestört vom Journalisten ihr eigenes Bild machen, scheitert es schon daran, dass so letztlich nur noch die spektakulären Meinungen gehört werden. Und überprüfen können die meisten Journalisten das ohnehin nicht mehr.

Sprechen wir über Strukturreformen. In Griechenland sind einschneidende Reformen zum Beispiel die Liberalisierung der Unzahl an „geschlossenen Berufen“. Allein 107 wurden mit dem letzten Sparpaket abgeschafft. Aber einige werden sehr, sehr hart werden, als aus meiner Sicht besonders schwieriges Beispiel nehme ich einmal die „Lastwagenfahrer“ – also kleine Transportunternehmer. Wer in Griechenland einen Lastwagen betreiben will, braucht eine Lizenz, und weil die Zahl der Lizenzen seit den Siebzigern nicht erhöht wurde sind die Lizenzen bis zu 300.000 Euro teuer. Sie sind also Betriebsvermögen und Alterssicherung des Unternehmers.
Die Logistik ist im Prinzip einer der hoffnungsvollen Bereiche der griechischen Wirtschaft. Das Land ist Weltspitze in der Handelsschifffahrt und mit seinen Häfen natürliches Logistik-Hub für ganz Südosteuropa. Der durch die Begrenzung der Lizenzen unnatürlich teure Transport auf der Straße ist ein gewaltiges, ernstes Hindernis, zusätzlich bedeutender wegen des schlechten Schienennetzes. Eine Liberalisierung ist unbedingt geboten. Da sie auf der anderen Seite aber mit der de-facto-Enteignung vieler Unternehmer einhergeht, wird sie entweder sehr teuer oder sehr lange dauern. Man kann nicht einfach tausenden ihr Vermögen wegnehmen, ihre komplette Alterssicherung, alles. Es braucht also Zeit oder Geld, beides Dinge, die Griechenland nicht hat.
Gleichzeitig ist es eine Reform, die so schnell überhaupt keine positiven Auswirkungen hat: Nicht die Liberalisierung macht den Transport billiger, sondern die Konkurrenz, wenn immer mehr Menschen LKW kaufen und betreiben. Heute, wo Griechen keine Kredite bekommen und ausländische Investoren Griechenland fernbleiben ist das illusorisch. Im Gegenteil, die höheren Steuern (u.a. auf Kraftstoffe) machen den Transport teurer und erschweren so gesunden Unternehmen das Wirtschaften. Das ist ein Beispiel für die Strukturreformen, von denen die deutsche Bundesregierung so gerne redet. Sie sind unbedingt notwendig. Aber so isoliert, wie sie durchgeführt werden, führen sie garantiert nicht zu einem vernünftigen Ziel. Es ist ein bisschen wie mit jemandem, der aus gesundheitlichen Gründen abnehmen muss. Er könnte aufhören zu Essen und den ganzen Tag joggen. So ungefähr am dritten Tag wäre er dann tot. Gesund ist anders. Wirtschaftlich vernünftig auch: Eine tote griechische Wirtschaft wird keine Kredite zurückzahlen können. Es ist in niemandes Interesse, Dinge durchzusetzen, die genau dazu führen müssen.

Am Sonntag wird in Griechenland gewählt, und die deutschen Medien machen daraus eine Wahl um „Spar-Gegner“ und sogar „Euro-Gegner“ in Griechenland. Das ist Unfug in einer Größenordnung, dass es mir schon schwer fällt, mich noch ernsthaft drüber aufzuregen. Die überragend dämliche Moderation von Maybritt Illner im Heute-Journal einmal stellvertretend: Sie schafft es, einen Beitrag, in dem es heißt „niemand in Europa hat so viel gespart wie Griechenland“ und die extremen negativen Auswirkungen der Reformen zeigt anzumoderieren mit „Athen hat beim Sparen und Reformen nicht viel vorzuweisen“. Doch, hat es. Die aufgezwungenen Programme funktionieren nur nicht – was sie offensichtlich mit dem Verstand mancher Moderatoren gemeinsam haben, die Stichworte nur noch wie Apps benutzen.

