Journalist vs. Journalist. Alle verlieren.

So, jetzt reicht es aber wirklich: Auf der Webseite des Journalist, der Publikation des Deutschen Journalistenverbandes (Disclosure: dessen Mitglied ich bin), wurde, wie inzwischen wahrscheinlich alle wissen, über einen jungen Kollegen geschrieben, der offenbar in mehreren Texten Zitate zumindest eines, möglicherweise aber mehrerer nicht existenter Experten benutzt hat. Das ist selbstverständlich eine Geschichte, die man schreiben muss.

Nun haben die Journalisten des Journalist das so versemmelt, wie man es nicht versemmeln darf. Zur Anschauung habe ich den Artikel zumindest mal oberflächlich kommentiert (in eckigen Klammern). Here we go:

Erfundene Zitate [Schon die Dachzeile ist falsch. Noch weiß man nicht, ob die Zitate erfunden sind oder der Zitatgeber ein Betrüger war, aber die Zitate abgegeben hat. Hier hätte zumindest ein Fragezeichen hin gehört. Richtig wäre gewesen „Falsche Experten-Zitate“. Oder so.]

Welt-Gruppe und Südkurier trennen sich von freiem Autor

Der freie Autor Sebastian W–––––––– [Unkenntlichmachung von mir, hier steht im Original der volle Name des Kollegen, der hier nicht hätte genannt werden dürfen] hat offenbar [der Fairness halber hätte hier entweder ein „möglicherweise“ hin gehört, oder ein angeblich, falls es jemand behauptet] Zitate frei erfunden [Sebastian W. behauptet dagegen, er hätte nie Zitate erfunden, sondern wäre einem Hochstapler aufgesessen. Das hätte Der Journalist wissen können, wenn er die Einlassung des Betroffenen eingeholt hätte, was selbstverständlich hätte geschehen müssen. Offenbar hat der aber nach Ansicht der Journalist-Redaktion auf Anfragen nicht schnell genug reagiert (zwischen der Anfrage und dem Erscheinen des Artikels lagen 26 Stunden – angesichts der tatsache, dass die Geschichte Monate alt ist, ist das nicht unbedingt viel Zeit. Ich halte es für zu wenig Zeit)] – und die entsprechenden Texte an Spiegel Online, Welt Online und Südkurier verkauft. Springer erstattete Strafanzeige [allerdings erstattete Springer Strafanzeige gegen Unbekannt, nicht gegen Sebastian W. – Bis hier geht der Vorspann der Geschichte, deshalb wiederholt sich gleich ein Teil beim Beginn des Lauftextes].

Mindestens drei Redaktionen in Deutschland haben offenbar Artikel veröffentlicht, in denen Zitate frei erfunden waren [Natürlich ist der Satz, wie er hier steht, immer noch journalistisch falsch]. Nach Recherchen des Medienmagazins journalist und von MDR Sputnik hat der freie Autor Sebastian W–––––– [wieder die volle Namensnennung, wie im Folgenden noch mehrmals] unter anderem an Spiegel Online, den Südkurier und an Welt Online Texte verkauft, in denen sich ein Experte äußert, der womöglich gar nicht existiert. Die Redaktionen selbst haben von dem Verdacht unter anderem durch den Deutschen Presserat erfahren [übrigens im Dezember. Insofern war die Geschichte nicht so dringend, dass man auf die Antwort von Sebastian W. auf die Anfragen nicht noch ein bisschen hätte warten können].

