Vom Mythos der technischen Institution

Es mag bei komplexen Problemen normal sein, dass der Kenntnisstand über die Fakten extrem variiert, und es gehört zum Immunsystem einer Demokratie, dass Menschen in der Lage sind, auch auf Grundlage von relativ wenig Informationen in der Masse recht weise Entscheidungen zu treffen. Aber es wird unmöglich, wenn diese Informationen falsch sind. Vorurteile sind keine Urteile.

Ich begegne regelmäßig zwei Annahmen, die aus meiner Sicht zur schwierigsten Hürde in der deutschen Diskussion um Euro- und Griechenlandkrise geworden sind. Die erste Annahme ist, die Beamten der Institutionen formerly known as Troika wären eine Art unpolitisches „Technisches Team“, das quasi nur zur Umsetzung von politischen Beschlüssen aus Brüssel in die Hauptstädte Südeuropas reist und selber unpolitisch wäre. Die zweite Annahme, eigentlich eine direkte Folge ist, die Troika hielte sich an Beschlüsse aus Brüssel. Beide Annahmen sind verständlich, denn genau das gerieren sowohl die Institutionen als auch der größte Teil der Medien. Aber beide Annahmen sind falsch.

Ich kann der Geschichte des IWF hier natürlich nicht gerecht werden. Er ist in den vergangenen Jahrzehnten überall auf der Welt als Pioniertrupp der neoliberalen Ideologie in Krisen- und Katastrophengebiete eingezogen und hat eine Schneise der Verwüstung hinterlassen (es lohnt sich, das nachzulesen, schon weil es absurd und unglaublich wirkt, dass eine Weltgemeinschaft das zulässt). Gegründet als Retter für Staaten in Krisen hinterlässt der IWF regelmäßig weite Teile der Bevölkerung ohne Arbeitnehmerrechte und Sozialsysteme. Die Programme, an die die Auszahlung von Hilfskrediten gebunden ist, lassen sich regelmäßig zusammenfassen als Dreiklang aus Kürzung der Staatsausgaben, Liberalisierung der Märkte (auch und vor allem des Arbeitsmarktes) und die Privatisierung von Staatseigentum.

Er ist keine neutrale, „rein technische“ Einrichtung. Abgesehen davon wäre er eine schlechte: Bei dem Griechenland-Programm haben sich die IWF-Experten nach eigenem Eingeständnis fürchterlich verrechnet und so den Absturz der Wirtschaft und das Leid der Bevölkerung extrem verschärft.

Hier ist aber vor allem eins wichtig: Der IWF ist keine europäische Institution und natürlich folgt er auch keinen Vorgaben aus Brüssel. Es ist nicht einmal festgelegt, dass IWF und EU-Kommission in Bezug auf die Rettungsprogramme die gleichen Ziele haben, sie sollen sich nur abstimmen. Zu Beginn der Krise hatte unter anderem Wolfgang Schäuble deshalb die Idee eines Europäischen Währungsfonds vertreten, sich damit aber leider nicht durchsetzen können.

Dass die Europäische Zentralbank (EZB) unabhängig und in keiner Form weisungsgebunden ist, ist ohnehin klar. Das macht es im Gegenteil umso unverständlicher, dass sie überhaupt in der Troika dabei sein durfte. Es gibt heute auch niemanden mehr, der umfassend erklären kann, wie es dazu kam, sondern es hat im Gegenteil das Europäische Parlament nach ausführlicher Untersuchung festgestellt, dass die demokratische Legitimation der gesamten Troika-Konstruktion schwach ist und die Teilnahme der EZB juristisch fragwürdig.

Über die Rolle der EZB heißt es in einer Untersuchung des Brüsseler Think Tanks Bruegel

The ECB’s role is less clearly defined than the Commission’s. The legal texts refer to it in an oblique way, using the formula ‘in liaison with the ECB’. Reasons for European authorities to request ECB participation in the Troika are not spelled out explicitly, and there is no straightforward rationale for this involvement.

(PDF Seite 24f.)

Kurz: Keiner weiß mehr, was die da sollen, aber die EZB hat nach Recherchen von Harald Schumann ihre undefinierte Rolle ausgenutzt, um in unfassbar dreister Art und Weise verschiedene europäische Banken auf Kosten europäischer Steuerzahler zu sanieren. Die Verluste trugen die ohnehin gebeutelten Südeuropäer, die Gewinne machten Privatunternehmen oder Privatleute wie die Tochter des angolanischen Diktators dos Santos, die billig eine Bank kaufen konnte, deren Milliardenschulden von portugiesischen Steuerzahlern übernommen worden waren. Weil die EZB Schumanns Nachfragen nicht beantwortet, hat der Europa-Abgeordnete Sven Giegold sie nun als offizielle Parlamentsanfrage eingereicht. Ich bin gespannt auf die Antworten.

Derweil mischt sich die EZB aber auch aktiv in die Politik ein: So sind die Möglichkeiten, unter denen sich das griechische Finanzsystem heute über die EZB liquide halten kann sehr viel schlechter als es 2012 in vergleichbarer Situation unter der ersten Regierung von Antonis Samaras war (dieser Umstand war einer der Hauptpunkte in dem Brandbrief von Tsipras an Merkel Mitte März. Viel genaueres hier hinter der Paywall der FT, zumindest etwas Genaueres sonst hier bei der Welt).

Die EU-Kommission, dritte der Troika-Institutionen, ist im Prinzip die einzig demokratisch legitimierte, obwohl auch hier (wie zum Beispiel grandios von Schumann in seinem schockierenden Film „Troika – Macht ohne Kontrolle“ dokumentiert) die Beamtenebene in bizarrer Übertretung ihrer Kompetenzen agiert. Dass politische Vorgaben diese Frauen und Männer nur bedingt aus dem Takt bringen wird aber schon deutlich, wenn man ihre Programme tatsächlich einmal liest. So finden sich im ersten „Economic Adjustment Programme for Greece“ abgesehen von den absurd falschen Annahmen über den Einfluss des Programms auf die Realwirtschaft zum Beispiel Punkte zu Arbeitsmarktreformen, die aus heutiger Sicht wie Hohn klingen. Punkt 26 erklärt, wie Lohnsenkungen und die Abschaffung von Arbeitnehmerrechten zu neuen Jobs führen, auch mit besonderem Blick auf die Jungen (die Jugendarbeitslosigkeit liegt heute bei etwa 50 Prozent) und unter Punkt 29 die sachkundig erläuterte Erklärung, warum die Mindestlöhne im privaten Sektor nicht angetastet werden würden (kurz: Weil es schädlich und sowieso sinnlos wäre). Ein Jahr später wurden bekanntlich die Mindestlöhne gesenkt, was die Abwärtsspirale der griechischen Wirtschaft weiter verstärkte.

