Mein letzter Text zu den Piraten

Die Piraten haben also den Beweis angetreten, dass sie inhaltlich arbeiten können und sich mit den „Bochumer Beschlüssen“ eine Art Grundsatzprogramm vervollständigt.

Partei-Grundsatzprogramme bestehen rein rhetorisch oft aus viel heißer Luft, nicht nur bei den Piraten, wirklich füllen kann sie eine Partei nur durch konkrete politische Arbeit, das kann man den Piraten kaum anlasten. Aber ich würde mich gern ein bisschen mit dem beschäftigen, was da konkret beschlossen wurde.

Als oller Sozi nehme ich einmal stellvertretend den Bereich „Arbeit und Mensch“ aus den Bochumer Beschlüssen. Und ich kann vorweg schonmal sagen, dass ich schockiert bin, richtig tief schockiert, nicht allein ob der bizarren handwerklichen Qualität der Beschlüsse, sondern auch wegen der Inhalte. Aber gucken wir uns den Abschnitt kurz in seiner Gesamtheit an.

Arbeit und Mensch

Arbeit ist für uns nicht nur eine handelbare Ware, sondern immer auch die persönliche Leistung eines Menschen. Es ist daher ein Gebot der Menschenwürde, dass jeder Mensch frei entscheiden kann, welchen Beruf er ausüben will und welche Arbeit er an- nehmen will, aber auch, dass diese Leistung entsprechend gewürdigt wird.

Die technologische Entwicklung ermöglicht es, dass nicht mehr jede monotone, wenig sinnstiftende oder sogar gefährliche Aufgabe von Menschenhand erledigt werden muss. Wir sehen dies als großen Fortschritt, den wir begrüßen und weiter vorantreiben wollen. Daher betrachten wir das Streben nach absoluter Vollbeschäftigung als weder zeitgemäß noch sozial wünschenswert. Stattdessen wollen wir uns dafür einsetzen, dass alle Menschen gerecht am Gesamtwohlstand beteiligt werden und werden dazu die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens prüfen.

Und nun der Reihe nach:

Arbeit ist für uns nicht nur eine handelbare Ware, sondern immer auch die persönliche Leistung eines Menschen.

Fasse ich das richtig zusammen als „Arbeit ist mehr wert als nur das Geld, das man dafür bekommt“? Merken wir uns das kurz.

Es ist daher ein Gebot der Menschenwürde, dass jeder Mensch frei entscheiden kann, welchen Beruf er ausüben will und welche Arbeit er annehmen will, aber auch, dass diese Leistung entsprechend gewürdigt wird.

Ich meine, das kann man im Gesamtkontext nur so verstehen: Menschen sollten keine Arbeit annehmen müssen, die sie nicht ausführen wollen. Der falsche Bezug bei der Leistung (gemeint ist wohl „ihre Leistung“ nicht „diese Leistung“, die im Annehmen der Arbeit bestände, die man annehmen will) überdeckt wahrscheinlich die Forderung, dass Arbeit leistungsgerecht entlohnt werden soll? Da sich die Piraten nicht grundsätzlich vom Kapitalismus verabschieden nehme ich an, sie meinen auch hier vor allem, dass Menschen nicht durch materiellen Druck zu unangenehmen Arbeiten gezwungen werden sollen? Sondern dass diejenigen wenig sinnstiftenden, monotonen und gefährlichen Arbeiten, die noch keine Maschine übernehmen kann, dann wenigstens besonders gut bezahlt werden sollen? Das wäre eine kongruente Haltung – irgendwie gefühlt jedenfalls –, aber es steht da nicht. Da steht, dass jeder arbeiten soll, was er will, und das soll „entsprechend“ gewürdigt werden. Zusammen mit dem ersten Satz, der klarstellt, dass Arbeit mehr ist als eine bezahlte Ware, könnte die entsprechende Würdigung dann auch sein zu sagen: „Du machst das doch eh so gerne, das bezahlen wir nicht?“ Oder eine staatliche Stelle, die morgens einen Abgesandten an die S-Bahn stellt, der sich bei den zur Arbeit eilenden für ihr Engagement bedankt? Ich weiß es nicht.

Die technologische Entwicklung ermöglicht es, dass nicht mehr jede monotone, wenig sinnstiftende oder sogar gefährliche Aufgabe von Menschenhand erledigt werden muss. Wir sehen dies als großen Fortschritt, den wir begrüßen und weiter vorantreiben wollen.

Das gilt spätestens seit der Erfindung des Rasenmähers. Oder so. Mehr heiße Luft geht nicht, aber richtig böse wird es erst jetzt.

Daher betrachten wir das Streben nach absoluter Vollbeschäftigung als weder zeitgemäß noch sozial wünschenswert.

Wie bitte? Das Streben nach Vollbeschäftigung ist sozial nicht wünschenswert? Das Streben? Das ist ja nun totaler Unfug. Wahrscheinlich ist gemeint, der Zustand der Vollbeschäftigung selbst wäre nicht wünschenswert (was auch immer an „absoluter Vollbeschäftigung“ noch absolut voller als voll sein soll).

