Das Lena-Prinzip

Man konnte den Eindruck haben, Lena Meyer-Landrut wäre so etwas wie eine postmediale Erscheinung, so wie es Barack Obama im US-amerikanischen Wahlkampf 2008 war, als es ihm gelang, seine Botschaft weit über die herkömmlichen Kanäle direkt zu verbreiten (damals war zum Beispiel die Entscheidung für Joe Biden als Kandidat für das Vizepräsidentenamt über eine Art SMS-Mailingliste verkündet worden, so dass seine Anhänger es praktisch vor der Presse wussten). Obama ist es gelungen, seine Botschaft, die anders war als die „Politics as usual“, ohne den Filter der Politikberichterstattung „as usual“ vorbei an die Wähler zu bringen.

Die Lena-Realität ist eine andere, einfachere, auch wenn sie viel mit der Obama-Situation gemeinsam hat. Und sie war eine Lehrstunde für Medienschaffende, aus der sich einige Schlüsse ziehen lassen. Denn während Medienschaffende in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer mehr dazu übergegangen sind, das Medium für die Botschaft zu halten, hat der Erfolg vom LML (und zwar der allgemeine Erfolg, nicht der Sieg in Oslo) einmal mehr deutlich gemacht, dass das ein Fehlglaube war und bleibt. Lena Meyer-Landrut hat auf den ganz normalen Medienkanälen triumphiert, zuletzt sogar in der Bild-Zeitung, die sich lange schwer damit tat, wie schlecht man sie im Raab-Umfeld behandelte. Die Wucht dieser unwiderstehlichen 19-Jährigen war selbst für die Mediendickschiffe zu groß, um sich ihr in den Weg zu stellen.

Das ganz große Wunder besteht offensichtlich darin, dass es eine 19-Jährige geschafft hat, sie selbst zu bleiben, obwohl sie jeden Tag auf ihre Natürlichkeit angesprochen wurde. Das ist ein Kompliment an sie, diejenigen, die sie erzogen haben und an das Team um Stefan Raab, dass ihr offensichtlich eine funktionierende Umgebung geboten hat. Es ist kein Geheimnis, dass Menschen vor allem im Fernsehen dann unwiderstehlich sind, wenn sie das leben können, was sie tatsächlich sind. Da unterscheidet sich Lena nicht von Günther Jauch, Stefan Raab bei Schlag den Raab oder dem frühen Paul Potts. Es ist die Steigerung von Authentizität: Authentisch sein kann man auch, während man mit Grippe im Bett liegt oder in Untersuchungshaft sitzt. Aber authentisch zu sein, während man lebt, wofür man offensichtlich geboren wurde, ist für ein Publikum unschlagbar schön anzusehen.

Das hat ein handwerkliche Dimension: Raab hätte die große Lena-Sause gut und schlecht umsetzen können, und es hätte viel zerstört, wenn er es schlecht gemacht hätte. Der endgültige Erfolg lässt sich aber meiner Meinung nach durch Handwerk allein nicht erzwingen – in keinem Bereich.

Wir erleben zum Beispiel gerade, dass eine ganze Reihe von Verlagen Me-Too-Produkte für die in Verlagskreisen immer noch unerklärliche, fast unheimlich erfolgreiche Zeitschrift Landlust auf den Markt werfen. Und ich muss kein Prophet sein um vorauszusagen, dass sie alle schmerzhaft scheitern werden. Weil sie, im Gegensatz zum Original, eben nicht echt sind und es nie sein werden. Dabei können sie durchaus gut gemacht sein. Aber eine Seele lässt sich dann doch nicht kaufen, und das ist am Ende ja sogar beruhigend zu wissen.

Im Umkehrschluss für die Verlage müsste das bedeuten, dass Journalisten statt Managern wieder größeren Einfluss auf die verlegerischen Entscheidungen nehmen müssten, so wie der Vollblut-Entertainer Raab den Erfolg der deutschen Grand-Prix-Beteiligung verantwortet hat.