Heute weiß offenbar niemand mehr genau, wie es dazu kam, dass sich die Troika nicht an ihre eigenen Programme hielt, und besonders zwischen Griechenland und Deutschland wird viel mit Fingern gezeigt. Deshalb soll ein Untersuchungsausschuss in Griechenland einmal die Fakten von den Verschwörungstheorien trennen, was die Welt in einem inzwischen offenbar Fleisch gewordenen Reflex zu der Überschrift verleitet, „Athen sucht Schuldige für die Misere“. Manchen reicht für die Feststellung von Tatsachen offensichtlich ein Blick ins eigene Archiv – wenn es da steht, muss es ja stimmen. So verselbständigen sich Wahrnehmungen.

Politische Institutionen sind niemals einfach technisch, aber die hierzulande weitgehend unkritische Darstellung der Troika-Institutionen als solche, die einfach nur die Einhaltung von bereits ausgehandelten Verträgen überwachen sorgt dafür, dass jeder ihr Widersprechende automatisch als Vertragsbrecher wahrgenommen werden muss. Das ist es, was viele Medien mit der neuen griechischen Regierung machen: Um eine Diskussion um ihre Politik zu vermeiden, ziehen sie die Diskussion ins Unpolitische, ins Technische: Verträge sind einzuhalten; Die Regierung ist inkompetent (was man politisch ja kaum sein kann); Sie wollen „Reformen zurückdrehen“.

Die Wahrheit ist eine andere: Die Troika hat eine Politik vertreten, eine Ideologie, die in Wahrheit nirgends in Europa eine Mehrheit hat. Es gibt auch in Deutschland keine neoliberale Mehrheit. Es sind zwei unterschiedliche Dinge, ob man auf die Einhaltung von Verträgen pocht, oder ob man einem anderen Land eine Politik aufzwingt, und dann eine, die ganz explizit von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird. Mit dem Mythos der rein technischen Eingriffe wird die Abschaffung der Demokratie verschleiert.

Das ist kein europäischer Weg.

Die Sache mit dem Finger: Varoufakis bei Jauch / aktualisiert

Die große Tragödie ist, dass alle nur über diesen Finger reden werden. Yanis Varoufakis hat spannende und richtige Dinge gesagt bei Günther Jauch am Sonntag, aber eben auch eine, die entweder völlig falsch oder zumindest so dämlich missverständlich war, dass der Abend am Ende seinen Gegnern möglicherweise mehr nützen wird als ihm und der Sache der neuen griechischen Regierung.

In der Sendung hielt Günther Jauch ihm vor, er würde fordern, Griechenland solle seine Schulden ganz einfach nicht bezahlen und Deutschland den Mittelfinger zeigen, und er spielte ein Video ein, auf dem Varoufakis 2013 zu sehen war, wie er genau das tat.

Sprecher: Varoufakis will den Griechen neues Selbstvertrauen geben …(kurze Einblendung: Mai 2013)

Varoufakis: Griechenland sollte einfach verkünden, dass es nicht mehr zahlen kann …

Sprecher: … und steht für klare Botschaften. Besonders an Deutschland.

Varoufakis: … und Deutschland den Finger zeigen und sagen: Jetzt könnt ihr das Problem alleine lösen.

Dann leitete Jauch mit der Frage zu Varoufakis über

Jauch: Der Stinkefinger für Deutschland, Herr Minister. Die Deutschen zahlen am meisten, und werden dafür mit Abstand am meisten kritisiert. Wie passt das zusammen?

Varoufakis widersprach heftig: Er habe nie jemandem den Finger gezeigt, das Video müsse falsch sein, „that video is doctored“, für mich zumindest klingt das so, als behaupte er, das Video müsse sogar gefälscht sein, der Finger quasi hineinmontiert.

Ich glaube, das Video ist authentisch. Allerdings hat Varoufakis in einem entscheidenden Punkt trotzdem recht: Er fordert in diesem Video nicht, „Deutschland den Finger zu zeigen“ und die Schulden nicht zu bezahlen, sondern er fordert im Gegenteil ganz andere Lösungen für die Euro-Krise (nämlich dieselben, die er heute auch fordert) – aber er rekapituliert im Rahmen einer Frage-und-Antwort-Session zu seinem Buch im Mai 2013 seine Position von Anfang 2010, also seine Forderung von VOR irgendwelchen Hilfskrediten. Er zeigt nicht den Finger, sondern sagt, er habe drei Jahre früher von anderen in einer anderen Situation gefordert, sie sollten den Finger zeigen. Das ist ein Unterschied, sogar ein entscheidender. „Damals hätte man sollen“ und heute fordern sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge, wenn sich in der Zwischenzeit die Fakten geändert haben – zum Beispiel durch den größten Kredit der Menschheitsgeschichte. Oder so.

So wie Jauch das Video zeigt ist es tatsächlich falsch. Wenn Varoufakis mit „doctored“ aber gemeint hat, das Video wäre gefälscht, dann liegt er ebenfalls daneben. Die Jauch-Redaktion hat das Video in einen falschen Kontext gestellt: Varoufakis hat den „griechischen Default innerhalb des Euro“ nicht 2013 gefordert, als Deutschland Hilfskredite gewährt hatte, sondern 2010, als der noch möglich war. Damit wäre „die Deutschen zahlen am meisten“ nie Realität geworden und Jauchs ganze Frage hätte keinen Sinn mehr ergeben (ja, korrekt, hat sie so dann auch nicht). Inzwischen hat der für Jauch zuständige NDR-Fernseh-Chefredakteur Andreas Cichowicz auf Twitter auch zugegeben, dass der Kontext zur Frage besser gewesen wäre. Ich würde sogar sagen, er war notwendig.

Vor diesem Hintergrund ist es inhaltlich richtig: Varoufakis hat nie Deutschland den Finger gezeigt und das Video ist seines Kontextes beraubt, also auch doctored.

Ich nehme allerdings schwer an, dass diese Tiefe der Differenzierung bei BILD-Lesern (und erst recht BILD-Mitarbeitern) eher nicht ankommen wird.

