Hochhuth nach dem Fall

Der Dramatiker Rolf Hochhuth hat nicht nur eine Verfassungsklage wegen der Hilfen für Griechenland und wegen des EU-Rettungsschirmes angestrengt, er hat auch eine schlüssige Erklärung für die griechische Finanzkrise:

Warum sollen wir den griechischen Betrugsbankrott abfangen helfen? Seit Odysseus weiß die Welt, die Griechen sind die bedeutendsten aller Schlitzohren!

Nun ist es leider so: Die schwersten Fälle von Korruption, die es in Griechenland gab, verantwortet die deutsche Firma Siemens. Insofern wird wohl auch Herr Hochhuth damit scheitern, irgendein Problem der Welt einfach mit Rassismus zu lösen. Weil einfach einfach manchmal zu einfach ist.

Volkers Stimme

Es heißt, Politiker könnten viel reden, ohne etwas zu sagen, aber es geht auch anders herum: Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag und damit ein mächtiger Mann in diesem Land, ist sich nicht zu schade, das bürgerliche Profil der Union durch ein paar, wie nenne ich es jetzt, homosexualitätsskeptische Sätze zu schärfen. In der Berliner Zeitung sagte er:

Ich glaube nicht, dass Kinder sich wünschen, in einer homosexuellen Partnerschaft aufzuwachsen.

Nun ist es so, dass sich die Welt im Sinne von „die Realität“ im Sinne von „das, was es wirklich gibt“, nicht danach richtet, was Volker Kauder glaubt. Studien, die sich mehr mit dieser Realität beschäftigen als mit Kauders Innenleben, belegen sogar eher das Gegenteil von dem, was er für richtig hält.

Aber mein Problem mit Kauders Aussage ist ein viel grundsätzlicheres, als dass er offensichtlich die Realität nicht kennt, über die er spricht. Es ist die Tatsache, dass er darüber spricht, wie er spricht, obwohl er weiß, dass er Unrecht hat. „Ich glaube, dass“ ist nicht der Anfang eines Satzes, mit dem eine Regierungsentscheidung über die Lebensrealität von Bürgern eines Landes begründet werden soll. „Ich glaube“ bezieht sich auf eine persönliche, ethisch-moralische Entscheidung, etwas, von dem ich nicht wissen kann, ob es richtig oder falsch ist – mit anderen Worten etwas, über das ich keine aussagekräftigen Studien machen kann. Wenn Kauder sagt, er glaube nicht, dass Kinder sich das wünschen, sagt er in Wahrheit, er findet es falsch, wenn Kinder von homosexuellen Partnern großgezogen werden – obwohl die Studien belegen, dass es den Kindern dabei gut geht. Um aus einer Studie zu zitieren, die die damalige Familienministerin Zypries vor anderthalb Jahren vorgestellt hat:

Jungen und Mädchen, die bei zwei Männern oder Frauen leben, finden ihre herkömmlichen Geschlechterrollen sehr wohl. „Im Vergleich zu anderen Kindern verhalten sie sich sogar jungen- und mädchenhafter“, sagt Marina Rupp vom Institut für Familienforschung der Universität Bamberg, wo die Studie in dreijähriger Arbeit erstellt wurde. Darüber hinaus zeichnet diese Kinder ein signifikant höheres Selbstwertgefühl aus als Kinder in normalen Partnerschaften.

Kauder stellt das, was er glaubt und für ethisch-moralisch richtig hält, über das, was in der Realität beobachtet werden kann. Das ist, wie Al Gore es beschrieben hat, ein Angriff auf die Vernunft. Aber damit nicht genug, er begründet seine, wie nenne ich es, homophobe Haltung entgegen aller Erkenntnisse mit dem Kindeswohl – und das ist schäbig.

Ich glaube, Volker Kauder sollte noch einmal in sich gehen und versuchen, den Mut zu finden, den es braucht, um mit einer Welt umzugehen, in der nicht alle sind wie er.

Minister des Äußersten

Guido Westerwelle hat sich leider inzwischen bis zur Unkenntlichkeit entblößt, insofern ist es schade, aber nicht verwunderlich, dass von seinem Interview in der Bild am Sonntag nur die hoffnungsreiche Behauptung zitiert wird, er verlasse das Deck nicht, wenn es stürmt. Er wird wahrscheinlich noch feststellen, dass es bei Aufrechterhaltung einer solchen Ansage nicht nur auf ihn, sondern auch auf den Sturm ankommt. Aber das ist längst schon egal. Viel entlarvender ist, wie wenig von diesem Außenminister zur deutschen Außenpolitik zu hören ist, und wie sehr das Wenige geprägt ist von der politischen Kultur, die der Vizekanzler selbst in diese Regierung getragen hat.