Tatsächlich wird in unseren Verlagshäusern aber immer noch mehr darüber nachgedacht, welche Inhalte man aufs iPad packen kann, als darüber, welche Inhalte Menschen haben wollen. Ganz so, als wäre das Medium immer noch die Botschaft. Dabei lautet das Lena-Prinzip: Wenn man an die Botschaft glaubt, dann kann man es sich sogar leisten, manche unverzichtbar wirkende Medien komplett zu ignorieren.

Bundespräsident Köhler tritt aus

Man musste schon eine Menge falsch verstehen wollen, um Horst Köhlers Ausführungen zur militärischen Notwendigkeit der Sicherung von Handelswegen auf den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr zu beziehen, aber eine Tatsache bleibt doch bestehen: Er hat Unsinn geredet. Selbstverständlich und ohne jedes Fitzelchen Relativierung dürfen deutsche Soldaten nicht in fremde Länder einmarschieren, um Handelswege zu sichern. Man kann wohl ohne Zweifel davon ausgehen, dass Köhler sich in seinen Einlassungen auf den Einsatz der Bundesmarine in den internationalen Gewässern am Horn von Afrika bezogen hat, aber gesagt hat er es nicht.

Insofern ist die Kritik darauf albern gewesen, aber sachlich nicht falsch. Auch ein Bundespräsident muss in der Lage sein, sich zu berichtigen, wenn er objektiven Stuss redet. Und darüber zurückzutreten, wehklagend über den mangelnden Respekt gegenüber seinem Amt, fordert mir nicht gerade Respekt ab. Im Gegenteil, ich finde es armselig. Der Respekt gegenüber dem Amt hätte in diesem Fall vor allem von Köhler selbst mehr verlangt.

Aber die Frage, die bleibt – nachdem von diesem Bundespräsident selbst nichts bleiben wird – ist doch, ob dieses alberne, respektlose Spielchen vom absichtlichen Falschverstehen, das Politiker und Kommentatoren quer durch die politische Farbenlehre so gerne spielen, wirklich irgendwen nach vorne bringt.

Die genau gegenläufige Option beherrschen unsere Verfassungsorgane allerdings auch: Immerhin haben wir einen Vizekanzler, der Allgemeinplätze mit der Phrase beginnt „Man wird doch wohl noch sagen dürfen.“

Wer den Schaden hat, braucht für den Spot nicht zu sorgen

Es war klar, dass die Griechenland-Krise Einzug in die Popkultur halten würde, und das ist natürlich richtig. In manchen Fällen wird es sicher sogar witzig sein. Ich bin mir nicht sicher, ob der neue Spot dazu gehört, den KemperTrautmann für die Brauerei Paulaner gedreht hat, aber über Humor braucht man nicht streiten. Abgesehen davon, dass er offensichtlich nicht böse gemeint ist.

Ich habe trotzdem ein Problem mit dem Spot, auch auf die Gefahr hin, dass es mich wie einen schlechten Verlierer aussehen lässt. Denn ich bin ja nicht nur Grieche, ich bin auch ein deutscher Steuerzahler. Und in diesem Spot werde ich gleich zweimal verarscht.

Ganz kurze Zusammenfassung: Im „Paulanergarten“ sitzt der sympathische Bayer, der sonst Bier von Japanern schnorrt, und setzt dazu an, eine Gruppe Griechen zum Bier einzuladen. Doch die halten ihn davon ab: „Ihr habt schon genug bezahlt!“ Und der Bayer fügt sich und lässt sich einladen, mit dem Hinweis: „Ah, sind wir wieder flüssig?“

Wie gesagt, das ist sogar ein bisschen lustig. Und süß gemacht. Und gefährlicher Unsinn. Denn es wird zu der Legende beitragen, dass wir deutsche Steuerzahler so unglaublich viel Geld für Griechenland und andere südeuropäische „Pleitenationen“ bezahlt haben, während sich in Wahrheit die Aufwendung ziemlich genau beziffern lässt: mit null Euro.