Euro-Krise 2012. Nächster Gegner: die stolzen Spanier

Spanien hat einige Probleme, seine durch die Bankenrettungen gestiegenen Staatsschulden am Markt zu refinanzieren. Das ist im Prinzip die Situation, für die Euro-Rettungsschirme überhaupt erst eingerichtet wurden. Leider haben diese Rettungsschirme einen eingebauten Fehler: Die Gelder sind mit Bedingungen verknüpft, die gleichzeitig die Wirtschaft, der sie helfen sollen, abwürgen. Deshalb will der spanische Staat kein Geld direkt annehmen, sondern nur indirekt über seinen Bankenrettungsfond – denn dieser Bankenrettungsfond kann keine neuen Sparprogramme zusagen. Das ist die einfache Geschichte, die Spiegel Online vielleicht einen Tick kompliziert aufschreibt.

Wie würde man diese Geschichte überschreiben?

Bei SpOn entscheidet man sich so

Euro-Retter wollen Spaniens Banken helfen

Spaniens finanzielle Lage wird immer dramatischer. Nun gibt es Anzeichen für einen Kompromiss mit den Euro-Partnern. Einem Zeitungsbericht zufolge könnten Hilfsgelder an den spanischen Bankenrettungsfonds fließen. Der Vorteil: Beide Seiten würden ihr Gesicht wahren.

Das ist absurd. Hier klingt es, als wären auf der einen Seite wieder einmal die dummen Südeuropäer, die ihr „Gesicht wahren“ wollen, und auf der anderen Seite die „Retter“, die die uneinsichtigen Spanier erst zu ihrem Glück zwingen müssen.

In der Financial Times Deutschland wird – allerdings in einem Meinungsartikel – die wirtschaftspolitische Entscheidung des spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy, die bizarren Sparprogramme nicht weiter mitzumachen als rein taktisches, eher noch naives Wahlversprechen verkauft, das heute zu verbockten Fehlentscheidungen führt. Die Headline ist dementsprechend

Rettungsschirm oder nicht?
Spanien ist von falschem Stolz geblendet

Bebildert ist die Geschichte online mit einem Matador, der wohl für den übersteigerten spanischen Stolz stehen soll. Man kennt die ja, die Spanier.

Die Realität sieht so aus: Spanien hat mitten in der Krise sein Defizit von 117 Milliarden Euro in 2009 auf 91 Milliarden in 2011 gesenkt (das Defizit ist nach der Lehman-Krise explodiert, was nicht die Schuld des spanischen Staates war, der bis dahin ein Euro-Musterknabe war. Nicht dass das eine Rolle spielt, aber es soll mal gesagt sein). Der Gesamtschuldenstand beträgt heute noch niedrige 68 Prozent im Verhältnis zum BIP (gegenüber mehr als 83 Prozent z.B. in Deutschland). Es braucht niemand irgendwo auf der Welt so zu tun, als müsste er den Spaniern erklären, wie man einen ordentlichen Haushalt aufstellt. Dass die spanischen Schulden trotz des schrumpfenden Defizits rasant weiter wachsen liegt daran, dass die Wirtschaft zusammenbricht.

Aber: Spanien hat eine galoppierende Arbeitslosigkeit. Mehr als jeder Fünfte ist ohne Job, jeder zweite unter 25 Jahren. Hier immer nur weiter zu sparen, wie es die Troika aus EU, IWF und EZB ja schon in anderen Ländern erfolglos vorführt, treibt das Land nur immer tiefer in die Schuldenspirale – bei gleichzeitiger Verelendung der Bevölkerung.

