Die Worte. Der Ton.

Es gibt viele Gründe zum Heulen, wenn es um Griechenland geht. Ich habe gestern erst den ein paar Tage alten Abschiedsbrief eines Mannes von der Insel gelesen, von der die Familie meines Vaters stammt.

Ohne Arbeit, ohne Rente, ohne Zukunft für meine Kinder (unsere Kinder). […] Sie sind klein und ohne Vater. Ich habe die schönste Familie, aber mit meinen Fehlern habe ich sie zerstört.

Dann setzte er sich in ein Boot, fuhr hinüber auf eine kleine, unbewohnte Insel und machte seinem Leben ein Ende. Die Kinder müssen seine Grundstücke als Erbe ausschlagen, weil sie sich die Steuern nicht leisten können. Was soll man sagen?

Niemand will, dass das passiert. Kein Mensch, auch keiner von denen, die der Meinung sind, es sollte keine weiteren „Rettungspakete“ für Griechenland geben. Ich spreche oft und viel über diese Krise, mit Menschen, deren Solidarität mit Griechenland unerschöpflich ist genauso wie mit solchen, die glauben, „die Griechen“ wären an allem selber schuld und die Krise praktisch die Strafe für ihre Sünden. Aber selbst die wollen nicht, dass Menschen Hunger leiden; dass sie ihre Kinder weggeben müssen, weil sie sie nicht mehr ernähren können; dass sie sich umbringen vor Scham, Angst und Not. Niemand will das.

Aber die Botschaften, die über so lange Zeit gesendet wurden – die Beleidigungen in Bild, Focus, und Stern, die Bundestags-Hinterbänkler, die sich auf Kosten der Griechen wie der Wahrheit zu „Finanzexperten“ ihrer Parteien hinaufgespielt haben, bis hin zu den manchmal bizarr unreflektierten Aussagen von Regierungsmitgliedern (und das alles übrigens lange, lange Zeit bevor in Griechenland irgendein Demonstrant ein Hakenkreuz auf irgendetwas gemalt hat, es ist kein Wechselspiel, es hatte einen Anfang) – all diese Signale, das diplomatische Versagen, führt heute dazu, dass selbst echte Hilfe und echte Solidarität nicht ankommen.

Populisten in Griechenland bekommen heute Beifall für Sätze wie „Merkel ist es egal, wenn in Griechenland drei Millionen Rentner verhungern“. Und natürlich ist das unangemessen und infam, und das muss ich auch als Verteidiger Griechenlands feststellen. Aber schlimmer ist, dass selbst vernünftige Vorschläge wie eine deutsche Hilfe beim Aufbau einer funktionierenden Steuerverwaltung allein deshalb auf Widerstand stoßen, weil sie bedeuten würden, dass deutsche Beamte in Griechenland Dienst tun würden – als Berater selbstverständlich, aber eben als deutsche Beamte.

In Deutschland ständen 160 Beamte bereit, die freiwillig beim Aufbau in Griechenland helfen wollen. In Griechenland protestiert dagegen die Gewerkschaft der Steuerbeamten. Aus ihrer Sicht sicher zu recht, denn ihren Mitgliedern drohen Lohneinbußen (sie verdienen heute sehr gut) und Jobverlust, sie müssen sich deutlich fortbilden und einige, wenn nicht viele von ihnen, verlieren Geld, das sie noch irgendwie nebenbei machen, durch Korruption oder dadurch, dass sie schwarz nebenbei Leuten die Steuererklärung machen. Diese Reform ist sicher schwieriger als die bereits weit und auch erfolgreich umgesetzten z.B. bei Rente und Arbeitsmarkt, aber ohne jeden Zweifel ist sie notwendig. Sie ist ein wichtiger Teil des Weges zu einem neuen Griechenland. Und jede Hilfe sollte willkommen sein.

Wie schön wäre es, wenn die deutsche Solidarität in Griechenland glaubwürdig wäre. Wenn man den Worten glaubt, dann will die deutsche Regierung genau das, was die Demonstranten vor dem griechischen Parlament auch wollen: einen funktionierenden, transparenten, tragfähigen Staat. Deutschland könnte hier auf der richtigen Seite stehen. Aber in der Mischung aus BILD und Frank Schäffler, in der allgemeinen Hetzkampagne ist nicht nur die Fähigkeit verloren gegangen, Richtiges und Falsches, Wichtiges und Nichtiges zu unterscheiden, sondern überhaupt die Fähigkeit, so zu reden, dass man verstanden werden kann.