Nachtrag: Am Montagabend bestätigt Varoufakis auf Twitter, was ich vermutet hatte: Er postet das „undoctored“ Video, in dem die Szene drin ist (bei Minute 40:32). Offensichtlich meint er mit „Video“ den Einspieler und den falschen Kontext. Ich wünschte, er hätte das gleich klarer gesagt (oder es wäre nicht in der Drei-Wege-Übersetzung verschütt gegangen).

PS. Noch einen Tick schöner steht es bei Stefan Niggemeier.

DIE WELT möchte lieber nicht, dass Griechen wählen

Vor den letzten Parlamentswahlen in Griechenland im Juni 2012 gab es mehr oder weniger subtile Versuche aus Deutschland, dem griechischen Wahlvolk deutlich zu machen, dass es bloß nicht die „Linksradikalen“ (was die in Deutschland gängige und irreführende Übersetzung von „Koalition der Radikalen Linken“ ist) wählen dürfe. Bundesfinanzminister Schäuble warnte, dass alles andere als der bereits beschlossene Sparkurs sowieso nicht infrage käme, und viele griechische Wähler verstanden das als Drohung, im Falle eines Wahlsieges der Linken drohe Griechenland der Rauswurf aus dem Euro.

Nun wird der Sparkurs seit Jahren umgesetzt und hat katastrophale Folgen mit sich gebracht. Man könnte sagen, die Voraussagen aller Fachleute außerhalb vom IWF und den Wirtschaftsressorts von WELT und Focus haben sich bewahrheitet. Weil angesichts dieser Tatsachen subtile Drohungen offensichtlich nicht mehr helfen, greift man bei der WELT jetzt offen zu den Waffen und fordert die europäischen Regierungschefs auf, endlich aggressiv das griechische Wahlergebnis zu beeinflussen.

Aufmacher auf Welt.de war folgerichtig am Nachmittag ein Kommentar des Wirtschafte-Ressortleiters Olaf Gersemann, der schon in der Überschrift fordert:

Euro-Länder müssen den Griechen mit Rauswurf drohen

Nochmal zum Genießen: Die Euro-Länder müssen den Griechen (also: den griechischen Wählern) mit Rauswurf drohen, wenn sie falsch wählen? Diese nervige Demokratie muss denen im hypermodernen WELT-Newsroom schon gewaltig auf die Nerven gehen. Sowas geht online?

Abgesehen davon, dass das die Verträge gar nicht zulassen: Ich könnte Olaf Gersemann die völlige Unkenntnis des griechischen Reformprozesses einigermaßen verzeihen, obwohl ein klügerer Mensch an seiner Stelle dann vielleicht gar nicht drüber schreiben würde. Die dickhodig-antidemokratische Haltung ist schon überragend ekelhaft. Aber dass es jemand tatsächlich fertigbringt, die anstehenden Neuwahlen in Griechenland zu kommentieren, ohne mit einem einzigen Wort auf die Lage in Griechenland einzugehen, ist so absurd menschenverachtend, dass es mich ernsthaft schockiert.

Wer DIE WELT verstehen will, muss sich offensichtlich möglichst weit von der Welt entfernen.

Warum AfD-Lucke möglicherweise unverzichtbar ist

Journalismus in Deutschland, Reality Check: Griechenland hat also einen Primärüberschuss erwirtschaftet. Es gibt eine Schulregel, was ein Primärüberschuss ist (der Saldo des Staatshaushaltes vor Bedienung der Schuldzinsen), allerdings gibt es auch durchaus sinnvolle Modifizierungen, je nachdem, wessen Primärüberschuss da gerade berechnet wird. Bei den deutschen Bundesländern zum Beispiel fließen die Leistungen der Geberländer im Länderfinanzausgleich nicht in die Berechnung ein. Bei Griechenland sind in den Berechnungen die Einmalzahlungen ausgenommen, die das Land in einen Fond zur Rettung seiner Banken leistet.

Bei der FAZ war genau das aber gestern der Grund, Griechenlands Primärüberschuss als „Primärüberschuss“ zu bezeichnen, also als etwas, das nur so heißt, aber in Wahrheit etwas anderes ist. Der pöbelnde Mob der faz.net-Leser verstand das selbstverständlich als Aufruf zu dem, was sie eh immer machen: Den Griechen vorzuwerfen, sie würden betrügen. Im Prinzip lässt sich das ja auch nicht anders verstehen.

Ich habe, in zugegeben leicht genervter Laune, per Twitter nachgefragt, warum der mit den vorher aufgestellten Regeln übereinstimmende Primärüberschuss nur ein „Primärüberschuss“ ist. Und ich erhielt Antwort: Ein FAZ-Wirtschafts-Redakteur (ich nehme an, der Autor des Artikels, aber ich finde da online die Autorenzeile nicht) erklärte es mir so:

Das artete ein bisschen aus und ich wollte unter anderem wissen, ob die FAZ jetzt alle Primärüberschüsse in der EU in Anführungen schreiben würde, weil die EU ja die Regeln für die Berechnung so festgelegt hatte.

Natürlich führt das zu nix. Ich werde weder FAZ-Redakteure von irgendwas überzeugen, die denken, sie wüssten alles, ohne die Dinge durchzulesen, über die sie schreiben. Und schon überhaupt gar nicht werde ich die ekligen Lallbacken zur Fairness bewegen, die dort solche Artikel kommentieren.

Ich nicht.

Aber Bernd Lucke. Denn der lurchige Professor für Volkszorn, nebenbei auch Vorsitzender der Partei Alternative für Deutschland, stellte (sinngemäß) fest, dass das ja ein Skandal wäre, wenn die scheiß Griechen sich so schon wieder zu neuen Hilfen schummelten, und offenbar gelang es ihm, das Bundesfinanzministerium in einen Briefwechsel zum „Primärüberschuss“ Griechenlands zu verwickeln. Das Finanzministerium besteht darauf, dass es ein Primärüberschuss ohne Anführungszeichen ist und bedient sich in seiner Antwort Techniken wie Logik und klare Vereinbarungen, die als Grundlage von Entscheidungen dienen. Auch klar, einen Lucke überzeugt man so nicht.

Aber erstaunlicherweise die FAZ. Plötzlich scheinen Logik und Regeln doch wieder bessere Argumente zu sein als Lucke und Vorurteile, denn heute schreibt Werner Mussler zusätzlich zu einem langen Erklärstück den Kommentar „Kein Skandal in Griechenland“:

Luckes impliziter Vorwurf, die Troika habe erst jüngst ihre Definition angepasst, ist daher schlicht falsch. Diese ist schon zum Start des Programms so festgelegt worden.