Es gibt möglicherweise neoliberale Theoretiker, die ehrlich glauben, dass prozyklische Wirtschaftspolitik funktioniert. Gerade in Deutschland, wo wir die Krise mit zwei schuldenfinanzierten Konjunkturpaketen, der Abwrackprämie und dem Kurzarbeitergeld bekämpft haben ist das zwar schwierig zu erklären, aber es mag irgendwo solche Leute geben. Aber selbst für jemanden, der entgegen der historischen Evidenz und gut argumentierter Wissenschaft glauben mag wäre es infam, es mit ethnischer Prädisposition zu falschem Stolz zu erklären.

Nachdem die Griechen zu faul zum arbeiten sind, sind die Spanier jetzt also zu stolz, um zu tun, was richtig ist. Ich nehme an, zu den Portugiesen, den Italienern und den Iren fallen uns auch noch rechtzeitig rassistische Erklärungen dafür ein, warum sie einfach nicht so funktionieren, wie die Welt nunmal funktionieren muss, weil wir sie hier so sehen.

Ich erlebe seit Jahren, wie sich ein völlig realitätsfremdes Bild „der Griechen“ heute bis zur gefühlten Wahrheit durchgesetzt hat. In Deutschland halten die Menschen die Griechen inzwischen für zu doof zum wählen, und das ist einem völligen Versagen von Medien – also Journalisten – geschuldet.

Das einzig Gute an der Situation bisher war, dass zu viele Journalisten zu beschäftigt damit waren rassistische Klischees über Griechen zu verbreiten, dass zumindest Spanier, Portugiesen und Iren einigermaßen unbeschadet geblieben sind.

Entgegen dem, was ich oben geschrieben habe, glaube ich in Wahrheit eigentlich nicht, dass irgendjemand mit einem Hauch von Verstand glauben kann, dass die Programme der Troika in dem Sinne funktionieren, dass sie einem Land in der Krise helfen. Ich glaube nicht, dass es diese Theoretiker gibt – aber ich weiß, dass es eine starke Lobby derjenigen gibt, die an dieser Krise verdienen, so lange die verschuldeten Länder zugunsten ihrer Gläubiger ausgequetscht werden.

Was dann noch von den Ländern übrig bleibt, könnte nach dem Willen der Bundesregierung dann ja zum Beispiel als „Sonderwirtschaftszone“ genutzt werden, also als Region, in der Unternehmen ohne störende Arbeitnehmerrechte und Umweltauflagen zu niedrigen Steuern produzieren können. Eine eigene Dritte Welt in Europa! Das sind doch mal Programme.

Ich glaube, dass Journalisten, die in dieser Situation versuchen, die Krise mit ethnischen Stereotypen zu erklären, nicht nur falsch liegen, sondern unendlich ahnungslos sein müssen oder böse. Die Grenzen in dieser Krise verlaufen nicht zwischen Völkern, sondern zwischen denen, die an dieser Krise verdienen, und uns anderen, die wir dafür bezahlen. Es ist eine ekelhafte, neonationalistische Suppe, die da gerade angesetzt wird, und ich kann nur jeden Kollegen davor warnen, sich eines billigen, schlecht durchdachten Scherzes wegen dafür herzugeben.

Ich bin sicher, wir werden in den nächsten Tagen und Wochen eine Menge symbolischer Matador-Bilder zu sehen bekommen. Und jedem einzelnen, der nationale Töne in diese Diskussion einzuspeisen versucht möchte ich sagen:

Wir sind alle Griechen. Wir sind alle Spanier. Wir sind alle Iren. Wir sind alle Deutsche.

Und ihr seid alle Arschlöcher.

Das Keine-Wahl-Ergebnis

Ganz kurz: Die Griechen haben bei der Wahl am Sonntag – mit Ausnahme der faschistischen Randgruppen (den Stalinisten gegenüber bin ich deutlich milder, das sind aus meiner Erfahrung vor allem nostalgische Opas, aber die wollen nichts Böses) – eine vernünftige Wahl getroffen, angesichts der Tatsache, dass sie keine Wahl haben.