In der zweiten Hälfte des Interviews, als er endlich über die Welt da draußen sprechen kann, entspinnt sich ein bemerkenswerter Gedankengang.

Frage: Alt-Kanzler Helmut Schmidt sagt voraus, Deutschland werde die Rettung des Euro mit viel Geld und dem Verlust an Souveränität bezahlen. Glauben Sie, dass die Bürger dazu bereit sein werden?

Westerwelle: Ich denke nicht, dass uns Europa oder der Schutz unserer Währung mehr Geld kosten, als uns die EU bringt. Wir Deutsche exportieren immer noch mehr in die Niederlande als nach China, mehr nach Frankreich als in die USA und mehr nach Belgien als nach Indien. Ein Viertel bis ein Drittel unserer Arbeitsplätze hängt direkt von unserer Vernetzung in Europa ab.

Steht wirklich Europa auf dem Spiel?

Nein. Europa ist stark als Friedensunion und als Wohlstandsversicherung in Zeiten der Globalisierung. Auch Deutschland als stärkste Volkswirtschaft in Europa ist heute nicht mehr in der Lage, allein gegen aufstrebende Volkswirtschaften mit mehr als einer Milliarde Menschen zu bestehen.

Die Preisfrage lautet jetzt wohl: Wie steht das offizielle Deutschland zu Europa? Und warum? Sind wir dafür, so lange wir weiterhin mehr daran verdienen, als es uns kostet? Und, so schön eine Friedensunion und eine Wohlstandsversicherung auch sind – und so schön ich es als halber Grieche auch finde, dass er mal darauf hinweist, dass es so ist –, ist das jetzt seine ganze Idee von Europa? Oder nur der Teil der Idee, den er für verkäuflich hält? Oder, wörtlich genommen, sind die anderen Gesichtspunkte, unter denen man Europa sehen kann, einfach zu schwach? Könnte man sagen, Europa ist stark als Friedensunion und Wohlstandsversicherung, aber schwach als Kulturraum? Und was genau ist nun eigentlich die deutsche Außenpolitik?

Guido Westerwelle hat es in sehr schnellem Tempo geschafft, seine eigene Karriere und den Höhenflug seiner Partei zu zertrümmern, und es ist mir egal. Aber wie kann es sein, dass nach einem guten Jahr seiner Regierungszeit die Welt aus der deutschen Sicht plötzlich nur noch ein Ort ist, an dem alle anderen Nationen entweder unser Geld wollen oder Brutstätten sind für Terroristen, unsichere Flughäfen, Einwandererströme und Angriffe auf unsere Währung? Seien wir so ehrlich: Das Wort Europa hat in den Köpfen deutscher Steuerzahler inzwischen einen negativen Nachhall. Und es steht zu befürchten, das Wort Deutschland hat es in den Köpfen der anderen Europäer inzwischen auch. Das ist die Bilanz des ersten Jahres Außenpolitik von Merkel und Westerwelle. Als Außenminister ist er unser lächelndes Gesicht in der Welt, unsere ausgestreckte Hand, er ist derjenige, der für uns Kontakte pflegt, der „netzwerkt“. Aber wenn wir mit irgendeinem Land heute besser befreundet sein sollten als vor 18 Monaten, dann ist das gut vor uns verborgen worden. Hätte er, der aus der Partei der Freunde des Marktes kommt, diese Jahresbilanz als neuer Repräsentant einer Firma, dann hätte er die Probezeit wohl nicht überstanden.

Außenminister sind in Deutschland traditionell beliebt, aber sie sind es nicht automatisch. Selbst der besonders zu Beginn seiner Amtszeit unfassbar dröge wirkende Frank-Walter Steinmeier kam beim Volk gut weg, aber eben, weil er diesen Job ordentlich machte, der daraus besteht, unsere Freundschaften zu pflegen und unsere Feindschaften so auszutarieren, dass sie uns nicht gefährlich werden – und dabei die Welt in einer Weise beeinflussen, die gut für uns ist. Und es ist ein Job, den jeder von uns versteht, weil wir ihn alle selber machen, ob wir nun mit uns mehr oder weniger freundlich gesinnten Kollegen, Behörden oder Lehrern unserer Kinder umgehen müssen. Diplomatie ist uns allen immanent. Aber offensichtlich weiß das der Außenminister nicht.