Also ist Bernd Lucke wenigstens dafür nützlich: Als verlässlichster Marker für so richtig falsche Standpunkte. Wer seine Zustimmung bekommt denkt dann offensichtlich doch noch mal drüber nach, dass da irgendwo ein Fehler in der Argumentation sein muss.

Na gut, nicht ganz alle: Luckes impliziten Vorwurf erhebt zumindest einer ganz explizit und richtet sogar seine Berichterstattung danach aus.

Trickst die BILD heute die Kanzlerin aus?

Bevor ich mir vorwerfe, gar nichts dazu gesagt zu haben, möchte ich minimalinvasiv eine Kurzanalyse der aktuellen Griechenland-Berichterstattung der BILD abarbeiten – oder, wie ich es inzwischen nenne, kurz Schlickrutschen.

Manche haben es möglicherweise gesehen: BILD fragt sich

Tricksen die Griechen heute Angela Merkel aus?

BILD sagt, worauf die Kanzlerin heute bei den Gesprächen achten muss:

Damit Merkel sich dabei nicht wie vor den Landtagswahlen in NRW von der BILD austricksen lässt und Europa weiter in die Krise stürzt, nur weil sie sich im Fachblatt der Dumpfnationalen, aus deren Sicht außer Deutschen sowieso alle Betrüger sind und keinen Staatshaushalt aufstellen können, mit Pickelhaube als „Eiserne Kanzlerin“ dargestellt sehen will … puh, Luft holen, viel zu komplizierter Satz (aber ich kann hier machen, was ich will!) … damit Merkel sich also nicht austricksen lässt, sage ich mal kurz, warum sie auf die Berichterstattung der BILD nicht achten darf.

Kurzform: Weil die BILD-Berichterstattung zum Lachen dumm, falsch und auch noch offen rassistisch ist.

Wer Lust hat, liest ein bisschen Begründung. Als wäre das nötig! Aber ich habe gestern zwei unfassbar tolle Typen getroffen, Franziskaner-Mönche, die in der Bronx Jugendliche retten. Meine Botschaft ist heute ist also die Liebe, deshalb lasse ich die journalistische Fairness auch für rassistische *********** gelten und zerlege mal.

BILD sagt, worauf Merkel achten muss, zum Beispiel:

►Die Staatsschulden will Griechenland bis 2020 auf 120 % des Bruttoinlandsproduktes senken. Fakt ist: von 130 % (2009) stieg die Staatsverschuldung auf 177,3 % (2013) an. Und das trotz des Schuldenschnitts, bei dem 107 Milliarden Euro erlassen wurden!

Wenn BILD Fakten im Sinne von „Dinge, die in der Realität so sind“ benutzen würde, könnte man ja mal „Klartext“ schreiben, was das Geseier bedeutet: In realen Zahlen stieg die Staatsverschuldung Griechenlands in den vier Jahren um gerade einmal 20 Milliarden Euro (den Extrapunkt mit dem Schuldenschnitt für eine Sekunde außen vor) – was angesichts der Bankenkrise, die zu der Katastrophe geführt hat, ein lächerlich kleiner Betrag ist (die deutsche Staatsverschuldung stieg aus demselben Grund allein zwischen 2009 und 2010 um 315 Milliarden Euro oder neun Prozentpunkte im Verhältnis zum BIP, und nicht einmal das war schlecht gemanagt. Im Super-Beispiel-Wunderland Irland stieg die Staatsverschuldung um 100 Milliarden Euro, 40 davon allein zwischen 2009 und 2010, das waren 28 Prozentpunkte zum BIP. Und nochmal: In allen Ländern letztlich alles wegen der Bankenrettungen und der nötigen Folgemaßnahmen).

Nun wird irgendjemand auf die Idee kommen und sagen: „Ja, aber die 20 Milliarden PLUS die 107 Milliarden Schuldenschnitt, das sind dann doch …“ Und das wäre tatsächlich eine andere Zahl, wenn man sie denn so aufaddieren könnte. Das kann man nicht, weil ein Schuldenschnitt eben nicht einfach ein Kappen der Schulden ist, bei dem alle anderen Faktoren gleich bleiben (erklärt zum Beispiel hier). Die spannende, wenn auch akademische, Diskussion wäre ja, wie sich die Wirtschaft in Griechenland entwickelt hätte, wenn es die Bedingungen des Schuldenschnitts u.ä. nicht gegeben hätte. Auf das zumindest kann man sich sicher einigen: Ein Schuldenschnitt hat noch nie irgendwo Wachstum und Investitionen befördert, man könnte sogar sagen, der Schuldenschnitt hat Investitionen für griechische Firmen (nicht alleine aber doch auch) völlig unmöglich gemacht, weil sie natürlich keine Kredite bekommen haben. Womit wir beim nächsten Punkt wären.

►Die Wirtschaftsleistung wollte Griechenland deutlich steigern, um seine Schulden zurückzuzahlen. In Wahrheit sank das Bruttoinlandsprodukt von 230 Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 182 Milliarden Euro im Jahr 2013.

Es ist per se bizarr, jemandem vorzuwerfen, er steigere die Wirtschaftsleistung nicht so, wie er das vorhatte. So könnte man auch einfach fragen: Warum hören die scheiß armen Leute nicht auf, so arm zu sein?
Es muss zum Kotzen sein, im Kopf eines BILD-Schreibers gefangen zu sein: Man hat alle Lösungen für alle Probleme, und die Welt hält sich einfach nicht daran! Die Welt MUSS irre sein. In Griechenland zum Beispiel hätten sie doch echt allen Grund, mal einen Schlag reinzuhauen. Aber was machen sie, anstatt zu arbeiten? Rekordarbeitslosigkeit!

Aber weiter:

►Einsparungen im öffentlichen Dienst greifen oft nicht. Eine 2012 verhängte Gehaltskürzung für Polizisten und Soldalten (10 %) wurde vom obersten Verwaltungsgericht gekippt.

Das ist also einer der Tricks, mit denen Merkel heute fertig gemacht werden soll: ein Rechtsstaat! Kann ich diesen Punkt eigentlich anders verstehen, als dass die BILD findet, ein Staat sollte für seine Polizisten und Soldaten den Rechtsweg ausschließen, wenn man ihnen das Gehalt kürzt? Sind die Schreiberlinge dieses Blattes noch wenigstens irgendwie in Randbereichen demokratischer Grundhaltung beheimatet? Ich erkenne das nicht. Die nennen sich selbst APO? Interessant. Nach ihren eigenen Maßstäben könnte man sie wahrscheinlich längst „Rechtsterroristen“ nennen. Aber meine Botschaft ist ja die Liebe, insofern würde ich sowas natürlich nicht sagen.