„Recherchen der Welt-Gruppe haben den Verdacht bestätigt und darüber hinaus Zweifel an der Existenz weiterer von Herrn W–––––– zitierten Experten aufkommen lassen“, so Christian Garrels vom Axel Springer Verlag. Über die Zahl der betroffenen Texte machte Garrels keine Angaben. Offenbar hat der Autor aber nur vereinzelt Zitate erfunden, so dass der Betrug lange unentdeckt blieb [Das ist ein ungeheuerlicher Satz. Wenn der zitierte Springer-Vertreter keine Angaben macht, woher stammt dann die Einschätzung „offenbar“? So, wie es da steht, muss es eine Einschätzung der Redaktion sein, was sich ja auch manifestiert in der Feststellung, der Kollege „hat“ erfunden statt „hat möglicherweise“ oder „habe erfunden“. Und ganz schlimm wird es bei der Feststellung „so dass der Betrug lange unentdeckt blieb“ – das ist eine Vorverurteilung für eine konkrete Straftat. Nach Ansicht der Journalist-Redaktion hat Sebastian W. betrogen, und das ist nun wirklich eine Feststellung, die in diesem Land nicht Reporter treffen sondern Richter in einem Urteil]. Die Artikel – so heißt es aus einer der betroffenen Redaktionen – wären auch ohne die beanstandeten Passagen ausgekommen. Es handle sich also nicht um einen weiteren Fall Tom Kummer [hier fehlt der Hinweis, was ein „Fall Tom Kummer“ ist. Nur nebenbei]. Trotzdem haben die drei Medienunternehmen Konsequenzen gezogen.

„Da aus unserer Sicht ein schweres Fehlverhalten gegen Vertragsverpflichtungen und journalistische Grundsätze, insbesondere den Pressekodex, vorliegt, haben wir die Zusammenarbeit mit dem Autor sofort beendet, die von ihm erstellten Artikel vorsorglich offline gestellt und Strafanzeige erstattet“, so Garrels [Strafanzeige gegen Unbekannt, wohlgemerkt]. Auch im Archiv von Spiegel Online findet man nur noch einen Bruchteil der Veröffentlichungen des Autors. Die stellvertretende Redaktionsleiterin wollte sich zu dem Fall aufgrund eines „schwebenden Verfahrens“ nicht äußern [warum klingelt es bei einem Autoren nicht, wenn er das schreibt, nur ein paar Zeilen unter der eigenen Vorverurteilung?]. Der Südkurier hat die Zusammenarbeit mit W––––––– ebenfalls eingestellt.

Gegen alle drei Unternehmen hat der Presserat eine Rüge geprüft, aber verworfen. Nach Informationen des Medienmagazins journalist und von MDR Sputnik konnte das Gremium kein Fehlverhalten der Redaktionen selbst feststellen.

Der Autor Sebastian W–––––––– ist erst 25 Jahre alt und studiert an der Katholischen Universität Eichstätt Journalistik [was genau diese Identifizierung noch soll ist mir schleierhaft]. Trotzdem ist er kein Anfänger [da habe ich Einwände zur Definition von Anfänger, aber gut, was solls]. Auf seiner Internetseite listet er etwa 400 selbstverfasste [Ach so?] Artikel auf – unter anderem im Tagesspiegel, bei Stern Online, in der Zeit, in der Saarbrücker Zeitung und im Flensburger Tageblatt. Allein im Dezember 2007 brachte W–––––––– es laut seiner Webseite auf 25 Veröffentlichungen. Im vergangenen Oktober erhielt er den mit 1.500 Euro dotierten Kulturpreis des Rotary-Clubs Mittelholstein. Außerdem belegte er 2004 den dritten Platz beim Schülerzeitungswettbewerb des Spiegels in der Kategorie Reportage.

Sebastian W––––––––– war trotz mehrerer Anfragen per E-Mail und Telefon für eine Stellungnahme nicht zu erreichen [das finde ich ein bisschen perfide, denn die mehreren Anfragen kamen offenbar alle an einem einzigen Tag, und freie Journalisten sind auch manchmal einen Tag nicht zu erreichen. Sie sind auch keine Pressestelle, die erreichbar sein müsste. Aus meiner Sicht spielt dieser Satz eine Fairness vor, die es so nicht gegeben hat].

Update 26.3.2010, 17.50 Uhr: Kurz nach Veröffentlichung hat sich Sebastian W–––––––– beim journalist mit folgendem Hinweis gemeldet: „Ich darf bereits jetzt klarstellen, dass gegen mich nicht strafrechtlich ermittelt wird.“ [Ich kann nicht sagen, warum man beim Journalist diesen Hinweis nicht zum Anlass genommen hat, sich zu berichtigen. Aber es wäre nötig gewesen]

Um das klarzustellen: Ich habe keine Ahnung, was sich Sebastian W. hat zuschulden kommen lassen. Aber es reicht auch, ihm sein Fehler um die Ohren zu hauen, wenn man weiß, welche es sind. Und dass ausgerechnet das Organ des Verbandes, der die Rechte von Journalisten schützen soll, die Rechte eines Kollegen verletzt, ist furchtbar.

