Es mag bei komplexen Problemen normal sein, dass der Kenntnisstand über die Fakten extrem variiert, und es gehört zum Immunsystem einer Demokratie, dass Menschen in der Lage sind, auch auf Grundlage von relativ wenig Informationen in der Masse recht weise Entscheidungen zu treffen. Aber es wird unmöglich, wenn diese Informationen falsch sind. Vorurteile sind keine Urteile.
Ich begegne regelmäßig zwei Annahmen, die aus meiner Sicht zur schwierigsten Hürde in der deutschen Diskussion um Euro- und Griechenlandkrise geworden sind. Die erste Annahme ist, die Beamten der Institutionen formerly known as Troika wären eine Art unpolitisches „Technisches Team“, das quasi nur zur Umsetzung von politischen Beschlüssen aus Brüssel in die Hauptstädte Südeuropas reist und selber unpolitisch wäre. Die zweite Annahme, eigentlich eine direkte Folge ist, die Troika hielte sich an Beschlüsse aus Brüssel. Beide Annahmen sind verständlich, denn genau das gerieren sowohl die Institutionen als auch der größte Teil der Medien. Aber beide Annahmen sind falsch.
Ich kann der Geschichte des IWF hier natürlich nicht gerecht werden. Er ist in den vergangenen Jahrzehnten überall auf der Welt als Pioniertrupp der neoliberalen Ideologie in Krisen- und Katastrophengebiete eingezogen und hat eine Schneise der Verwüstung hinterlassen (es lohnt sich, das nachzulesen, schon weil es absurd und unglaublich wirkt, dass eine Weltgemeinschaft das zulässt). Gegründet als Retter für Staaten in Krisen hinterlässt der IWF regelmäßig weite Teile der Bevölkerung ohne Arbeitnehmerrechte und Sozialsysteme. Die Programme, an die die Auszahlung von Hilfskrediten gebunden ist, lassen sich regelmäßig zusammenfassen als Dreiklang aus Kürzung der Staatsausgaben, Liberalisierung der Märkte (auch und vor allem des Arbeitsmarktes) und die Privatisierung von Staatseigentum.
Er ist keine neutrale, „rein technische“ Einrichtung. Abgesehen davon wäre er eine schlechte: Bei dem Griechenland-Programm haben sich die IWF-Experten nach eigenem Eingeständnis fürchterlich verrechnet und so den Absturz der Wirtschaft und das Leid der Bevölkerung extrem verschärft.
Hier ist aber vor allem eins wichtig: Der IWF ist keine europäische Institution und natürlich folgt er auch keinen Vorgaben aus Brüssel. Es ist nicht einmal festgelegt, dass IWF und EU-Kommission in Bezug auf die Rettungsprogramme die gleichen Ziele haben, sie sollen sich nur abstimmen. Zu Beginn der Krise hatte unter anderem Wolfgang Schäuble deshalb die Idee eines Europäischen Währungsfonds vertreten, sich damit aber leider nicht durchsetzen können.
Dass die Europäische Zentralbank (EZB) unabhängig und in keiner Form weisungsgebunden ist, ist ohnehin klar. Das macht es im Gegenteil umso unverständlicher, dass sie überhaupt in der Troika dabei sein durfte. Es gibt heute auch niemanden mehr, der umfassend erklären kann, wie es dazu kam, sondern es hat im Gegenteil das Europäische Parlament nach ausführlicher Untersuchung festgestellt, dass die demokratische Legitimation der gesamten Troika-Konstruktion schwach ist und die Teilnahme der EZB juristisch fragwürdig.
Über die Rolle der EZB heißt es in einer Untersuchung des Brüsseler Think Tanks Bruegel
The ECB’s role is less clearly defined than the Commission’s. The legal texts refer to it in an oblique way, using the formula ‘in liaison with the ECB’. Reasons for European authorities to request ECB participation in the Troika are not spelled out explicitly, and there is no straightforward rationale for this involvement.
(PDF Seite 24f.)
Kurz: Keiner weiß mehr, was die da sollen, aber die EZB hat nach Recherchen von Harald Schumann ihre undefinierte Rolle ausgenutzt, um in unfassbar dreister Art und Weise verschiedene europäische Banken auf Kosten europäischer Steuerzahler zu sanieren. Die Verluste trugen die ohnehin gebeutelten Südeuropäer, die Gewinne machten Privatunternehmen oder Privatleute wie die Tochter des angolanischen Diktators dos Santos, die billig eine Bank kaufen konnte, deren Milliardenschulden von portugiesischen Steuerzahlern übernommen worden waren. Weil die EZB Schumanns Nachfragen nicht beantwortet, hat der Europa-Abgeordnete Sven Giegold sie nun als offizielle Parlamentsanfrage eingereicht. Ich bin gespannt auf die Antworten.