Im Gegensatz zur Hilfe für die Banken in der Finanzkrise haben wir für die Griechen noch gar nichts bezahlt, und bei allem Respekt für Josef Ackermanns Zweifel halte ich ausgerechnet die Prognosen von Bankern in letzter Zeit für einen riesigen Haufen von Eigeninteressen getriebenen Scheißdreck.

Aber ich habe schon geschrieben, dass ich glaube, die Verbindung von der „Rettung Griechenlands“ oder wahlweise der „Euro-Rettung“ wird benutzt werden, um den Umschwung unserer Regierung von unsinnigerweise versprochenen Steuersenkungen zu Steuer- oder Gebührenerhöhungen zu erklären, ohne sich als die Lügner darstellen zu müssen, die sie nun einmal sind. Und wenn sich die „wir haben viel bezahlt“-Einstellung weiter durchsetzt, machen wir es ihnen unnötig einfach.

In der Realität freut sich das Manager-Magazin für die deutschen Unternehmen längst über die Schnäppchen, die gerade in Griechenland zu machen sind. Und das Ausschlachten von südeuropäischen Euroländern wird weiter gehen. Das ist traurig, aber es lohnt sich auch, nachzusehen, wer von der Situation tatsächlich profitiert. Und ich kann sagen: Die griechische Bevölkerung ist es nicht. Die ist noch lange nicht „wieder flüssig“

PS. Und weil das Schicksal mir offenbar beweisen will, dass ich doch noch nicht alles erlebt habe, bemitleidet die Bild jetzt die Griechen, die in dem Spot zum „Gespött“ werden.

Flattr!

In eigener Sache: Ich experimentiere jetzt mit Flattr. Was bedeutet, ich werde per Micropayment für Artikel bezahlen, die mir gut gefallen, und werde Lesern anbieten, das bei meinen Artikeln auch zu tun. Die letzten vier oder fünf haben jetzt schon so einen Button.

Ich weiß nicht, was dabei rauskommt, aber im schlimmsten Fall halt nix. Das ist dann wenigstens was zum Weitererzählen.

„Warum machen Sie Propaganda, Herr Diekmann?“

Eine ganze Zeit lang bin ich davon ausgegangen, dass die Hetzkampagne gegen Griechenland aus einer Mischung aus Vereinfachung, Faulheit und mangelndem Wissen in vielen Redaktionen entstanden ist. Aber das erklärt nicht mehr, was alles geschrieben wird. Es muss noch andere Gründe geben.
Die Bild-Zeitung druckt heute auf der Seite 2 ein Interview mit Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Stefan Mappus. Darin geht es um die Euro-Krise, und die drei Autoren von Bild fragen unter anderem:

Was kostet uns die Euro-Rettung?

Mappus erklärt, warum er hofft, dass die Euro-Rettung den deutschen Steuerzahler gar nichts kostet. Dann fragt die Bild-Runde:

Müssen wir jetzt sparen, weil die Griechen über ihre Verhältnisse gelebt haben?

Und Mappus antwortet:

Wir müssen Griechenland helfen und den Euro retten, um letztlich auch das Vermögen der kleinen Leute in Deutschland zu schützen. Sparen müssen wir, weil auch unsere eigenen Schulden zu hoch sind.

Als Überschrift für das Interview wählt Bild dann eine Frage, die gar nicht gestellt worden ist: „Warum müssen wir für die Griechen sparen, Herr Mappus?“

Das ist schlicht und einfach eine perfide Lüge, versteckt in einer Frage. Denn diese Headline impliziert natürlich schon die Tatsache, Deutschland müsste für „die Griechen“ sparen, was Stefan Mappus eindeutig gerade nicht sagt, und was nicht einmal die Bild-Runde in ihren Fragen zu behaupten gewagt hat – wahrscheinlich deshalb, weil sie wussten, dass es nicht stimmt. Aber spätestens nach dem Interview, beim Texten der Headline, wussten sie es natürlich. Ich kann nicht glauben, dass es ein zufälliger Fehler ist, wenn sie es trotzdem so darstellen.