Nun hatte der Verband ein paar Tage Zeit, darüber nachzudenken und sich durchzulesen, wie zum Beispiel bei Stefan Niggemeier zu dem Fall diskutiert wird (hier und hier). Und dann haben sie darauf reagiert, in einer Stellungnahme (weil ich schon wieder an meinem laubsägegearbeiteten Blog scheitere nur der Hinweis, dass sie von den Kommentaren bei Niggemeier aus als PDF herunterladbar ist). Die entscheidenden Sätze in der Stellungnahme des DJV-Vorstandes sind:

Der BJV-Vorstand hat sich als Herausgeber des journalist die Rechchercheunterlage [sic!] vorlegen lassen. Er hat nach Prüfung der Unterlagen und der daraus resultierenden Fakten keinen Grund, an dem Kern des Beitrages „Welt-Gruppe und Südkurier trennen sich von freiem Autor“ (www.journalist.de) zu zweifeln.

Und ein paar Absätze später:

Der DJV-Bundesvorstand bedauert, dass die Frist zwischen Bitte um Stellungnahme an Sebastian W–––––– [Unkenntlichmachung von mir] (25. März) und Veröffentlichung des Online-Beitrages (26. März) den Eindruck erweckt, als habe Sebastian W––––––– keine Stellungnahme mehr abgeben können. Dieser Eindruck schadet dem Beitrag und bietet Kritikern Gelegenheit, die Inhalte insgesamt zu relativieren.

Meinen ersten Gedanken, nachdem ich das gelesen habe, darf man wahrscheinlich nicht schreiben, aber es war ein Zitat von Rahm Emanuel. Hier ist der zweite Gedanke, zur Sache:

Lieber DJV-Bundesvorstand, ich hoffe, ich habe oben deutlich gemacht, dass es genug Gründe gegeben hat, an diesem Artikel zu zweifeln. Und ich verstehe den Hinweis, dass die Fakten keinen Grund geben, „am Kern des Artikels zu zweifeln“ doch richtig wenn ich meine, dass der Artikel durchaus Raum für einige Zweifel in den Randbereichen zulässt? Das wäre aus meiner Sicht richtig, denn was auch immer Sebastian W. getan hat, gelten doch für den Umgang mit ihm die Regeln unseres Gewerbes. Und, verdammt, ausgerechnet der DJV-Bundesvorstand ist dafür da, für die Einhaltung dieser Regeln in jedem einzelnen Fall zu kämpfen. Gerade dann, wenn Journalisten unter Druck geraten, ob selbstverschuldet oder nicht.

Der Satz, der mir von Ihnen fehlt ist: Wir haben Fehler gemacht und dafür möchten wir uns entschuldigen.

Das wäre auch der Satz, der mir ein wenig Vertrauen in meinen eigenen Verband zurückgeben würde. Leute, Ihr seid für uns da. Also dafür, dass wir ordentlich arbeiten können. Nicht dafür, dass Ihr uns als erste schlachtet, wenn wir Fehler machen.

Ich weiß nicht, ob Sebastian W. Mitglied im DJV ist, aber wenn, dann könnte er vielleicht mithilfe des Verbandes juristisch gegen die Berichterstattung über ihn vorgehen?