Derweil mischt sich die EZB aber auch aktiv in die Politik ein: So sind die Möglichkeiten, unter denen sich das griechische Finanzsystem heute über die EZB liquide halten kann sehr viel schlechter als es 2012 in vergleichbarer Situation unter der ersten Regierung von Antonis Samaras war (dieser Umstand war einer der Hauptpunkte in dem Brandbrief von Tsipras an Merkel Mitte März. Viel genaueres hier hinter der Paywall der FT, zumindest etwas Genaueres sonst hier bei der Welt).
Die EU-Kommission, dritte der Troika-Institutionen, ist im Prinzip die einzig demokratisch legitimierte, obwohl auch hier (wie zum Beispiel grandios von Schumann in seinem schockierenden Film „Troika – Macht ohne Kontrolle“ dokumentiert) die Beamtenebene in bizarrer Übertretung ihrer Kompetenzen agiert. Dass politische Vorgaben diese Frauen und Männer nur bedingt aus dem Takt bringen wird aber schon deutlich, wenn man ihre Programme tatsächlich einmal liest. So finden sich im ersten „Economic Adjustment Programme for Greece“ abgesehen von den absurd falschen Annahmen über den Einfluss des Programms auf die Realwirtschaft zum Beispiel Punkte zu Arbeitsmarktreformen, die aus heutiger Sicht wie Hohn klingen. Punkt 26 erklärt, wie Lohnsenkungen und die Abschaffung von Arbeitnehmerrechten zu neuen Jobs führen, auch mit besonderem Blick auf die Jungen (die Jugendarbeitslosigkeit liegt heute bei etwa 50 Prozent) und unter Punkt 29 die sachkundig erläuterte Erklärung, warum die Mindestlöhne im privaten Sektor nicht angetastet werden würden (kurz: Weil es schädlich und sowieso sinnlos wäre). Ein Jahr später wurden bekanntlich die Mindestlöhne gesenkt, was die Abwärtsspirale der griechischen Wirtschaft weiter verstärkte.
Heute weiß offenbar niemand mehr genau, wie es dazu kam, dass sich die Troika nicht an ihre eigenen Programme hielt, und besonders zwischen Griechenland und Deutschland wird viel mit Fingern gezeigt. Deshalb soll ein Untersuchungsausschuss in Griechenland einmal die Fakten von den Verschwörungstheorien trennen, was die Welt in einem inzwischen offenbar Fleisch gewordenen Reflex zu der Überschrift verleitet, „Athen sucht Schuldige für die Misere“. Manchen reicht für die Feststellung von Tatsachen offensichtlich ein Blick ins eigene Archiv – wenn es da steht, muss es ja stimmen. So verselbständigen sich Wahrnehmungen.
Politische Institutionen sind niemals einfach technisch, aber die hierzulande weitgehend unkritische Darstellung der Troika-Institutionen als solche, die einfach nur die Einhaltung von bereits ausgehandelten Verträgen überwachen sorgt dafür, dass jeder ihr Widersprechende automatisch als Vertragsbrecher wahrgenommen werden muss. Das ist es, was viele Medien mit der neuen griechischen Regierung machen: Um eine Diskussion um ihre Politik zu vermeiden, ziehen sie die Diskussion ins Unpolitische, ins Technische: Verträge sind einzuhalten; Die Regierung ist inkompetent (was man politisch ja kaum sein kann); Sie wollen „Reformen zurückdrehen“.
Die Wahrheit ist eine andere: Die Troika hat eine Politik vertreten, eine Ideologie, die in Wahrheit nirgends in Europa eine Mehrheit hat. Es gibt auch in Deutschland keine neoliberale Mehrheit. Es sind zwei unterschiedliche Dinge, ob man auf die Einhaltung von Verträgen pocht, oder ob man einem anderen Land eine Politik aufzwingt, und dann eine, die ganz explizit von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird. Mit dem Mythos der rein technischen Eingriffe wird die Abschaffung der Demokratie verschleiert.
Das ist kein europäischer Weg.