„Greek statistics & german diplomacy“, griechische Statistiken und deutsche Diplomatie sind zwei geflügelte Worte in der EU-Kommission in Brüssel. Beides gibt es nach Meinung der Diplomaten dort eigentlich nicht. Wenn sie zusammentreffen, muss das in der Katastrophe enden.

Ohne Zukunft für meine Kinder (unsere Kinder).

Wie gesagt, keiner in Deutschland will das. Ich glaube, es würde einen gewaltigen Unterschied bedeuten, wenn Deutschland auch noch einen Weg fände, das so zu sagen, dass es verstanden werden kann.

Die will das doch!

Ich weiß nicht, ob Angela Merkel John Lennon mag. In jedem Fall hat sie einiges mit ihm gemeinsam. In einem Interview (in diesem Youtube-Video etwa ab Minute 2:20) erklärt er seine Strategie, die angeblich auf einem alten chinesischen Buch über Kriegführung basiert*.

Der Krieg wird immer innerhalb der Burg verloren […]. Deshalb schließt man nie alle Tore. Man lässt ein Tor offen. So weiß man, wo der Feind hereinkommt – und kriegt ihn dort.

Lennon erklärt so seine Taktiken wie „lange Haare, Genitalien“ und ähnliches Zeug. Gib dem Feind einen Punkt zum angreifen und mach in der Zwischenzeit weiter mit dem, was wirklich wichtig ist.

Ich glaube, man kann mit der gleichen Taktik erklären, warum Joachim Gauck unser Bundespräsident wird. Es ist pure und (leider) brillante Taktik der Kanzlerin.

Die FDP habe Merkel erpresst und Joachim Gauck als Nun-doch-noch-Bundespräsident wäre die erste große Niederlage von Angela Merkel, ihre „größte Schmach“ gar – so in etwa liest sich die Presse zum Thema des Tages. Ich möchte dem respektvoll widersprechen.

Angela Merkel muss seit Wochen gewusst haben, spätestens seit der unseligen Mailbox-Affäre, dass ein Rücktritt Christian Wulffs möglich oder gar wahrscheinlich ist. Es wäre bizarr anzunehmen, sie hätte nie einen Gedanken daran verschwendet, dass sie danach einen neuen Kandidaten braucht.

Wenn wir uns das Ergebnis ansehen, stellen wir fest: Das Kandidatenproblem ist schnell abgeräumt worden. Es ist zur Zufriedenheit einer übergroßen Mehrheit im Land gelöst. Und es wirkt, als hätte die FDP sich zum ersten Mal seit Jahren in einem Punkt durchgesetzt, bei dem sie den größten Teil der Bevölkerung hinter sich hat. Alles das zum Preis einer Entscheidung, bei der Merkel sich nur vorwerfen lassen muss, sie wäre spät „zur Vernunft gekommen“, sie hätte erst später als andere erkannt, was richtig ist – also genau das, was sie am Beispiel Atom und am Beispiel Mindestlohn durchexerziert hat, ohne dass es ihren Popularitätswerten irgendwie geschadet hätte. Es hat ihr, im Gegenteil, wahrscheinlich eher genutzt, dass sie nicht als beratungsresistent gelten kann.

Und ich soll tatsächlich glauben, sie hätte das nicht so geplant? Pah! Sie hat einen Präsidenten, der ihrem Lager in Wahrheit näher steht als dem rot-grünen. Sie hat der FDP ein politisches Konjunkturpaket geschenkt, denn es sind noch zwei Jahre hin bis zur Wahl, also noch viel zu früh um diese Partei endgültig abzuschreiben – selbst wenn im Moment weder ein Weg noch das Personal erkennbar sind, mit dem diese sich berappen soll. Und Merkel wird am Ende wahrgenommen werden als eine, die sich nicht aus egoistischen Gründen der vernünftigen Lösung in den Weg gestellt hat. Sie hat ein Tor geöffnet für Häme, aber sie hat die Lage trotzdem unter Kontrolle behalten. Das war nicht selbstverständlich nach dem Wulff-Debakel.

*Ich war mir sicher, es ist „Die Kunst des Krieges“ von Sun Tzu, aber ich finde das Zitat da nicht. Vielleicht hat Lennon es auch einfach erfunden.

SPIEGEL-ONLINE stellt Griechen Katastrophen-Überschrift aus

Die so genannte Troika scheint – als letzte, aber immerhin – zu bemerken, dass ihr Programm für Griechenland nicht funktioniert – also das festzustellen, was außer ihr längst alle wissen (als Beispiel ein Wirtschaftsweiser vor mehr als einem halben Jahr). Das steht nun auch im Bericht des IWF: Mit diesen Programmen sind die „Sparziele“ nicht zu erreichen, weil sie zum Beispiel die Konjunktur völlig falsch prognostiziert haben (-5,5% statt real -12%).