Aber was ist der Grund, dass diese Kampagne selbst auf so abseitigen Wegen weitergeführt wird, jetzt, wo langsam jedem klar geworden ist, dass die Gefahr für die europäische Währung nicht von griechischen Rentnern ausgeht?

Die einzige Antwort, die mir einfällt, ist die, die ich lange nicht wahrhaben wollte: Griechenland soll und wird in den nächsten Wochen dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Steuern steigen werden anstatt zu sinken, wie es vor allem die FDP versprochen hat. Griechenland soll verantwortlich gemacht werden für den anstehenden Sparkurs, der lange vor der Wahl absehbar war. Wir werden den Namen Griechenland in Zukunft wohl im Zusammenhang mit jeder unpopulären Entscheidung hören, die die Bundesregierung zu treffen hat.

Die Kampagne der Bild, die selbst in den Augen des ehemaligen Bild am Sonntag-Chefredakteurs Michael Spreng an Volksverhetzung grenzte, funktioniert jedenfalls perfekt als flankierende Maßnahme zu dem Kurswechsel der schwarzgelben Regierung, die ihre Wahlversprechen – von denen sie wusste, dass sie sie nicht einhalten kann – nun eins nach dem anderen kippen wird. Und ich kann mir nicht helfen: Ich glaube angesichts der Rücksichtslosigkeit und des Nachdrucks, mit dem die Kampagne betrieben wurde, nicht mehr an Zufälle.

Griechenland, die Krise und die Gründe

Es ist viel geschrieben worden über die so genannte Griechenlandkrise, aber wenn ich gefragt werde, was ich denn als Lektüre empfehlen würde, am liebsten noch, ob ich nicht einen Link schicken könnte, dann habe ich ein Problem. Denn das einzige, das offenbar niemand aufgeschrieben hat, ist eine einfache, trocken Analyse der Entwicklung, die zu dem aktuellen Problem geführt hat. Und ich finde mich plötzlich in einer Situation, von der ich dachte, dass sie bei uns nicht vorkommt: Jener amerikanischen Situation, in der Blogger die Berichterstattung übernehmen, zu der den atemlosen „Mainstream-Medien“ offensichtlich der Antrieb fehlt – weil sie keine Quote verspricht, zu kompliziert ist oder weil sie politisch unerwünscht ist. Ich dachte, Deutschland wäre nicht so. Aber wenn ich zusammenzähle, wie oft alleine ich gefragt wurde, „was in Griechenland eigentlich los ist“, dann fürchte ich, es ist nun so weit.
Ich werde also versuchen, so einfach wie möglich ein paar Grundlagen zu beleuchten, und ich warne gleich, dass es kein Stoff ist, der sich für die Titelseite einer Boulevardzeitung eignet. Dafür ist es vielleicht zu komplex. Aber dafür hat es den Vorteil, der Realität zu entsprechen. Und so wahnsinnig kompliziert ist es nun auch wieder nicht.