Ich nehme an, hier ist mit Vollbeschäftigung nur die landläufige, engere Definition gemeint, nämlich der Produktionsfaktor Arbeit – also der Zustand, in dem jeder Arbeitswillige auch Arbeit hat. Das finden Piraten sozial nicht wünschenswert? Oder missverstehen sie die Definition von Vollbeschäftigung und meinen eigentlich, es solle nicht jeder arbeiten müssen, weil das … was auch immer? Weil manche eben was Besseres zu tun haben? Ich entferne mich hier vom Text der nur sagt, „das Streben nach Vollbeschäftigung“ sei unzeitgemäß und nicht sozial wünschenswert, aber ergibt das einen Sinn? Ich kann die Partei in beiden Fällen nicht wählen, denn ich finde sowohl das Streben nach Vollbeschäftigung als auch die Vollbeschäftigung als solche sehr wünschenswert, gerade auch sozial, aber wer formuliert denn diesen Quatsch? Der Schwarm? Arbeitsgruppen? Der Parteitag? Und das wird dann so verabschiedet? Puh.

Stattdessen wollen wir uns dafür einsetzen, dass alle Menschen gerecht am Gesamtwohlstand beteiligt werden und werden dazu die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens prüfen.

Statt Arbeit lieber ein ordentliches Bedingungsloses Grundeinkommen. Steht da wirklich: Stattdessen. Es ist das Streben danach, strukturelle Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sozial nicht wünschenswert, stattdessen soll lieber jeder „gerecht am Gesamtwohlstand beteiligt werden“ – nicht dadurch, dass er die gerechte Chance erhält, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern offensichtlich einfach durch Geld. Die Arbeit des Menschen ist – wir haben uns das oben gemerkt – mehr als nur handelbare Ware, offensichtlich deshalb, weil es nach Ansicht der Piraten sowieso nicht genug davon gibt, und deshalb wird sie rationiert: Es ist nicht zeitgemäß und wünschenswert, dass alle arbeiten, deshalb werden einige fürs Nichtstun bezahlt.

Das ganz Merkwürdige bei den Piraten ist für mich, dass bei mir das Gefühl bleibt, das können sie gar nicht gemeint haben. Das muss ihnen so durchgerutscht sein, sie wollten etwas ganz anderes sagen. Sie können vielleicht einfach nicht so gut Beschlüsse formulieren. Aber dafür steckt da zu viel Arbeit drin, zu viele Stunden und Augenpaare und Gedanken und was auch sonst noch. Das ist so verabschiedet und veröffentlicht – das gilt. Und für mich sind die Piraten damit nicht nur unwählbar, sondern ein echter politischer Feind. Ich bin dieser Partei von Ferne mit einiger manchmal schmunzelnder Sympathie begegnet. Ich fand sogar das Chaos eine ganze Weile lang okay. Aber wer behauptet, Arbeit sei mehr als nur das Geld, das man dabei verdient, um gleichzeitig zu sagen, Vollbeschäftigung sei nicht zeitgemäß und sozial erwünscht, weil die Leute schließlich auch ein irgendwie benamstes Arbeitslosengeld bekommen und dann machen können, was sie wollen – der hat mit der Realität von Menschen keinen Kontakt mehr. Ich empfinde es als zynisch, einem Langzeit-Arbeitslosen mitzuteilen, er solle doch einfach ein bisschen mehr Lebenskünstler sein, ein bisschen mehr wie Johannes Ponader, das sei jetzt sozial so erwünscht und zeitgemäß.

Ich glaube, dass sich die Würde eines Menschen auch über seine Arbeit definiert, darüber, dass er sein Leben mit seiner Arbeit fristen kann. Ich halte Vollbeschäftigung für ein extrem soziales und legitimes Ziel. Aber was weiß ich schon, ich halte es ja auch für vernünftig, dass ein Bundesparteitag in der Lage ist, ordentliche Beschlüsse zu Problemen zu fassen, die dieses Land wirklich hat, die seine Bewohner wirklich haben – und sich nicht mit Zeitreisen abzukaspern.

Das sieht Johannes Ponader anders, der auf Twitter wieder die Medien dafür verantwortlich macht, dass nicht jeder bejubelt, was die Piraten da beschlossen haben.

Medien, die uns für Zeitreisen schelten und gleichzeitig Machtpolitik & Hierarchisierung als Professionalisierung loben. Finde den Fehler.

Ich sag mal so: Ich finde den Fehler.

Wenn Obama Europäer wäre

Die Rede, mit der Barack Obama seine Wiederwahl als US-Präsident akzeptierte, steigert sich in den letzten anderthalb Minuten in einem Crescendo über dem Applaus seiner Anhänger in eine Ode an die Stärke Amerikas, an die Großartigkeit der Union, die Vielfalt, die Einzigartigkeit jedes Einzelnen.