Unter welcher Überschrift schreibt man das zusammen, wenn man möchte, dass die Schuld am Verfehlen der Sparziele als „mangelnder Sparwille“ der irgendwie schülerhaft verantwortungslosen Griechen missverstanden wird, SPIEGEL ONLINE? Genau!

Troika stellt Griechen Katastrophen-Zeugnis aus

Dabei stellt die Troika dabei sich selbst ein Katastrophen-Zeugnis aus.

The (Chicago) Boys Are Back In Town

Das Haushaltsrecht wird auch das „Königsrecht“ des Parlaments genannt. Wer fordert, es abzuschaffen, der fordert im Prinzip die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie. Aber wer würde das tun? Nun ja, unsere Regierungskoalition zum Beispiel. Nicht hier, aber in Griechenland, und damit in der Folge wohl in jedem Euro-Staat der Peripherie, der sich nicht an Spardiktate halten will oder kann. Die deutsche Bundesregierung fordert, dass die Einnahmen des griechischen Staates auf ein Sonderkonto eingezahlt werden, damit griechische Politiker nicht mehr darüber verfügen können, sondern EU-Beamte, die nie ein Grieche (oder sonst ein Europäer) gewählt hat. Dieser Vorschlag löst nicht einmal einen Aufschrei des Entsetzens unter den Demokraten in diesem Land aus. Und das ist ein Fehler, der sich rächen wird.

Nur, um es einmal nüchtern festzuhalten: Die griechische Bevölkerung schultert seit mehr als einem Jahr das härteste Sparprogramm, das je eine westliche Nation stemmen musste – für große Teile der Bevölkerung bedeutet es schlicht und einfach eine rapide Verarmung. Ich saß vor einiger Zeit in einer Diskussionsrunde mit der deutschen Arbeitsministerin, die zur Größenordnung des Pakets sagte, wenn man es in Deutschland durchsetzen wollte würde „die Straße brennen“. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung vor allem in Deutschland schultert die griechische Bevölkerung diese „Pakete“ bisher allein – die „Rettungsschirme“ sind durch Kredite und Bürgschaften unterlegt, deren Zinsen und Gebühren bisher alle pünktlich bedient wurden (im Moment ist der Saldo so, dass Griechenland einige hundert Millionen Euro an Deutschland bezahlt hat). Gleichzeitig funktioniert dieses Sparpaket nicht: die griechische Staatsverschuldung ist dadurch im Gegenteil so weit gestiegen, dass ein Stand von 120 Prozent im Verhältnis zum griechischen BIP im Jahr 2020 als wünschenswertes aber unrealistisches Ziel gilt – also ziemlich exakt der Schuldenstand, den Griechenland vor dieser Krise hatte. Das Sparpaket wird durchgesetzt von einer Regierung, die so nie vom griechischen Volk gewählt worden ist und das angeleitet wird von Mächten wie der Troika, die erst recht niemand in Griechenland oder im Rest von Europa gewählt hat. Der neueste Vorschlag dieser Mächte ist eben jenes durch „Sonderkonto“ das Haushaltsrecht. Ein griechischer Bürger hat also im Moment de facto keinerlei Einflussmöglichkeit mehr auf die Politik, die in seinem Land gemacht wird. Egal wie man es dreht und wendet, auch unabhängig von jeder Begründung – über die wir gleich noch reden werden – ist das die Abschaffung der Demokratie.

Die europäische Politik – und hier wieder hervorgehoben die deutsche bei besonderer Hervorhebung der Regierungs-Randparteien FDP und CSU – begleitet dabei alle Geschehnisse in Griechenland mit ständigen Hinweisen auf den „mangelnden Reformwillen“ der griechischen Politiker. Noch einmal: begleitend zu den härtesten Einsparungen, die je eine westliche Nation gestemmt hat. Aussagekräftiger als diese Aussagen ist dabei wahrscheinlich, was diese Politiker nicht sagen: nämlich, was sie damit meinen.

Die Reformen sind im Kern Liberalisierung und Privatisierung von öffentlichen Betrieben und Staatseigentum, hinzu kommen Entflechtung und Entbürokratisierung, die auch von der griechischen Bevölkerung schon lange gefordert werden. Aber gucken wir uns das an einem Beispiel an.