Westerwelle hat sein Amt von Anfang an umgedeutet. Er sah Außenpolitik als Wirtschaftspolitik im „wohlverstandenen deutschen Interesse“, und ließ das auch so transportieren. Wenn er eine andere Medienstrategie hatte als die, möglichst viel Zählbares mitzubringen, dann ist sie schiefgegangen. Aber wahrscheinlicher ist, dass da im Laufe der Zeit ganz einfach die Natur des Politikers Westerwelle durchgebrochen ist, und dass die Mosaiksteine ein wahres Bild ergeben. So ist er eben, und daran ist nicht viel falsch außer der Tatsache, dass es nicht dem entspricht, was wir unter der Kunst verstehen, mit der Welt in Kontakt zu treten. Dass Westerwelle deutsche Interessen vertritt, ist richtig und wichtig. Dass er zur Betonung seiner Leistung darauf bestanden hat, es so zu kommunizieren, ist die schlimmste Grube, die er sich graben konnte.

Menschen wollen, wenn sie mit anderen Menschen in Kontakt treten, nicht einfach ihre Interessen durchsetzen. Wir wollen Freunde, wir wollen Sicherheit, wir wollen einen Platz in der Welt, und der ist ja nur zu definieren über Abgrenzung oder Zugehörigkeit. Bis vor zwanzig Jahren war die Welt aufgeteilt in zwei Lager, und unser Außenminister sorgte dafür, dass wir ein wichtiges und geachtetes Mitglied in unserem Team waren. Heute fühlen wir uns als ein Spieler in einem großen Wettkampf jeder gegen jeden. Und das liegt nicht nur an der Welt, sondern auch an denen, die sie uns erklären. Auftritt Westerwelle:

Die Stärke Deutschlands in der Welt, sie hängt nämlich nicht zuerst von unseren militärischen Fähigkeiten ab oder der Stärke unserer Streitkräfte. Das alles ist auch wichtig. Die wirtschaftliche Stärke Deutschlands ist das wesentliche Fundament unseres Einflusses und unserer Möglichkeiten in der Welt. Die Stärke und das Ansehen Deutschlands in der Welt beruht eben nicht zuerst auf militärischen Kapazitäten, sondern zu aller erst auf diplomatischer Klugheit, auf mitmenschlicher Verantwortung und auf unserer wirtschaftlichen Kraft. Das zusammengenommen macht unsere politische und moralische Autorität in der Welt aus. Und deswegen ist es mir auch ein sehr persönliches Anliegen, dass auch die Außenpolitik ihren Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes leistet.

Das ist alles nicht falsch, aber es hat diese merkwürdige, westerwellsche Färbung, die klingt, als würden wir die Welt zunächst als eine Mine sehen, die es auszubeuten gilt – und als wäre der Nichteinsatz militärischer Mittel dabei eher eine Folge von Schläue als von friedlicher Haltung. Ich kann letztlich nicht beurteilen, ob Westerwelle so flach ist, oder ob er glaubt, dieses Bild von sich zeichnen zu müssen, um seinen besonderen Stil in der Außenpolitik herauszustellen – im Ergebnis wird er jedenfalls von einem Großteil der Bürger des Landes, das er in der Welt vertritt, ziemlich herzlich verachtet.

Es ist mir, wie gesagt, egal ob Westerwelle Chef der FDP bleibt, oder ob diesen Posten im Frühjahr eins der anderen sieben oder acht verbliebenen Parteimitglieder übernimmt. Aber ich glaube, er kann sein Ansehen und Erbe nur über sein wirklich wichtiges Amt retten, und das, indem er deutsche Außenpolitik wieder zu dem macht, was sie einmal war – und uns wieder zu denen, die wir in der Welt sein wollen. Sein Thema liegt vor ihm: Er könnte der Außenminister sein, der die Deutschen mit Europa versöhnt und Europa mit Deutschland. Unumgänglich ist eine echte europäische Einigung ohnehin. Aber sie könnte auch großartig sein. Ein Politiker müsste sich glücklich schätzen, in solchen Zeiten zu leben. Allerdings heißt das auch: Wenn er es nicht hinbekommt, dann liegt es wirklich nur an ihm selbst.