Der so genannte Sparkurs ist keiner. Griechenland setzt seit zwei Jahren mit beispiellosem Erfolg Strukturreformen um, aber die Ergebnisse können nicht eintreten, weil die Wirtschaft kollabiert. Davon hat niemand etwas. Diesen Kurs aber ohne Veränderungen fortzuführen ist dumm und wahnsinnig (in Deutschland nennt man es „Stabilität“, aber das ist, als würde man bei der sinkenden Titanic einen Anker werfen und behaupten, das Schiff liege jetzt stabiler).

Wenn sich jetzt in dem verfassungsmäßig dafür vorgesehenen Verfahren (oder, wie man es in der deutschen Presse nennt: „Chaos“) keine Regierung findet, dann deshalb, weil es von außen aufgezwungen aus deutscher Regierungssicht nur zwei Optionen gibt: „Weiter so“ (tödlich) oder „Raus aus dem Euro“ (tödlich).

Die Linie von Merkel wird außerhalb Deutschlands ohnehin nicht mehr vertreten, außerhalb ihrer Regierung eigentlich auch nicht. Der Versuch, die Griechen dafür verantwortlich zu machen, dass sie sich nicht für eine Todesart entscheiden möchten, weil sie lieber leben wollen, ist mit Dummheit allein nicht mehr zu erklären. Es ist Ideologie und die dazugehörige Propaganda.

SPIEGEL-ONLINE stellt Griechen Katastrophen-Überschrift aus

Die so genannte Troika scheint – als letzte, aber immerhin – zu bemerken, dass ihr Programm für Griechenland nicht funktioniert – also das festzustellen, was außer ihr längst alle wissen (als Beispiel ein Wirtschaftsweiser vor mehr als einem halben Jahr). Das steht nun auch im Bericht des IWF: Mit diesen Programmen sind die „Sparziele“ nicht zu erreichen, weil sie zum Beispiel die Konjunktur völlig falsch prognostiziert haben (-5,5% statt real -12%).

Unter welcher Überschrift schreibt man das zusammen, wenn man möchte, dass die Schuld am Verfehlen der Sparziele als „mangelnder Sparwille“ der irgendwie schülerhaft verantwortungslosen Griechen missverstanden wird, SPIEGEL ONLINE? Genau!

Troika stellt Griechen Katastrophen-Zeugnis aus

Dabei stellt die Troika dabei sich selbst ein Katastrophen-Zeugnis aus.

Ich krieg die (Rechnung für die) Krise

Im Prinzip ist die Vorstellung nur folgerichtig, dass Griechenland unter die Aufsicht verantwortungsbewussterer Völker gestellt werden sollte – jedenfalls dann, wenn man die Berichterstattung zum Thema glauben wollte. Und Angela Merkel hat sich sehenden Auges in die Situation gebracht, dass sie ihrem Wahlvolk eine Politik verkaufen muss, die mit der Realität wenig gemein hat, weil sie bis heute die Aufgabe scheut, die Probleme der Euro-Zone richtig zu erklären. Das hat absurde Folgen: Weil die wahren Hintergründe – die Konstruktionsfehler des Euro – nicht erklärt wurden, kann die wahre Krise auch nicht bekämpft werden, und gleichzeitig müssen die Staatschefs, die sich zu immer neuen Gipfeln treffen, jedesmal vorspielen, sie glaubten tatsächlich an die erreichten Kompromisse, bis sie ein paar Tage später wieder zerrieben sind.

Dabei sprechen die Fachleute die Wahrheit ganz gelassen aus. In der FAZ antwortet der Chefvolkswirt von Goldman Sachs Jan Hatzius trocken auf die Frage:

Was haben wir aus Ihrer Sicht für eine Krise?

Eine der Zahlungsbilanz, die wesentlich aus dem Aufbau privater Schulden resultierte und die über private Kapitalzuflüsse in die Euro-Peripherie finanziert wurde.