Was wir schreiben, wenn wir vermuten, Jörg K. wäre unschuldig

Die Unschuldsvermutung ist eine großartige Errungenschaft: Bis zum Beweis des Gegenteils muss das Rechtssystem jeden Verdächtigen behandeln, als wäre er unschuldig. Das System, wie gesagt. Menschen können das praktisch nicht. Unser Gehirn ist nicht dafür gebaut, jemanden zu verdächtigen und gleichzeitig für unschuldig zu halten. Wer deshalb liest, dass ein bekannter Fernsehmoderator wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung in Untersuchungshaft genommen wurde, der wird ihn verdächtigen. Das heißt: Er wird ihm eine Schuld unterstellen. Vielleicht zu recht. Aber noch müssen wir der Fairness halber davon ausgehen, dass sich diese Geschichte ganz anders drehen kann. Dass K. unschuldig ist. Aber natürlich zeigt die Geschichte des zu unrecht wegen Vergewaltigung angeklagten TV-Moderators Andreas Türck, dass auch eine widerlegte Anschuldigung die Karriere eines Fernsehmannes zerstören kann.
Das also war die Situation der beteiligten Kollegen gestern: Sie hatten die Meldung vorliegen, dass K. wegen des Vorwurfs in Haft genommen wurde – in Haft in diesem Fall, weil er keinen festen Wohnsitz in Deutschland hat (was aus Sicht eines Haftrichters automatisch die Fluchtgefahr erhöht). Denn noch ist Jörg K. unschuldig. Die Untersuchungshaft bedeutet auch nicht, dass der Tatverdacht besonders dringend ist, wie manche Leser glauben. Nach dem Motto: „Sonst würden die ihn doch nicht einsperren!“ Doch, würden sie. Flucht- oder Verdunklungsgefahr sind Haftgründe. Mehr heißt das nicht.

Das ist die Situation, in der die Kollegen gestern quasi kollektiv entschieden haben, dass man diese Meldung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dann das Ende der Karriere von Jörg K. bedeutet, wenn er unschuldig sein sollte, unbedingt drucken und senden muss. Widersetzt haben sich dem praktisch nur die Kollegen der Tagesschau, und die müssen dafür heute zum Beispiel auf Meedia anhören, sie pflegten eine „Vogel-Strauß-Taktik“. Wörtlich wird dort argumentiert:

„Die Alternative wäre eine Absprache zum kollektiven Nicht-Berichten. Aber dies geht an der Realität vorbei. Ein bekannter Fernsehmann, der in U-Haft sitzt, ist eine Geschichte, die zu gut ist, als dass sie irgendein Medium, eine Boulevardzeitung zumal, liegen lassen würde.“

Kurz gesagt: Wenn sich alle wie Schweine verhalten, muss man sich eben auch wie ein Schwein verhalten. Und wenn die Tagesschau es nicht tut, dann macht sie ihren Job nicht richtig. Dieser Vorwurf ist so unvorstellbar abstrus, dass es mir schwer fällt, den Gedanken überhaupt nachzuvollziehen.
Der Meedia-Artikel von Stefan Winterbauer endet mit folgendem Absatz:

Ein Kommentator im Tagesschau Blog bringt es auf den Punkt: „Als Tagesschau und Tagesthemen genießen Sie höchste Glaubwürdigkeit, Sie sind Vorbild für seriöse Berichterstattung. K. ist durch seine Beiträge ein Gesicht Ihrer Nachrichtensendungen. Dazu nicht irgendeines, sondern eines der bekanntesten. Wenn dieses Gesicht nun überraschend aufgrund von K.s Inhaftierung nicht mehr auf dem Bildschirm zu sehen ist, haben die Zuschauer ein Recht, aus erster Hand zu erfahren, warum. Dazu hätte ich mir eine kurze, präzise, seriöse, zurückhaltende Meldung gewünscht. Eine, die dem Boulevard zeigt, wie es auch geht. Die einen Maßstab setzt.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Wenn das eine ernst gemeinte Argumentation sein sollte, ist es atemberaubend. Der Reihe nach wird hier also als wahr hingestellt, dass

– ausgerechnet die Tagesschau – eben weil sie so seriös ist – die Geschichten, die man anständigerweise nicht bringt, bringen soll.
– der Zuschauer ein Recht darauf hat, zu erfahren, warum eines der bekanntesten Gesichter vom Bildschirm verschwindet, und zwar offenbar an dem Tag, an dem das mögliche „Verschwinden“ sich in irgendeiner Art materialisiert.