Heute ein Strunz

Seit zwei Wochen ist Claus Strunz, Chefredakteur des im Prinzip altehrwürdigen Hamburger Abendblattes, nun mit einer Fan-Seite auf Facebook vertreten. Strunz hat sich seit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren unter anderem durch weit reichende Ankündigungen Aufmerksamkeit verschafft – besonders berüchtigt ist dabei sein Plan, aus dem Abendblatt ein „Abendblatt 3.0“ zu machen, wobei nie ganz klar war, was darunter eigentlich genau zu verstehen ist. Im Moment ist die Zeitung – immerhin Hamburgs größte und wichtigste, was angesichts der Konkurrenz allerdings noch nicht viel aussagt – geschlagen mit einem Online-Auftritt, bei dem man die meisten Inhalte über Google-News lesen muss, weil der Verlag etwas davor geschaltet hat, dass er „Bezahlschranke“ nennt. Sie funktioniert genau wie eine Schranke auf einer grünen Wiese, über die ein Trampelpfad läuft: Man muss schon sehr faul sein, um nicht einfach drumherum zu laufen, aber gerade noch nicht faul genug, um einfach wieder nach Hause zu gehen. Vielleicht steht „Abendblatt 3.0“ auch einfach für die angepeilte Zahl der Online-Abonnenten?

Claus Strunz hat also eine Seite auf Facebook, die aktuell 422 Personen gefällt, und postet dort Gedanken und kleine Begebenheiten rund um sein Dasein als Chefredakteur der wichtigsten Zeitung in Hamburg. Und im Prinzip bin ich begeistert von der Idee. Ich habe es inzwischen wahrscheinlich zu oft gesagt, aber ich bin der Meinung, dass Journalisten nicht nur für die Öffentlichkeit arbeiten sollten, sondern auch öffentlich – das heißt sichtbar, erreichbar und als Menschen, nicht (nur) als Teil von Organisationen und Institutionen. Und „The Facebook“, wie George W. Bush es nennt, ist ein sensationell einfacher Weg dahin. Rein technisch gesehen ist Strunz‘ Facebook-Fan-Seite ein richtiger Schritt. Und er ist, so weit ich das weiß, der erste deutsche Chefredakteur, der ihn macht.

Auf der Seite schreibt Strunz über das, was Tolles beim Abendblatt passiert (ein Reporter hat einen Preis gewonnen, das „Zukunftslabor entwickelt eine 1A-iPad-App), stellt die Art Fragen, die sonst Moderatoren in Foren stellen, um eine Diskussion in Gang zu bringen (Ist Assange ein Held oder ein Verbrecher? Ist Ole von Beust im Hamburger Wahlkampf eine Hilfe oder eine Belastung für die CDU?), spricht über Fußball (vor allem darüber, dass er schon vor Wochen gesagt hat, Dortmund wird Meister. Außerdem ist er Fan von irgendeinem der überflüssigen Vereine rund um Platz 14) und streut hin und wieder eine Anekdote ein („Hans-Werner Kilz hat gesagt …“). Fast jeder seiner Beiträge generiert ein paar Kommentare, die meistdiskutierten etwa ein Dutzend, was ich in dieser frühen Phase des Experimentes eine achtbare Größenordnung finde, vor allem, weil wir von der Online-Plattform eines Chefredakteurs reden, dessen Online-Publikation sehr viel dafür tut, möglichst keine Leser zu haben. Für Strunz‘ Facebook-Seite gilt schließlich: Da muss man erstmal drauf kommen.

Man muss wahrscheinlich sagen, die Fan-Seite von Claus Strunz ist nicht unbedingt von Inhalten getrieben. Was bisher dort preisgegeben wird, ist banal bis egal. Die Einblicke in die Person des Chefredakteurs oder die besondere Arbeitsweise des Abendblattes, so es die denn gibt, sind bisher nichtig. Und ein ganz großer Humorist ist in den Statusmeldungen bisher auch nicht zu erkennen. Die Debatten, die dort geführt werden, bewegen sich sehr nah an der Nullschwelle der Relevanz, auch deshalb, weil Strunz sich in Debatten nicht einschaltet und außerhalb seiner Leitartikel, zu denen er verlinkt, bei fußballfremden Themen auch keine eigene Meinung durchscheinen lässt – abgesehen davon, dass er ein Anti-Hamburger-Grünen-Plakat der Jungen Union Paderborn abbildet, obwohl die Relevanz der Jungen Union Paderborn in einem Hamburger Wahlkampf dann doch eher zweifelhaft ist. Bisher muss man festhalten, die Leistung des Chefredakteurs auf Facebook besteht praktisch ausschließlich darin, dass es ihn gibt.