Denn das ist der Kern. In einer Währungsunion mit großen Produktivitätsunterschieden, wo beispielsweise Deutschland bei 125 des Mittelwertes liegt und Griechenland bei 85 Prozent – und das sind noch nicht einmal die extremsten Werte nach oben und unten – verschieben sich die Leistungsbilanzen. Das Geld, das aus den weniger produktiven ab- und in die produktiveren fließt muss irgendwo hin, und wie wir wissen ist es zum Beispiel in Deutschland nicht in Löhne geflossen, sondern als Investition wieder zurück in die europäische Peripherie – in Immobilien in Spanien oder in griechische Staatsanleihen. In Finanzprodukte. Hans-Werner Sinn, der mich so sehr nervt, dass ich gerade keine Lust habe das genaue Zitat rauszusuchen, nennt das sinngemäß „Porsche Cayenne gegen Schuldverschreibungen verkaufen“ – und es funktioniert nur, weil die Institute, die all diese „Finanzprodukte“ verkaufen, das Risiko auf die Steuerzahler abwälzen. Die Arbeitnehmer bezahlen, wenn etwas schiefgeht, im Moment in Spanien, Griechenland, Irland und Portugal, aber spätestens mit der unausweichlichen griechischen Umschuldung auch in Deutschland. Die Politik baut Rettungspakete für die Banken, während die griechischen Staatsschulden trotz aller so genannten „Hilfen“ nur weiter steigen. Wenn diese Krise durch Staatsverschuldung ausgelöst wäre, müsste Spanien besser dastehen als Deutschland, weil der spanische Staat besser gewirtschaftet hat als der deutsche. Aber darum geht es eben nicht. Deshalb ist die Krise auch durch Konsolidierung nicht zu lösen (unbenommen der Tatsache, dass im griechischen Staatswesen sehr viel schief gelaufen ist und noch läuft, aber das ist eben ein anderes Problem).

Die bizarre Leistung der Kanzlerin ist, dass sie es geschafft hat zu verschweigen, dass die Grenzen dabei nicht zwischen Ländern verlaufen, wie es in der Diskussion um „die Griechen“ (aber letztlich genauso um Spanien und Italien) glauben macht. Sie verlaufen zwischen oben und unten, zwischen Zinszahlern und Zinsempfängern – und die Nationalstaaten samt ihrer Regierungen sind vor allem willfährige Helfer beim Sichern der Gewinne.

An der Fehlkonstruktion des Euro ändert all das nichts. Kein Rettungspaket macht auch nur kleine Schritte in die richtige Richtung. Aber um die Illusion aufrecht zu erhalten, werden Sparpakete installiert, die dazu führen, dass mitten in Europa Menschen ohne Heizung der Winterkälte trotzen müssen, weil das Heizöl so teuer geworden ist. Es ist eine Schande. Und ein „Sparkommissar“ ist das letzte, was es in dieser Situation noch braucht.

Kai Diekmann beschimpfen

Den Impuls, den Chefredakteur der Bild-Zeitung telefonisch zu beschimpfen kann man schwerlich jemandem übelnehmen. Und grundsätzlich müssen Journalisten bereit sein, Kritik an ihrer Arbeit zu ertragen, selbst wenn sie nicht ganz sachlich vorgetragen wird – und sei es nur deswegen, weil Journalisten auch davon leben, selbst Kritik in allen möglichen Formen vorzutragen. Dass allerdings der Bundespräsident auf die Idee kommt, einem Journalisten zu drohen, gleich die Verbindungen zu dem gesamten Verlag abzubrechen, ist in einer Größenordnung dämlich, die an seiner Eignung zweifeln lässt. Hat er wirklich geglaubt, das käme niemals heraus? Selbst wenn Diekmann es nicht so herumerzählt hätte, dass es nun in allen Zeitungen steht (und ich gehe davon aus, dass anders eine Nachricht auf seiner Mailbox nicht öffentlich werden konnte, oder ist das naiv, Rupert Murdoch?), hätte sich doch mit Sicherheit zumindest in der Branche herumgesprochen, was für ein schlechtes Gewissen Wulff in Bezug auf seinen Hauskredit offensichtlich hat. Vielleicht ist Erpressbarkeit ein zu großes Wort für den Zustand, der dann eingetreten wäre, aber wäre es diesem Bundespräsidenten tatsächlich lieber gewesen, ausschließlich ein paar ausgewählte Bild-Mitarbeiter wüssten um diese Schwachstelle in seiner Kreditbiografie? Das macht mir noch mehr Angst als die kleinen, streng riechenden Details die da Tag um Tag ans Licht kommen.