Wenn also eines der bekanntesten Tagesschau-Gesichter krank wird und deshalb möglicherweise für einige Zeit oder für immer vom Bildschirm verschwindet, dann soll die Tagesschau bitte darüber berichten. Wenn die Gesichter Urlaub machen bitte auch. Und das alles bitte zwischen den sauber abgestimmten Berichten über all das, worüber die Boulevard-Medien in Bezug zumindest auf ARD-Moderatoren gerade herziehen. Hat nicht Jens Riewa mal gesagt, diese oder jene Schlagersängerin wäre eine „Granate im Bett“? Das zum Beispiel hätte man doch in der Tagesschau aufgreifen und in eine viel seriösere Nachricht umformulieren müssen, oder nicht?

Wenig überraschend ist die Antwort: nein, hätte man nicht.

In diesem Fall hat eine Medienmeute zu Ungunsten eines Kollegen ziemlich schändlich versagt. Wenn sich herausstellt, dass Jörg K. schuldig ist, dann gäbe es noch eine Menge Möglichkeiten, über den Fall zu berichten. Aber wenn sich der Fall Türck wiederholen sollte, dann hätte die Branche einmal mehr einem Kollegen aus einem niedrigen Reflex heraus das Leben zerstört. Weil man eben dabei sein wollte, als es alle gemacht haben. Das ist die eine Sache. Sie ist tatsächlich Realität, aber richtig ist sie deshalb noch lange nicht.

Dafür auch noch zu argumentieren und den wenigen redlichen Kollegen, die den Schmutz nicht mitmachen, Versagen vorzuwerfen, ist abenteuerlich. Winterbauer argumentiert

Aber spätestens, als K.s Anwalt sich öffentlich zur Sache geäußert hat, war der Fall ein Thema für jedes Medium.

Die „öffentliche“ Einlassung von K.s Anwalt war die Aussage, dass die Vorwürfe gegen seinen Mandanten frei erfunden sind. Nach Winterbauers Logik würde es in Zukunft also reichen, dass irgendein Mensch aus welchen Gründen auch immer einen juristisch relevanten Vorwurf gegen einen Prominenten erhebt. Dann ruft man dessen Anwalt an, und sobald er das dementiert hat man eine Geschichte. Das wäre natürlich für großartige Headlines gut: „Bundeskanzlerin bestreitet, den Eisbären Knut entführt zu haben!“ Aber journalistischen Grundsätzen entspricht es deshalb noch lange nicht.

Was auch immer in der Beziehung von Jörg K. schiefgelaufen ist, natürlich hat niemand von uns „ein Recht darauf“, es zu erfahren. Im Gegenteil: Jörg K. und seine Freundin haben zunächst einmal ein Recht darauf, dass es ihre Sache bleibt. Und wenn ihnen dieses Recht von den Medien genommen wird, wäre es die Aufgabe von Medienjournalisten, das anzuprangern. Oder, sagen wir es so: Dem wäre viel hinzuzufügen gewesen.

Nachtrag: Und was ich hier kompliziert und weitschweifig zu erklären versucht habe, bringt Stefan Niggemeier in klaren, geraden Sätzen aufs, na, Dings, nicht Papier halt. Deshalb empfehle ich es erst ganz am Ende meines Textes: Von Unschulds- und anderen Vermutungen.

Applaus: Grillsaison – von Philipp Kohlhöfer

Grillsaison

Weil ich an dieser Stelle, in diesem Blog, trotz meiner guten Vorsätze in eine andere Richtung so viel meckere und so wenig Gutes berichte, habe ich beschlossen, eine Rubrik anzufangen bevor sie anfängt: den Applaus.
Die Idee stammt von Timm Klotzek, einem der Chefredakteure von Neon und Nido, der fand, ich könnte hier Kollegen zu Wort kommen lassen, die gerade etwas gut finden. Ich wollte, dass er die Rubrik eröffnet, aber er findet die Zeit nicht. Deshalb kürze ich ab und beginne.

Der Applaus geht diese Woche an ein Buch: Grillsaison – Meine Reise durch die Heimat von Philipp Kohlhöfer.

Warum: Weil es großartig ist.