I believe we can keep the promise of our founders, the idea that if you’re willing to work hard, it doesn’t matter who you are or where you come from or what you look like or where you love. It doesn’t matter whether you’re black or white or Hispanic or Asian or Native American or young or old or rich or poor, able, disabled, gay or straight, you can make it here in America if you’re willing to try.
I believe we can seize this future together because we are not as divided as our politics suggests. We’re not as cynical as the pundits believe. We are greater than the sum of our individual ambitions, and we remain more than a collection of red states and blue states. We are and forever will be the United States of America.

Es fällt schwer, diese Rede zu hören und nicht einfach auf der Stelle in diese Vereinigten Staaten auswandern zu wollen. Der Mann ist wahrscheinlich der größte Rhetoriker unserer Zeit. So fällt erst auf den zweiten Blick auf, dass alles das, was er anspricht, um uns herum, in Europa, besser ist – abgesehen von diesem einzigartigen Spirit, diesem amerikanischen Geist, der aus jeder seiner Zeilen aufsteigt und den Zuhörer unwiderstehlich in die Höhe zieht. Diese Rede ist auch deshalb so bemerkenswert, weil wir sonst eben keine Führungspersönlichkeiten erleben – politisch oder sonstwo – die derart virtuos Emotionen auslösen und mit ihnen umgehen können, ohne dabei negativ zu werden. Obama hält eine Bierzelt-Rede, ohne dabei einen Gegner zu benötigen. Er macht niemanden nieder. Alle Emotion, alle Kraft kommt aus ihm selbst. Es ist eine durch und durch positive Rede. Es wird nicht geschimpft, sich nicht empört, sie zieht keine vermeintliche Größe aus dem Sich-erheben über andere. Sie ist ganz allein groß, weil sie auf einer großen Idee basiert.

Es fällt manchmal auch chwer zu glauben, dass diese Idee bescheiden ausfällt im Verhältnis zur europäischen Idee. Verschiedene Völker und Lebensentwürfe, die friedlich zusammenleben? In Wohlstand? Wenn wir uns vor Augen führen, dass wir dabei in jüngerer Vergangenheit Weltkriege und den Zusammenbruch des Kommunismus überstanden haben, nebenbei viele Flüchtlinge aus aller Welt aufgenommen, verschiedene (Staats-)Religionen miteinander versöhnt und auch noch David Hasselhoff durchgefüttert haben, trotzdem in der Regel medizinische Versorgung und Bildungseinrichtungen geschaffen und eine einmalige kulturelle Vielfalt bewahrt haben, dann fragt man sich, was ein begnadeter Rhetoriker wie Obama im Dienst der Vereinigten Staaten von Europa wohl auslösen könnte. Was wäre, wenn dieser in jeder Hinsicht reiche, unvorstellbar schöne Kontinent eine echte Einheit bilden würde?

Vielleicht ist der amerikanische Traum, wie Obama ihn formuliert, nicht besonders anspruchsvoll:

We want our kids to grow up in a country where they have access to the best schools and the best teachers.
A country that lives up to its legacy as the global leader in technology and discovery and innovation, with all the good jobs and new businesses that follow.
We want our children to live in an America that isn’t burdened by debt, that isn’t weakened by inequality, that isn’t threatened by the destructive power of a warming planet.

Diese Ziele sind wahrscheinlich für den durchschnittlichen Europäer näher als für Amerikaner – jedenfalls in Nicht-Krisen-Zeiten. Wir sind reicher, besser gebildet, haben weniger Schulden, bessere Infrastruktur und spielen die interessantere Version von Fußball. Aber wenn es uns besser geht als ihnen, dann sollte doch die europäische Idee, die unter widrigeren Umständen so viel mehr Fortschritt, Wohlstand und Frieden gebracht hat, doch eigentlich noch mehr Begeisterung auslösen. Stattdessen scheint es, als würden mehr und mehr Menschen dieses Europa für überholt und die Rückkehr zum Nationalstaat für wünschenswert oder zumindest für unausweichlich halten.

This country has more wealth than any nation, but that’s not what makes us rich. We have the most powerful military in history, but that’s not what makes us strong. Our university, our culture are all the envy of the world, but that’s not what keeps the world coming to our shores.
What makes America exceptional are the bonds that hold together the most diverse nation on earth.
The belief that our destiny is shared; that this country only works when we accept certain obligations to one another and to future generations. The freedom which so many Americans have fought for and died for come with responsibilities as well as rights. And among those are love and charity and duty and patriotism. That’s what makes America great.

Der Gedanke ist so messerscharf wie schön: Es ist nicht, wie man es sonst hört, die Vielfalt als solche, die Amerikas Kraft ausmacht. Es ist das Band, das die Vielfalt zusammenhält. Der Glaube an ein geteiltes Schicksal. Ich glaube, das zeigt im Umkehrschluss die Schwäche unseres heutigen Europas: Der Glaube, man könne das alles letztlich besser allein, als Nation, ohne diese und jene gerade schwache Nation, ohne diese oder jene drückend starke.

Henry Kissinger hat einmal gesagt, er weiß nicht, wen er anrufen soll, wenn er Europa sprechen möchte. Das ist ein Problem, natürlich, aber es wäre lösbar – wenn Europa wüsste, was es überhaupt sagen will.