Mein Lieblings-„Fakt“ ist aber der letzte in der Reihe:

►Griechen-Rettung absurd: Obwohl Griechenland noch Milliarden-Hilfskredite über 30 Jahre mit 1,8 % Zinsen bedienen muss, nahm die Regierung gestern an den internationalen Finanzmärkten eine neue teure Staatsanleihe von rund 3 Milliarden Euro auf – und zahlt dafür 4,75 % Zinsen – mit Geld, das es nicht hat.

Um das überhaupt denken zu können, muss man wahrscheinlich das haben oder nehmen, was sie bei BILD alle haben oder nehmen. Offensichtlich WOLLEN sie den von ihnen so empfunden korrupten, faulen Südländern Hilfskredite aufdrücken, damit sie sie hinterher als faule, korrupte Südländer beschimpfen können. Und dann wollen diese undankbaren Kanaken ihr Leben lieber eigenständig leben? Wo kommen wir denn da hin? Dabei weiß doch JEDER hier, dass die nur auf unsere Kosten leben wollen! Wieso halten die sich nicht an unsere Vorurteile? Da muss man sich als BILD-Schlickschleuder echt belogen vorkommen.

Weil ich aber beschlossen habe, mich heute über dumpfe Lallbacken nicht einmal aufzuregen, wenn sie vor Millionen Lesern antidemokratische Propaganda und ethnische Vorurteile verbreiten, möchte ich bitte, dass wir uns alle innerlich reinigen und einmal einen Blick auf das unfassbar großartige Werk der Franciscan Friars of the Renewal in der Bronx werfen, entweder hier in einem ZEIT-Artikel oder auf ihrer eigenen Seite. Wenn alle Katholiken so wären, dann wäre ich sofort dabei.

Liebe!

Dreieinhalb Jahre

Strafe hat eine Menge Formen und eine Menge Funktionen. Sie dient der Sühne. Sie dient der Abschreckung. Und sie dient der Gemeinschaft derjenigen, die sich an die Regeln der Gemeinschaft halten, als einigendes Signal dafür, dass der Ehrliche eben nicht der Dumme ist. Er ist derjenige, der die Gemeinschaft am Laufen hält. Wenn man es genau nimmt, dann ist der Ehrliche erst derjenige, der überhaupt eine Gemeinschaft herstellt – denn eine Gemeinschaft der Unehrlichen ist keine. Es gab Zeiten, da war das Stadtrecht eine Art vertragliche Vereinbarung, auf die man einen Eid schwor. Wer die Gesetze brach, brach damit vor allem seinen Eid und wurde dafür bestraft – allerdings später, nämlich von Gott. Zu irdischen Zwecken bezahlte man für kleinere Vergehen eine Strafe, die den Ehrlichen zugute kam – und wurde für schwere Vergehen aus der Stadt geworfen, um in Zukunft vogelfrei auf das jüngste Gericht zu warten. Das ist Teil unserer Kultur- und Rechtsgeschichte: Es lohnt sich schon deshalb, ein ehrlicher Mann zu sein, weil man sonst kein ehrlicher Mann ist – und es nicht wert ist, Teil der Gesellschaft zu sein.

Alle Konstruktionen rund um Gefängnisstrafen und ähnliches sind Hilfskonstruktionen, die alle möglichen Funktionen erfüllen: als Sühne, als Abschreckung, als Signal an die Opfer, als Ort der Resozialisierung, als Sicherungsverwahrung. Keine dieser Konstruktionen ist in irgendeiner Weise voll befriedigend: Zu viele Taten können nicht gesühnt werden, schon gar nicht so, dass es die Verletzungen der Opfer heilt. Rache verbietet sich in zivilisierten Gesellschaften, und überhaupt besteht ein gefühltes Missverhältnis von Delikten gegen das Eigentum und Delikten gegen die körperliche und seelische Gesundheit von Menschen. Das Urteil gegen Uli Hoeneß war angesichts der schieren, monströsen Größe seines Diebstahls an der Gemeinschaft eins mit Augenmaß – im Mittelfeld des möglichen Strafrahmens –, aber es gibt kein befriedigendes Verhältnis zu anderen Taten, die mit ähnlichen Strafen belegt wurden: Es haben schon Kriminelle dreieinhalb Jahre Gefängnis aufgebrummt bekommen, die andere Menschen halbtot geschlagen haben.

Das gefühlte Missverhältnis lässt sich nicht lösen, wenn man Gesetze als den Rahmen einer Gesellschaft betrachtet, wie wir uns in den vergangenen Wochen mal wieder zu tun haben hinreißen lassen: Da kommt ein Edathy davon, obwohl er mit seinen Internet-Käufen Kinderschänder in ihrem Geschäft unterstützt hat. Die Taten eines Uli Hoeneß wirken dagegen fast lässlich, aber er muss teuer dafür bezahlen. Was läuft da falsch im System?

Zum Glück läuft da systemisch erstaunlich wenig falsch. Nur wir lassen uns hinreißen, nicht auf die wahre Stärke eines Systems zu schauen und zu vertrauen, das eben nicht durch Gesetze geregelt wird. Strafgesetze greifen erst, wenn das menschliche Miteinander längst nicht mehr funktioniert, und anders, als wir es uns im täglichen Denken zu glauben erlauben, ver- und gebieten die Strafgesetze im Umgang miteinander gar nichts. Es steht ja nicht im Strafgesetzbuch (StGB), dass Mord verboten ist. Es steht nur drin, was einen Mord ausmacht und wie er bestraft wird. Das StGB enthält keine Gebote im Sinne des „Du sollst …“, sondern eine Preisliste für die Abrechnung hinterher, wenn es längst zu spät ist. Natürlich hält man damit keine Gesellschaft zusammen, sonst würde ja niemand diese Straftaten begehen, wenn sie nur teuer genug wären. Uli Hoeneß‘ Steuerstraftat war aber teuer, und er hat sie trotzdem begangen, so wie viele Kriminelle es tun. Die Gesetze spielen dabei kaum eine Rolle: Was Menschen tun oder nicht tun, das bestimmt sich aus ihrer Kultur.