Es gibt in Griechenland das Relikt der „geschützten Berufe“, zum Beispiel die Lastwagenfahrer. Wer ein Transportunternehmen betreiben wollte, musste zu seinem Lastwagen auch eine Lizenz erwerben, und die Zahl dieser Lizenzen ist seit 1971 unverändert. Das hat denjenigen, die so eine Lizenz haben, ein sicheres Einkommen beschert, aber auch innergriechische Transporte aufgrund der mangelnden Konkurrenz extrem verteuert. Mit anderen Worten: diese Lizenzen sind wertvoll. Sie werden vererbt oder weiterverkauft und kosten offenbar bis zu 300.000 Euro. Im Zuge der geforderten Reformen soll und muss diese Praxis geändert werden, sie ist nicht tragfähig. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ein Mensch, der eine solche Lizenz erworben hat, in ihr in der Regel seine komplette Altersversorgung hat. Sie ist sein Vermögen, und sie ihm wegzunehmen ist eine Enteignung. Es erscheint unausweichlich, dass diese Enteignungen stattfinden müssen – aber in einem demokratischen Rechtsstaat steht ihm trotz allem der Weg durch die Gerichte zu, und er hat möglicherweise Anrecht auf eine Entschädigung. Das bedeutet nicht, dass die Reform nicht stattfinden kann. Aber es schließt aus, dass diese Reform so schnell geht, wie ein Herr Söder von der CSU (und diesen Namen kann man durch eine bald unendlich große Zahl an weiteren politischen Sprücheklopfern ersetzen) sich das vorstellt. Auch hier gilt: Was die Lautsprecher fordern ist nicht weniger als die Abschaffung des Rechtsstaates in einem anderen Land, ohne dass dessen Volk dabei ein Mitspracherecht zugestanden wird. Es ist die Abschaffung der Demokratie.

Bei der Wahl zum „Unwort des Jahres“ – zu dem zu recht „Döner-Morde“ gewählt wurde – erhielt ein Satz von Angela Merkel eine besondere Erwähnung, die gefordert hatte, unsere Demokratie müsse „marktkonform“ sein. Unser Grundgesetz regelt eher das Gegenteil, nämlich dass die Märkte demokratiekonform und dem Primat der Politik unterworfen sind, aber Merkels wie auch immer gewonnene Überzeugung ist offensichtlich eine andere. Und mit jedem Tag verfestigt sich der Eindruck, Griechenland – das sie am liebsten von einem externen Sparkommissar regiert sehen würde anstelle einer demokratisch gewählten Regierung – solle zu einer Art Testlauf für die marktkonforme Neuorganisation schwächerer Volkswirtschaften dienen. Man muss sich heute schon Mühe geben, um noch Unterschiede zwischen den aktuellen Ereignissen in Griechenland und der „Schockbehandlung“ Chiles durch die so genannten „Chicago Boys“ in den Siebzigerjahren zu erkennen. Beiden gemeinsam ist: Ihr Programm ist nicht demokratiekonform.

Gegen die Krise des Euro wirkt das Programm ohnehin nicht, weil es die Wurzel des Problems verleugnet. Dass der griechische Staat eindeutig reformbedürftig ist dient als einfache Projektionsfläche für das Märchen, überbordende Staatsverschuldung hätte die Krise verursacht. Das hat sie nicht, und nicht einmal Banker behaupten das. Dass Griechenland so in den Fokus gerutscht ist, ist der glückliche Zufall, den die Banken brauchten, um die Politik so lange vor sich her treiben zu können, bis alle Verluste auf Steuerzahler abgewälzt sind – auch in Ländern wie Spanien und Irland, deren Staaten vorbildlich gewirtschaftet haben und nur durch Spekulationsblasen unter die „Rettungsschirme“ getrieben wurden – die ja keinen anderen Inhalt haben, als Banken ihre Gewinne notfalls durch Steuergelder zu garantieren. Die Probleme im griechischen Staatswesen werden also erstens nicht so schnell zu lösen sein, wie die Söders sich das vorstellen (oder es sich wenigstens vorzustellen behaupten, um mal auf den Pudding hauen zu können), sondern viele Jahre brauchen – und haben ohnehin mit der aktuellen Krise wenig bis nichts zu tun. Aber das schlimmste ist: Selbst wenn sie allein Schuld wären, rechtfertigte das nicht die Abschaffung der Demokratie, wie wir sie hier erleben. So weichgeklopft durch die Fabelgeschichten der Presse, dass nicht einmal mehr ein Aufschrei durch das Land geht, wenn unsere Politiker die Abschaffung von Grundrechten fordern – das ist nicht nur eine Schande, es ist auch gefährlich. Für uns alle.