Zur Erklärung: Aus der Einleitung:

“…Das Buch ist ein Deutschland -Lesebuch. Es sucht ein Gefühl für das Land in dem wir leben. So reist Philipp Kohlhöfer durch Hessen und sucht Gemütlichkeit, erfährt in Ohio die Vorteile des deutschen Waldes unter Zuhilfename einer sexsüchtigen Zwergin, versucht Menschen in Afrika Wurst näher zu bringen, lässt sich die Nase brechen, beim Versuch Autos gut zu finden, bezirzt mit Nelly Furtado um nicht deutsch- verklemmt zu sein etc. Er erlebt Geschichten zu deutschen Klischees – subjektiv und witzig.“

Und hier können Sie es jetzt sofort bestellen. Und sollten das tun. Ich habe da nichts von, aber Philipp Kohlhöfer. Und selbst wenn er es nicht verdienen würde, das Buch tut es (er natürlich auch).

Und das muss noch gesagt sein (das ist echt): Best- of- Leserbriefe, Folge 2: „…Halten Sie, bitte, Ihre Klappe, sie billiger Lohnschreiber, sie haben alle Grenzen des menschlichen und des journalistischen Anstand freiwillig und ohne Not überschritten. Ich verachte Sie deshalb. Ich nenne Sie deshalb hier coram publico eine ganz miese Schreiberseele! Ich spucke vor ihnen aus: Pfui!.“