Was Uli Hoeneß zum Straftäter und Dieb an der Gemeinschaft hat werden lassen ist ein kultureller Fehler, oder wahrscheinlich eine ganze Reihe davon: Die Kultur, dass selbst sinnentleert große Summen von Gewinnen aus völlig unproduktiven Devisengeschäften, bei denen keinerlei Mehrwert geschaffen sondern Geld aus dem Nichts geformt wird, dass diese Gewinne als echter Gewinn, als Erfolg, als etwas Wertvolles und Richtiges verstanden werden; als etwas hart Erarbeitetes; als etwas Gutes. Dann Hoeneß‘ bis zuletzt vertretene Überzeugung, er sei ein guter Mensch, weil er schließlich gespendet habe – obwohl er das gespendete Geld vorher der Gemeinschaft gestohlen hatte, der es rechtmäßig gehörte. Die Vorstellung, einer der viel Steuern zahle habe schließlich schon so viel geleistet, so als wäre sein Lebenswerk mehr wert als das jedes anderen hart arbeitenden Menschen, weil seine Arbeitszeit offenbar teurer ist. So wird sein über Steuern zum Bau eines Krankenhauses geleisteter Beitrag wichtiger als der des Maurers, der das Haus gebaut hat, und des Arztes, der darin Verletzungen verbindet: Es ist ein kultureller Fehler, dass in dieser Gemeinschaftsleistung plötzlich einzelne nach virtuellen Zahlen in ihrem Wert herauf- und herabgesetzt werden, anstatt die Gemeinschaft für ihre gemeinsame Leistung zu feiern.

Insofern ist Uli Hoeneß Verbrechen eines gegen jene Kraft, die unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält, und dementsprechend richtig und wichtig ist es, dass er die Wehrfähigkeit dieser Gemeinschaft auch in seiner Strafe spürt.

Trotzdem wird Uli Hoeneß die ultimative Strafe dieser Gemeinschaft aller Voraussicht nach erspart bleiben. Ich war einigermaßen schockiert ob seiner Einlassung vor Gericht, er wäre kein „Sozialschmarotzer“, denn es zeigt, wie wenig Einsicht er bisher gewonnen hat. Denn natürlich ist er das. Der finanzielle Schaden, den „Karibik-Klaus“ dem Gemeinwesen zugefügt hat, war 22500 Euro. Bei Hoeneß liegt er um mehr als das tausendfache höher. Natürlich ist er ein Sozialschmarotzer, wenn er der Gemeinschaft zigmillionen Euro klaut. Aber er wird ja nicht für immer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen sein. Schon heute gibt es viele, die ohnehin bedingungslos zu ihm halten – und wütende Gegnerschaft ist er gewohnt, die wird ihn nicht schockieren (ich ganz persönlich glaube tatsächlich, dass wir den besten Uli Hoeneß erst noch erleben, anders als den besten Muhammad Ali, den ein völlig ungerechtes Urteil auf dem Höhepunkt seiner Karriere gestoppt hat).

Sebastian Edathy hingegen ist tatsächlich so etwas wie vogelfrei. Es ist richtig und wichtig, dass ein Rechtsstaat klare Grenzen ziehen muss, und es muss seinen Bürgern natürlich erlaubt sein, sich an diesen Grenzen entlang zu hangeln (wobei ich für die Zukunft finde, wir sollten einen Weg finden, den gewerblichen Handel mit Bildern nackter Kinder zu unterbinden). Aber die Gemeinschaft basiert auf Kultur, und in diese Kultur passt weder die sexuelle Ausbeutung von Kindern, noch jemand, der sich dabei nur auf technisch-formale Details herausredet und die Problematik seines Handelns nicht erkennt.

Deshalb glaube ich, dass das System funktioniert: Weil wir das unterscheiden können. Weil ich einen Uli Hoeneß mögen kann und finden, er verdient zwar seine Strafe, aber damit muss es auch gut und getan sein, während ich andere für Vergehen bestrafen kann, auch wenn es formal keine sein mögen.

Being Matussek

Die Welt-Gruppe im Axel-Springer-Verlag hat eine Aktion über das Altern gestartet. So wie Männer in Geburtsvorbereitungsgruppen falsche Schwangerschaftsbäuche umgehängt bekommen, um mal zu fühlen, wie anstrengend das Leben für ihre Partnerinnen ist, simuliert die Welt-Gruppe in einer Reihe von Kommentaren, wie es sich anfühlt, wenn man beginnt zu denken wie ein verkalkender alter Mann.

Als Großmeister des mentalen Fatsuits wurde sogar Matthias Matussek reanimiert, der eigentlich beim Spiegel schon im journalistischen Abklingbecken seinen sklerotischen Gedanken nachhing, Youtube-Filmchen drehte und zu Großem längst nicht mehr fähig schien.

Matussek hat eine einmalige Methode, vorzuführen, wie es wäre, wenn das Denkvermögen langsam aber stetig abnähme. Dazu schreibt er Kommentare, die sich anfühlen, als würde man sich Gips in die Synapsen gießen.

Nehmen wir sein neuestes Werk, ein Kommentar, in dem eine Figur „Matussek“ ihre homophobe Grundhaltung verteidigt. Sie endet in einem Crescendo aus aufsteigenden gedanklichen Blubberbläschen, so als würde Opa einfach wieder und wieder vergessen, dass er schon eine Corega-Tabs-Tablette in das Glas mit seinen Zähnen geworfen hat – und immer noch eine nachlegen.

Matussek schreibt dort

Ich lasse mir meine Gedankenfreiheit nicht nehmen, das gehört zu meinem Stolz als Publizist. Ich weiß, dass ich damit keine Beliebtheitswettbewerbe im „Grill Royal“ oder anderen Szene-Tränken gewinnen werde, aber ich habe nach wie vor Reserven, wenn ich im Fernsehen zwei schwule Männer serviert bekomme, die perfekte Eltern sind und völlig normaaaal einen kleinen Jungen adoptiert haben, oder eine andere Kleine mit ihrer Liebe beschenken, die sie sich über Leihmütter in der Ukraine oder Indien organisiert haben.