Das ist schade. Es deckt sich bisher mit dem Eindruck, den der ungemein selbstbewusst wirkende Strunz bisher bei mir ohnehin hinterlässt: Er ist eine Ankündigungsmaschine, der pausenlos die Bedeutung des Abendblattes zu einer der wichtigsten Zeitungen Deutschlands hochrechnet und es verstanden hat, in der hausinternen Innovationskultur des Axel-Springer-Verlages den Eindruck zu erwecken, er schwämme vorne mit. Das ist für ihn besonders schwierig, weil er vom Chefredakteur der riesigen Bild am Sonntag zum Abendblatt-Chef degradiert wurde. Vor diesem Hintergrund tut er offenbar, was für seine Karriere richtig ist, und das mit einiger Kreativität. Ich möchte das als Leistung nicht schlecht reden. Aber wenn man den Schritt hin zu mehr Offenheit gegenüber dem Leser inhaltlich bewerten will, muss man den Schritt, den er getan hat, mit dem vergleichen, was nötig wäre. Oder gar dem was möglich wäre.

Gerade für die Leser einer Lokalzeitung wäre es ein immenser Vorteil, wenn „seine“ Journalisten für ihn erreichbar, ansprechbar und im weiteren Sinne auch kennenlernbar wären. Natürlich nicht nur die Chefredakteure. Erstes Ziel einer Offensive wie der von Strunz zugunsten der Leser müsste sein, dass er mit seinem Schritt eine Kultur einläuten würde, die dazu führt, dass bald alle Abendblatt-Redakteure mit ihren Lesern kommunizieren könnten, es müssten und im besten Fall – weil das Vorbild so gut funktioniert, oder weil sie die Zeichen der Zeit erkannt haben – auch wollten. Aber das Zauberwort ist hier schon eingeführt: Es bräuchte einen Wechsel der Kultur. Und der ist nicht einmal bei Strunz‘ eigenem Versuch sichtbar. Im Gegenteil: Was er tut, ist in Wahrheit das Gegenteil davon – er zementiert mit seiner Selbstdarstellung die falsche Selbstwahrnehmung von sich selbst als über die Masse erhobener Persönlichkeit. Dem Mediendienst Meedia sagte er zu seinen Beweggründen:

„Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, bei Facebook als Privatperson aufzutreten. Wenn ich ein privates Profil habe, bin ich im eigentlichen Sinne nicht öffentlich, sondern nur für meine Freunde zugänglich. Als Chefredakteur des Hamburger Abendblatts bin ich aber bis zu einem bestimmten Grad eine Person öffentlichen Interesses. Als solche berichte ich auf dieser Seite über meine Arbeit und stelle meine Meinung zur Diskussion. Persönliche Nachrichten behalte ich auch weiterhin meinen Freunden vor.“

Darin steckt der Denkfehler, der dem Journalismus mehr schadet als praktisch alle anderen. Denn ob der Journalist eine Person öffentlichen Interesses ist oder nicht ist vollkommen irrelevant. Natürlich ist Günther Jauch sowohl Journalist als auch eine Person öffentlichen Interesses, schon weil er prominent ist, aber er gibt praktisch nichts von sich preis und hat jedes Recht dazu. Strunz, der weit gehend unbekannt ist, ist keine Person des öffentlichen Interesses, sondern er füllt wie Jauch einen Job aus, der zu einem guten Teil öffentliche Interessen vertritt. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Ich glaube, dass aufgrund des auszufüllenden öffentlichen Interesses an Information, Aufklärung und Unterhaltung durch eine Zeitung ein berechtigtes Interesse daran besteht, was für ein Typ das ist, der den Job macht. Aber er entspricht ganz genau dem Interesse, das Menschen daran haben, zu wissen, wer ihre Kinder unterrichtet oder ob die Putzfrau, die den Schlüssel zu ihrer Wohnung bekommt, vertrauenswürdig ist. Wir würden keinem Lehrer trauen, der sich weigert, mit uns zu sprechen. Wir haben ein Recht darauf, ihn einzuschätzen. Genau so verhält es sich mit Journalisten: Ich habe ein Recht darauf, den Menschen einschätzen zu können, der mir die Politik meiner Regierung erläutern soll. Denn er arbeitet für mich.