Nach Helmut Schmidt zählen sich auch Journalisten zur Politischen Klasse, und Wulff mochte offenbar genug darauf vertrauen, dass die kleinen Sauereien innerhalb dieser Klasse möglicherweise zur Verhandlungsmasse werden können, wenn man darüber redet, wie „ein Krieg ablaufen soll“, dass sie aber trotzdem dem gemeinen Volk gegenüber geheim bleiben können. Angesichts der langen, erfolgreichen Karriere, die Wulff als Politiker gemacht hat, dürfte er da aus Erfahrung sprechen. Und wenn dem so ist muss die Frage erlaubt sein, wie denn aus dieser Klasse überhaupt ein Bundespräsident hervorgehen will, dem die Bevölkerung dann geradezu naives Vertrauen entgegenbringen soll.

Der Schritt von Wulff, Journalisten einen Deal anzubieten (nämlich den, weiter mit ihnen zusammenzuarbeiten, wenn sie eine Geschichte unterdrücken) ist nur ein weiterer Tropfen Gift in diesem Endlager voller strahlender Fässer. Aber wenn der oberste Repräsentant unseres Staatswesens in seiner für politische Positionen einzigartigen Unangreifbarkeit nicht in der Lage ist, seine Taten seinen wohlklingenden Reden anzupassen, welcher Politiker soll es dann sein?

Allerdings nähme ich das alles hier zurück, wenn sich herausstellte, dass Christian Wulff seit Jahren jeden Tag Kai Diekmann am Telefon wegen praktisch aller Bild-Geschichten beschimpft, und es nur zufällig an diesem einen Tag einmal um seine eigene ging. Es ist ja auch nicht alles juristisch rechtens, was richtig ist.

Fakt ist schon wieder ganz was anderes

Nach Ansicht der Bild ist Karl-Theodor zu Guttenberg angesichts der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft Hof strafrechtlich relevante Verstöße gegen das Urheberrecht in seiner Doktorarbeit bejaht nun ganz eindeutig von diesen Vorwürfen reingewaschen.

Der Grund seines Rücktritts, die Vorwürfe, er habe Teile seiner Doktorarbeit abgeschrieben – plötzlich ist alles anders. Plötzlich scheint ein Comeback möglich, denkbar – sogar logisch.

Plötzlich ist alles anders? Die Vorwürfe? Nun ja, wie sagt man es ihnen, vielleicht so, wie man es bei Bild selbst sagen würde? Ähm, Bild, Fakt ist: nein. Eine mit der Auflage einer Strafzahlung von 20.000 Euro belegte Einstellung eines Verfahrens ist ganz genau nicht der Beweis, dass mit den Vorwürfen alles plötzlich ganz anders ist. Es ist eher der Beleg dafür, dass Guttenberg nicht nur ein Lügner und wissenschaftlicher Betrüger ist, er hat also auch Urheberrechte verletzt. Genau das waren die Vorwürfe. Aber, um Missverständnissen vorzubeugen, Fakt steht hier im Sinne von „Tatsache“ – nicht wie bei euch als: „fühlt sich irgendwie so an“.