Seine Gedankenfreiheit besteht hier darin, weiterhin Gedanken zu haben, die seit Jahrhunderten Männer vor ihm hatten. Insofern darf man sie hier nicht als „Die Freiheit der Gedanken“ missverstehen, sondern muss sie wahrnehmen als „Freiheit von Gedanken“ – was er zusätzlich deutlich macht daran, dass seine „Reserven“ dann bestehen, wenn Schwule als Eltern perfekt und normal sind, obwohl sie ihre Kinder auf offenbar unnormalen Wegen bekommen, also adoptiert haben.
Das ist als Gedanke ja erst einmal nur Kritik an der Adoption, denn die schwulen Eltern beschreibt er doch als perfekt. Er meint das ironisch, aber es gibt ja hier nicht den Hauch eines Anhaltspunktes, dass sie nicht perfekt sind, außer eben der unnormalen Empfängnis, der Adoption – und die ist zunächst mal nicht homo oder hetero.*

Da blitzt sie, die Brillanz des Matussek hinter dem „Matussek“: Die Gedanken bewegen sich in engen, versandeten Gedankenbahnen, in einer Welt des Mangels, in einer Wüste – es ist das Gegenteil von der Freiheit, die wir meinen, wenn wir Gedankenfreiheit sagen. Etwas ironisch zu sagen bedeutet in der Regel, man meint etwas anderes, meist sogar das Gegenteil dessen, was man sagt – aber von Mattusseks genial parodiertem Altherrendenken existiert eben kein Gegenteil. Etwas, das normal aussieht, „normaaaaal“ zu nennen, macht es eben nicht unnormal. Aber irgendwann sind wir wahrscheinlich alle zu alt, das noch zu erkennen.**

Ich glaube nicht, dass die Ehe zwischen Männern oder Frauen gleichen Geschlechts derjenigen zwischen Mann und Frau gleichwertig ist. Punkt. Nicht, dass die Veranlagung Sünde wäre – ich glaube, der liebe Gott liebt alle seine Geschöpfe. Doch ich glaube auch an die Polarität der Schöpfung und daran, dass es für Kinder wichtig ist, diese Polarität zu erleben.

Zur Polarität kommen wir gleich, nehmen wir erst den wichtigeren Punkt, der hier aufgegriffen wird. Denn Matussek greift sich hier virtuos eine der wichtigen philosophischen Fragen, die jeder Mensch, zumindest aber jeder Gläubige im Verlauf seines Alterns zu klären hat. Denn natürlich scheitert auch ein jeder Katholik letztlich an seinem eigenen Anspruch an sich selbst, niemand ist so gut, wie er sein will. Man nennt das Leben. Man muss sich selbst unter realistischem Licht betrachten und sich vergeben können, man muss Gottes Liebe und Vergebung annehmen können. Das sollte zur Demut erziehen.

Im Verlaufe der eigenen Verkalkung erreicht der alternde Gläubige da aber oft genug einen erstaunlichen Punkt, und Matussek legt mutig seinen Finger in die Wunde: Gott liebt und verzeiht allen, der verkalkende Mann aber eigentlich nur sich selbst. Seine Lebenserfahrung, seine Haltung, seine eben nicht mehr freien Gedanken zwingen ihn, auch da zu richten, wo Gott es nicht tut. Da ist dann Homosexualität für Gott okay („Gott liebt alle“), für „Matussek“ aber minderwertig und ein Vergehen an den Kindern, denen zumindest die Polarität vorenthalten wird. Der echte Matussek verpackt den Gedanken des verkalkenden „Matussek“ dabei überragend komisch in einen Freudschen Versprecher der gendermäßigen politischen Überkorrektheit, indem er von „Männern und Frauen gleichen Geschlechts“ redet, so als würden die Kinder in einer homosexuellen Ehe mit zwei Männern unterschiedlichen Geschlechts die von ihm geforderte Polarität durchaus erleben können. Auf der Metaebene entlarvt „Matussek“ den bröckelnden Gips, der aus diesen vermeintlich freien Gedanken rieselt.

Da wirkt der Schlusssatz fast schon ein bisschen zu einfach, als ein fast zu billiges Finale, aber Matussek richtet sich an ein Massenpublikum und will sicher verstanden werden, so dass er plakativ in dem Satz endet:

Wahrscheinlich bin ich homophob wie mein Freund, und das ist auch gut so.

Mir persönlich ist das zu grell, auf den Selbsthass alternder Klemmschwestern abzuzielen, aber wenn er sein Ziel dadurch am Ende sicher trifft, soll es mir recht sein. Zwei alte Freunde, die sich ihre Liebe nie gestehen konnten …okay, irgendwie 1950er, aber was soll’s.

Der Punkt ist gemacht: Wer Homophobie so rechtfertigt wie „Matussek“, den hat Matussek nach allen Regeln der Kunst geoutet. Er hat einfach Angst vor der Welt, die er nicht mehr versteht. Und das ist irgendwie okay. Wenn Opa vom Krieg erzählen will, dann tun wir eben so, als würden wir zuhören, wenn das macht, dass er sich besser fühlt.

Sollte er allerdings nochmal Stiefel anziehen und in den Krieg ziehen wollen, müsste man ihm schon klarmachen, dass er in der Welt heut nichts mehr zu sagen hat.

*Über Katholiken und ihre Vorstellungen von Empfängnis will ich hier nicht anfangen, aber Jesus Christus hatte zwei Väter.
** Genau hier ist übrigens Harald Schmidt stehengeblieben und hat aus der besten Sendung im deutschen Fernsehen langsam aber sicher die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung der besten Sendung im deutschen Fernsehen gemacht. Ruhe sanft, alter Meister!

PS. In der ersten Fassung habe ich die Ursünde begangen und Matussek konsequent falsch geschrieben. Peimlich!

Extrem überdimensionierte Vorurteile

Nur, damit ich das einmal öffentlich klargestellt habe: Es bleiben viel zu oft Behauptungen wie diese unwidersprochen, wie sie gerade wieder (offensichtlich basierend auf einer dpa-Meldung*) Bild.de verbreitet:

Griechenland ist mit mehr als 760 000 Staatsdienern bei lediglich rund elf Millionen Einwohnern extrem überdimensioniert.

Mit „Griechenland“ ist hier der Öffentliche Dienst gemeint. Deshalb einmal zum Vergleich: Deutschland hat bei einer etwa 7,27fachen Größe 4,6 Millionen Angestellte im Öffentlichen Dienst (Griechenland hätte im Verhältnis 5,52 Millionen), aber das liegt nicht unwesentlich daran, dass in Deutschland zwischen 1991 und 1995 gut eine Million in den Statistiken gern als „Sonstige“ geführte Beschäftigte verschwunden sind, nämlich bei

Zweckverbände, Bundeseisenbahnvermögen/Deutsche Bundesbahn, Deutsche Bundespost

herausgefallen sind, weil sehr privatisiert wurde, was in Griechenland nicht passiert ist. Ansonsten wäre das „extreme“ Verhältnis heute wohl annähernd eins zu eins. Nun kann man ja gerne argumentieren, die Infrastruktur eines Landes solle privat sein (finde ich nebenbei bemerkt in der Regel nicht), aber dann sollte man kennzeichnen, dass es sich bei dem „extremen“ Verhältnis eher um das Verhältnis zur eigenen Ideologie davon handelt, wie ein Staat organisiert sein soll als – wie suggeriert wird – um eine Art objektiver Berechnung, bei der Deutschland auch noch „extrem“ viel „besser“ abschneiden würde.