Jauch hat es geschafft, diese Vorstellung nebenbei zu erledigen und führt immer wieder Umfragen nach dem vertrauenswürdigsten Deutschen an. Die meisten Journalisten aber leben nur von der Glaubwürdigkeit des Mediums, für das sie arbeiten. Das kann gut oder weniger gut sein, je nachdem, ob man für die Tagesschau oder die Bild-Zeitung arbeitet, in jedem Fall wandelt es sich dieser Tage meiner Meinung nach sehr schnell. Mediennutzer erwarten heute, wie die Nutzer aller anderen Dienstleistungen auch, mehr Transparenz, mehr Interaktion und ein weniger institutionelles Auftreten, und diese Tendenz wird sich fortsetzen, weil immer mehr Unternehmen die Maßstäbe hin zu echter Kundenorientierung verschieben. Gleichzeitig wird es für Unternehmen immer wichtiger, darauf hinzuweisen, was sie besser können als alle anderen, wenn sie nicht einfach billiger sein können als die Konkurrenz. Für Nachrichtenunternehmen bedeutet das auch, sie müssen zeigen, was ihre professionellen Journalisten besser können als Algorithmen bei Google-News, was handwerkliche Nachrichtenproduktion besser macht als industrielle. Dafür sind Lokalzeitungen wie geschaffen, weil sie selber noch Nachrichten machen (einer meiner ersten Jobs war im letzten Jahrtausend als Pauschalist beim Abendblatt. Da habe ich zum Beispiel gelernt, wie man Demonstranten zählt). Um das Handwerk wieder ins Bewusstsein zu rücken, gibt es kaum einen besseren Weg, als den Handwerker in den Vordergrund zu stellen. Wer einmal mit einem guten Schuhmacher gesprochen hat, wird in Zukunft gute Schuhe besser zu schätzen wissen. Es ist also richtig, den Journalisten öffentlich und zugänglich zu machen. Aber als Handwerker, nicht als kleinen König.

Der Grat zwischen „öffentlich zugänglich sein“ und reiner Selbstdarstellung ist nie ganz klar, aber auch so schwierig nicht zu beschreiten. Wenn man es denn will. Und er schließt nicht einmal aus, dass man dabei selbst zum strahlenden Helden wird, immerhin ist Bundeskanzler Helmut Schmidt auch deshalb heute eine Lichtgestalt der deutschen Politik, weil man ihm glaubt, dass er sich selbst als „Leitenden Angestellten der Bundesrepublik Deutschland“ gesehen hat. Dazu gehört allerdings eine Demut, die in der journalistischen Kultur heute so wenig verankert ist wie in der politischen. Schon mit der Wortwahl der „Dienstleistung“ für Journalismus können sich viele Kollegen nicht anfreunden. Es passt nicht in ihre Kultur.

Vielleicht ist es besonders hamburgisch, jedem zu misstrauen, der aus seinem öffentlichen Amt zu viel Glanz zu ziehen versucht, immerhin ist dies die Stadt, in der ein Finanzminister Hans Apel während seiner Amtszeit (und bis heute) mit seiner Privatnummer im Telefonbuch steht und in der Politiker keine Orden annehmen (Helmut Schmidt hat bis heute kein Bundesverdienstkreuz, weil er es mit der Begründung ablehnt, er sei schließlich ein ehemaliger Hamburger Innensenator). Aber bei mir Eindruck, Claus Strunz verwechselt Dienst am Leser mit dem Beeindrucken von Lesern, den Inhalt mit der Show. Und sich selbst mit dem Produkt Claus Strunz, das es zu verkaufen gilt. Ich halte das für aus seiner Sicht sogar ganz schlau. Aber ich hätte ihm den Zacken mehr Mut gewünscht, tatsächlich etwas Neues zu tun.

PS. Claus Strunz hat diesen Beitrag inzwischen auf seiner Facebook-Seite verlinkt und diskutiert ihn. Das finde ich dann schon wieder stark. Respekt!