Griechen und die Bild-Zeitung

Es sind ein paar hundert Meter Luftlinie vom Axel-Springer-Platz in Berlin bis zur griechischen Botschaft in der Jägerstraße. Wenn man also bei der Bild-Zeitung arbeiten würde und die Aufgabe hätte, die Finanzkrise in Griechenland zu beschreiben, dann könnte man – wenn man denn verschiedene Meinungen zu den Hintergründen einholen wollte – zu Fuß hingehen. Aber man müsste nicht einmal das tun, man könnte auch anrufen. Die Botschaft hat ein Pressebüro, und der Bild-Reporter könnte sich durchstellen lassen zu dem Leiter dieses Büros. Das dauert ein paar Sekunden. Und könnte schon ein paar Dinge ins Wanken bringen, die in der Bild-Zeitung in den letzten Tagen behauptet wurden.
Der Leiter des Pressebüros der griechischen Botschaft in Berlin ist 1945 geboren, wenn es also stimmen würde, was in der Bild-Zeitung steht, dass nämlich griechische Beamte spätestens mit Mitte fünfzig in Rente gehen, dann dürfte er da gar nicht sitzen. Er würde dann seit mehr als zehn Jahren seine Rente genießen, die ja nach den Recherchen der Bild-Zeitung fast 100 Prozent seines Gehaltes ausmacht – wobei in der Bild nicht steht, dass es sich dabei nur um das Grundgehalt handelt, während das, was sie tatsächlich überwiesen bekommen, in weiten Teilen Zuschläge sind. Die Diplomaten an der Botschaft werden in Wahrheit bestenfalls 15 oder 20 Prozent ihres Gehaltes als Rente bekommen, wenn überhaupt. So wie alle diese griechischen Beamten, von denen die Bild-Zeitung und andere gerade behaupten, sie wären es, die ein winzig kleines Land am Rande Europas nah an den Ruin getrieben haben, und nicht die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten.
Wenigstens einen Dienstwagen wird man beim Presserat der Botschaft dann aber doch wenigstens vermuten dürfen, wo doch Griechenlands Beamte und Politiker angeblich die unglaubliche Zahl von 50.000 Autos unterhalten, die in der Bild immer im Zusammenhang mit den 300 Parlamentariern genannt werden, so als würde jeder von ihnen hunderte unterhalten. Aber nicht einmal das könnte man bei seinem Rechercheanruf bestätigen, denn der Leiter des Büros – der erste Ansprechpartner, den man am Telefon hätte, wenn man der Gegenseite auch nur die Chance einräumen wollte, etwas zu sagen – fährt nur seinen eigenen Kleinwagen. Einen aus deutscher Produktion.
So geht es weiter mit jedem Fakt, der da in die Welt geblasen wird, als neu oder sensationell verkauft, als Grund für die Misere. Es wird das Bild gemalt von einer Nation, die in fauler Gier anstatt zu arbeiten lieber die EU ausgenommen hat und jetzt überversorgt und fett am Strand liegt, während in Deutschland hart gearbeitet wird, um ihnen das Geld hinterher zu werfen. Natürlich braucht man keinen Nobelpreis, um zu erkennen, dass es so nicht stimmt. Man braucht gerade mal ein Gehirn.
Ich bin der Sohn eines Griechen, der während der Militärdiktatur nach Deutschland emigriert ist, und nach dem Ende der Junta in den griechischen Staatsdienst gegangen ist, weil er gelernt hat, dass Demokratie etwas ist, das man sich jeden Tag erarbeiten muss. Und ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Menschen getroffen, der auch nur annähernd so viel arbeitet wie mein Vater. Heute liest er offene Briefe in der Bild-Zeitung, im Stern und wo nicht noch alles, in denen Journalisten Deutschland zur reichen Tante fantasieren, die jetzt aber streng mit ihrem frechen Neffen sein muss, weil der so unverantwortlich mit ihrem Geld herumwirft. Ich bin selbst Journalist und ich schäme mich, wenn ich daran denke, dass mein Vater das liest.
Aber den schlimmsten Moment hatte ich in den letzten Tagen, als ich in der Bild einen perfiden Artikel über die Frage gelesen habe: „Schuldet Deutschland Griechenland noch Reparationszahlungen aus dem Krieg?“ – und natürlich zu dem Schluss kam, das wäre vertraglich alles längst geregelt. Plötzlich waren da Fakten wichtig und Zahlen. Aber hier ist noch ein Fakt, eine Tatsache, eine von mir, also einem Europäer mit einem Griechen als Vater und einer Deutschen als Mutter, einem deutschen Großvater mit einer dreistelligen NSDAP-Mitgliedsnummer und einem griechischen, der von der Gestapo im besetzten Griechenland gefoltert wurde, weil seine ältesten Söhne im Widerstand waren. Sie haben beide Tagebuch geführt. Die von meinem deutschen Opa liegen hier neben mir, gemeinsam mit seinem Ritterkreuz: Eine weinerliche Reihe von Rechtfertigungen und eine sehr genaue Buchführung über seine Ausgaben zu der Zeit. Das Tagebuch meines anderen Großvaters kenne ich nur in Auszügen: In einem großen Vater-Sohn-Moment hat mir mein Vater einmal daraus vorgelesen. Von den Misshandlungen, die er – ganz Intellektueller, der er war – ungeheuer sachlich und distanziert beschreibt.
Natürlich hat mein griechischer Großvater nie Reparation verlangt für das, was man ihm angetan hat. Es ist nie jemand dafür zur Rechenschaft gezogen worden, und er hegte offensichtlich trotzdem keinen Groll: Er schickte meinen Vater auf die Deutsche Schule in Athen. Weil es eine gute Schule war. Und weil die deutsche Kultur für ihn tiefer ging als das, was er selbst erleben musste.
Ich kann die Verachtung nicht in Worte fassen, die ich für die Kollegen mit ihren offenen Briefen empfinde, die sich ohne jede Recherche einen demütigenden Witz nach dem anderen aus den Fingern gesaugt haben, die sehenden Auges Vorurteile bis hin zum rassistischen Hass geschürt haben und die dabei nichts erreicht haben als den Zockern in den entsprechenden Investmentbanken noch ein bisschen in die Hände zu spielen.
Es ist kein Geheimnis: Mein Vater leitet das Pressebüro der griechischen Botschaft in Berlin. Ich nehme an, es ist sein letzter Posten bevor er mit 67 oder 68 endlich in Rente gehen kann.
Er hat nie und würde nie etwas Schlechtes über einen Journalisten sagen, nicht einmal mir, nicht einmal privat. Er sieht das nicht als seine Aufgabe. Stattdessen arbeitet er dafür, dass die Öffentlichkeit des Landes, in dem er gerade Dienst tut, auch die griechische Seite hört. Und ich war lange unendlich stolz darauf, dass in meiner Familie innerhalb einer Generation auf den Nazi-Opa mein Vater folgt, der das Bundesverdienstkreuz für besondere Verdienste um die deutsch-griechischen Beziehungen verliehen bekommen hat.

Aber ich bin auch Deutscher und Journalist. Und ich schäme mich. Weil ich weiß, wie einfach es gewesen wäre, ein einziges Mal anzurufen.