Es ist ja nicht so, dass ich an der Effizienz des griechischen Staatswesens nicht viel zu kritisieren hätte, aber dieses Nachplappern von schwachsinnigen, pseudoobjektiven Kennzahlen geht mir jeden Tag mehr auf den Geist. Es ist Ideologie, schlicht und ergreifend.

Ausatmen.

*Danke Stefan für den Hinweis!

Reiche Esel: Der SPIEGEL hetzt langsam, aber dafür irre

Ich weiß, ich bin spät, aber immer noch schneller als DER SPIEGEL: Einige Wochen, nachdem eine „EZB-Studie“ einige Zahlen so vermischte, dass man daraus unter Umgehung von Konzepten wie „Realität“ hätte schließen können, dass südeuropäische Privathaushalte reicher sind als nordeuropäische, hat das Nachrichtenmagazin in der vergangenen Woche eine Titelgeschichte dazu gemacht. Unter der Titelzeile „Die Armutslüge“ saß da ein wahrscheinlich griechischer Kleinbauer auf einem Esel, vor der Sonne geschützt durch einen Schirm mit Europa-Symbolen, aus den Lastkörben des Esels wehten Euro-Noten und der Esel hatte einen schwarzen Balken über den Augen, so wie Verdächtige in Medien unkenntlich gemacht werden. Insgesamt ein Titel, der an rassistischen Anspielungen deutlich stark genug für ein NPD-Plakat gewesen wäre. Und das wie gesagt nicht nur Wochen nach der „Studie“ (die eher eine Art wilde Zahlensammlung ist und explizit nicht so gelesen werden soll oder kann, wie DER SPIEGEL tut). Auch Wochen, nachdem jedes Argument in Richtung der Lesart, die den Redakteuren offensichtlich nahegelegt wurde, längst kompetent öffentlich widerlegt wurden (elegant und sauber zum Beispiel von Jens Berger hier).

Ich möchte mich hier nur um ein Kernargument des SPIEGEL kümmern, weil ich glaube, dass diese Geschichte in voller Absicht wahrheitswidrig aufgeschrieben wurde, weil der SPIEGEL inzwischen offensichtlich verzweifelt nach irgendeiner Art von Deutungshoheit sucht (die Spiegel-Online übrigens, nur nebenbei, im Bereich der Online-Medien lässig innehat).

Also hin zu den so genannten Argumenten, die der SPIEGEL gebraucht, unterzeichnet von gleich acht Autoren. Eins der großen Probleme der „Studie“ ist, dass es die Altersversorgung extrem unterschiedlich bewertet. Meine Schwester zum Beispiel ist Lehrerin in Griechenland und verdient dort natürlich nur einen Bruchteil dessen, was eine Lehrerin in Deutschland verdient. Sie wird auch einmal nur einen Bruchteil der Rente/Pension bekommen, die sie in Deutschland bekäme. Sie sorgt also erstens privat stärker vor und zweitens haben sie und ihr Mann – wie in Südeuropa üblich – die Wohnung gekauft (in diesem Fall gebaut), in der sie wohnen. Die „Studie“ der EZB wertet sowohl die Wohnung als auch die private Vorsorge als Vermögen, die Rentenansprüche der deutschen Lehrerin aber nicht. So ist meine Schwester plötzlich vermögender als ihre deutsche Kollegin, obwohl sie Zeit ihres Lebens weniger Geld hatte und haben wird.

DER SPIEGEL findet das total richtig. Das ist natürlich schwierig zu verargumentieren, weil man dazu die Realität ausblenden muss, aber einem echten Nachrichtenmagazin, das acht Autoren an eine einzige Geschichte setzen und diese von ihren legendären Dokumentaren checken lassen kann, ist offensichtlich nichts zu schwer. So kommt also dieses Argument zustande:

Bei den Ansprüchen an die staatliche Alterskasse handelt es sich nicht um Vermögensbildung im klassischen Sinne, eher um ein Versprechen, dessen Einlösung fraglich ist.

Doch, das steht im SPIEGEL. Nochmal: In der Realität ist es gerade eher so, dass Menschen in Südeuropa mit „klassischer Vermögensbildung“ bei einer Bank Gefahr laufen, ihr Geld nicht wieder zu sehen, aber beim SPIEGEL behauptet man, Südeuropäer wären reicher als Deutsche, weil die deutsche Rentenversicherung und Pensionskassen nur ein Versprechen sind, dessen Einlösung fraglich ist? Was genau ist dann eigentlich nicht fraglich? Jedenfalls ganz offensichtlich nicht die Immobilienpreise in Südeuropa, denn den Immobilienbesitz rechnet ja DER SPIEGEL voll ein – obwohl es zum Beispiel in Athen gerade fast völlig unmöglich ist, eine Wohnung zu verkaufen.

Für mich ist fraglich, wie weit man sich als SPIEGEL-Redakteur oder -Dokumentar oder -Autor oder -Irgendwas eigentlich verbiegen muss, um unter einem rassistischen Cover eine Lügengeschichte zu basteln, deren Kernargumente so hanebüchen sind, dass es an Recherche nicht mehr bedurft hätte als ein einfaches Öffnen der Augen, um zu erkennen, was für eine alte Scheiße man da erzählen soll. Acht Autoren, unter anderem die Athen-Korrespondentin, die offensichtlich nicht widerspricht wenn man behauptet, Athener wären reicher als Hamburger? Na, danke.

Ich weiß nicht, ob das noch Mascolo zu verantworten hatte, aber meiner Meinung nach reicht es für die Rettung dieses Heftes schon längst nicht mehr, nur einen rauszuschmeißen. Wer verzweifelt zu solchen Mitteln greift, um wenigstens die Aufmerksamkeit der heimlichen Dumpfdeutschen zu wecken, der hat höchstens Verachtung verdient. Denn das es hier keinen journalistischen Antrieb gab, diese Geschichte zu schreiben, ist offensichtlich. Und eklig.