Now leaking: The one and only Ich

Vor fünf Jahren, als Xing noch OpenBC hieß, und man eine Einladung brauchte, um überhaupt Mitglied werden zu können und sich entsprechend irgendwie wichtig vorkam, war es das erste Internet-Netzwerk, bei dem ich mich mit meinem echten Namen und meinen vollen Kontaktdaten angemeldet habe. Die Diskussion, die es damals unter Usern gab, war tatsächlich, ob OpenBC wirklich eine Business-Plattform ist, oder ob nicht die meisten der Nutzer sie nur dazu benutzen, sich gegenseitig abzuschleppen. Letzteres sollte die von einigen als hochtrabend empfundene Idee des Netzwerks offensichtlich abwerten. Der Gedanke, dass ein Netzwerk für beides gleichzeitig und noch viel mehr zu verwenden sein könnte, dass im Prinzip die Tatsache von Netzwerken an sich mehr Möglichkeiten eröffnet, als man sich beim Errichten überhaupt vorstellen kann, ist letztlich erst mit dem Durchmarsch von Facebook im Mainstream angekommen, und mit dieser Zentrale der eigenen Identität im Netz ein aus meiner Sicht viel wichtiger Durchbruch: Der echte Mensch mit seinem echten Namen. Für mich persönlich hat dieser Schritt eine ganz besondere Magie, die in viele Richtungen wirkt. Auch auf mich. Und das ist gut so.

Bis dahin galt medientheoretisch die Urlaubsmetapher für den Sender einer Botschaft: Wenn du von deinem letzten Urlaub erzählst, dann erzählst du teilweise völlig anders, je nachdem, wem du erzählst – ob deinen Eltern, deinen Kollegen, den Nachbarn oder einem neuen Liebhaber. Du erzählst andere Dinge, erzählst die gleichen Dinge anders, betonst und gewichtest unterschiedlich. Du eröffnest viele verschiedene Erzählstränge über die selbst, die ausgerichtet sind an dem Bild, das du bei unterschiedlichen Beobachtern hinterlassen willst. Und daran ist nichts auszusetzen, genauso machen wir es auch weiterhin, aber ergänzt durch eine Welt, in der Empfänger in der Lage sind, viel vollständigere und tiefere Eindrücke von einem Sender zu bekommen, weil sie – zum Beispiel wenn sie Freunde auf Facebook sind – plötzlich auch an Erzählungen teilnehmen können, die für sie allein nicht zugänglich gewesen wären, weil der Sender in ihrer Gegenwart in einem anderen Erzählmodus war.

Der echte, große Unterschied zu früher dabei ist: Der Sender der vielen unterschiedlichen Geschichten über seinen Urlaub kann und wird weiterhin in verschiedenen Situationen verschiedene Berichte über seine Abenteuer abliefern. Aber weil es jetzt eine Identitätszentrale gibt, auf die im Zweifel alle seine Empfänger auch gleichzeitig zugreifen können, gibt es plötzlich den Zwang, dass diese Geschichten zueinander passen müssen. Auf Facebook postest du im Zweifel für deine Mutter und deinen besten Freund gleichzeitig, was eine Gesprächssituation ist, die irgendwann vor langer Zeit einmal unangenehm war, ist funktionierende Realität, weil wir kollektiv gelernt haben, was es heißt, eine konsistentere Botschaft zu senden. So ist zum Beispiel an die Stelle der Ängste, dass durch fahrlässig gepostete, peinliche Informationen in sozialen Netzwerken reihenweise keinen Job finden, weil ihre potenziellen Personalchefs sich über deren Partyfotos aufregen, eine Realität getreten, in der Jugendliche lernen, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen ihrer „offiziellen“ und ihrer privaten Persönlichkeit nicht geben muss, besser nicht geben sollte. Und das „privat“ in unserer Welt etwas anderes ist als eine Browsereinstellung oder ein Haken in einem Online-Formular.

Was also für hunderte Millionen junge und ältere Netznutzer auf der ganzen Welt simple Realität ist, mit der sich gut und komfortabel leben lässt, ist für das State Departement der USA offensichtlich eine Überraschung. Bis heute ist in den jüngst von Wikileaks veröffentlichten Dokumenten des US-Außenministeriums nichts aufgetaucht, das man nicht haargenau so dort vermuten musste, aber trotzdem finden sich die US-Diplomaten peinlich gefangen in der Differenz zwischen ihrer offiziellen Persönlichkeit und ihrer privaten. Sie haben ihre Geschichten einem Empfänger so erzählt, dass sie ein Bild von ihnen selbst zeichnet, von dem sie nicht wollten, dass andere Empfänger es von ihnen haben. In der Urlaubsmetapher ist es, als hätten sie am Esstisch ihrer Eltern so von ihrer Urlaubsaffäre erzählt, wie sie es eigentlich ihrem besten Freund erzählen wollten – mit allen schmutzigen Details.

Jede Empörung darüber, dass etwas öffentlich wird, zu dem offenbar zweieinhalb Millionen Menschen Zugang haben, entspricht in etwa einer Empörung darüber, dass jemand mitten in Hamburg mein nicht angeschlossenes Fahrrad klaut. Natürlich ist es verboten. Aber unter den vielen Millionen potenziellen Tätern wird sich immer einer finden, für den das gerade nur die zweite Priorität ist.

Wenn Staaten, die ihren Diplomaten eine ordentliche Arbeit ermöglichen wollen – was immerhin für das Zusammenleben auf diesem Planeten unerlässlich ist –, dann werden sie nicht nur lernen müssen, die neuen Regeln dafür, was privat ist, zu lernen. Es ist zwar heute möglich, 250.000 und mehr Dokumente sehr leicht und schnell zu vervielfältigen und zu veröffentlichen, und das mag eine neue Art von Bedrohung sein, aber die Botschaft aus dem Debakel ist doch eine andere: Kann es denn sein, dass ich zwar zweieinhalb Millionen staatliche Angestellte in meinem Land eine Einstellung über die Welt mitgebe, aber erwarte, dass die Welt sie nicht bemerkt?

Ich habe in den letzten Tagen immer wieder die Beschwerde gehört, amerikanische Diplomaten fürchteten nun, dass ihre Informanten nicht mehr mit ihnen sprechen würden, weil sie Angst haben müssten, ihre Einschätzungen und ggf. Indiskretionen würden öffentlich gemacht. Die Verantwortung dafür scheinen sie bei Wikileaks zu suchen. Ich halte das für abenteuerlich. Denn Tatsache ist wohl: Es spricht auf der einen Seite niemand mit Diplomaten einer fremden Macht, wenn er damit nicht irgendein Ziel verfolgt. Und es hätte auch bisher kaum einer geredet, wenn ihn sein Gesprächspartner wahrheitsgemäß angewiesen hätte: „Reden Sie einfach ganz offen, so als ständen Sie in einer Halle mit zweieinhalb Millionen Zuhörern.“

Ich habe eine Menge Zeug über die Veröffentlichung und über Wikileaks gelesen und gehört, bis hin zu den bizarren Vergleichen von der schrägen Wahl Dirk Niebel bei Anne Will, dann könnten ja auch hunderttausende Patientenakten mit medizinischen Geheimnissen veröffentlicht werden (Herr Niebel, ich weiß, dass Sie es gern hätten, aber der Staat ist kein Privatunternehmen, sondern er gehört uns. So traurig es für die FDP sein mag, aber der Staat ist verstaatlicht und ich sehe überhaupt nicht ein, warum er so selbstverständlich Geheimnisse vor seinem Volk hat). In einem Aufsatz in der Welt kam dann der Hinweis, dass eine Gesellschaft ohne Geheimnisse totalitär ist, was in die gleiche Leere geht, weil erstens ein Staat voller Geheimnisse genau so totalitär ist und es zweitens und vor allem eben genau in die andere Richtung geht, als hier behauptet wird: Nicht die Privatsphäre des Einzelnen gilt es zu durchbrechen, sondern die willkürlich behauptete Privatsphäre des Staates vor dem Einzelnen.

So, wie es die Bewahrer der alten Ordnung gerne hätten, wird es nicht bleiben. Bisher leben wir selbstverständlich damit, dass es irgendwo „eine Wahrheit“ gibt, die wir nie erfahren (in den Dokumenten, hinter den Kulissen), eine „öffentliche Wahrheit“, nämlich das, was offen gesagt wird, das, was in der Zeitung steht – und unsere private Wahrheit, mit der wir leben und arbeiten. Es gibt also zum Beispiel einen Krieg in Afghanistan, es gibt das, was uns Politiker darüber erzählen und es gibt das, was wir über den Krieg zu wissen glauben. Und die drei Wahrheiten unterscheiden sich extrem. Ist das okay so?

Ich glaube, wir haben über Generationen damit leben gelernt. Aber es muss ja nicht so bleiben, wenn es besser werden kann. Wenn Staaten ihre innere und äußere Wahrheit einander annähern müssen, dann ist das ungewohnt, aber richtig.

Was bleibt, ist dass wir einen inkompetenten Außenminister haben und dass die Amerikaner unhöflich und tendenziell sogar arrogant sind, selbst als Diplomaten. Aber an wessen privater Sicht der Welt rüttelt den das?