Beginnen wir mit dem Euro, der nun plötzlich in Gefahr sein soll, weil Griechenland, das kaum drei Prozent der Eurozone ausmacht, in eine finanzielle Schieflage geraten ist.
Die gemeinsame kerneuropäische Währung birgt einige Risiken, das war allen klar, die an seiner Einführung beteiligt waren. Denn ohne Währungsschwankungen zwischen Ländern regulieren sich Ungleichheiten nicht mehr über den Wert des Geldes. Für die Länder der Eurozone, die eine weichere Währung mit stärkerer Inflation hatten (in der das Geld schneller an Wert verlor), war klar, dass mit einer neuen, härteren Währung mehrere Effekte gleichzeitig eintreten würden. Der erste ist, das die Preise steigen.
Es ist ein einfacher Prozess: Jeder Händler verkauft seine Ware in einem Währungsraum da, wo er den besten Preis erzielt. Und die neuen Hartwährungsländer vor allem in Südeuropa hatten ja gleichzeitig zu den Preissteigerungen das neue Phänomen, dass Geld plötzlich leichter zu leihen war als vorher, weil die Währung nun stabiler und wertvoller war als vorher. Insofern war auf der einen Seite mehr Geld da als vorher, auf der anderen Seite brauchten die Menschen aber auch mehr Geld als vorher. Und das Geld, das mehr da war, war ja auch nur geliehen. Das ist ein Kreislauf, der nur unter einer Bedingung funktioniert: Das geliehene Geld muss so investiert werden, dass es mehr Geld verdient, als es Zinsen kostet.
So funktioniert Marktwirtschaft: Ich leihe mir Geld, um ein Geschäft zu eröffnen. Das Geld kostet mich den Betrag X Zinsen in einer bestimmten Zeit, deshalb muss ich in derselben Zeit den Betrag X+Y verdienen, um meine Zinsen zu bedienen, möglicherweise den Kredit zu tilgen und noch Gewinn zu machen. Vor dieser Herausforderung steht jedes Unternehmen, und im Prinzip auch jeder Staat, auch in der Eurozone.

Aber das ist nicht alles: Um zu verdienen, muss ich konkurrenzfähig sein. Meine Produktivität muss stimmen. Ich kann tolle Produkte herstellen, aber wenn jemand anders vergleichbare Produkte billiger herstellen und deshalb billiger verkaufen kann, dann werde ich keinen Erfolg haben. Das ist keine Hexerei. Produktivität kann man auf zwei Arten steigern: Entweder, ich bezahle niedrigere Löhne, oder ich investiere in die Infrastruktur meiner Firma und verbessere so die Produktivität. Und wieder geht das Spiel los: Ich kann mir Geld leihen und es in die Infrastruktur investieren, so lange die Produktivitätssteigerung höher ist als die Zinsen, die ich zahle – dann kann ich mein Produkt wieder billiger anbieten als die Konkurrenz und so erfolgreich sein.

So funktioniert es für Firmen. Zwischen Staaten gibt es noch einen zusätzlichen Effekt: Wenn meine Währung im Verhältnis zu einer anderen schwächer wird, werden die Preise für meine Produkte für den anderen niedriger. Gleichzeitig muss ich vielleicht mehr Geld in den Umlauf meiner eigenen Volkswirtschaft bringen – ich habe also eine Inflation –, aber so lange ich genug mit meinen Produkten verdiene, ist das kein Problem. Es ist ein recht komplexes Gleichgewicht, aber auch keine Hexerei. Es ist der Job der Zentralbanken, dieses Gleichgewicht zu wahren, und sie machen gerne eine Zaubershow daraus, aber im Großen und Ganzen funktioniert das einigermaßen.

Im Euro-Raum gibt es diese Möglichkeit des Ausgleichs nicht mehr. Die Währung, der Wechselkurs zwischen den Ländern, steht fest. Und das, obwohl die Produktivität in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich war und ist.
Es war jedem klar, dass das Potenzial für Probleme birgt. Denn wenn ein Land auf lange Sicht produktiver ist als ein anderes, dann bricht das ganze System auseinander. Auf der anderen Seite wäre es fatal, die Produktivitätssteigerung in den Ländern künstlich zu begrenzen, denn ohne Wettbewerb gibt es keinen Anreiz, sich zu verbessern. Vor dieser Herausforderung standen die europäischen Finanzminister, die die Bedingungen für die Währungsunion ausgehandelt haben: Was tun wir, um gleichzeitig einen Wettbewerb zu ermöglichen und die Gleichheit herzustellen, für die früher der Markt über Währungsschwankungen gesorgt hat?
Sie haben sich auf einen Richtwert geeinigt: angepeilt werden sollten von jedem Staat unter aber nahe zwei Prozent Inflation. Über die Preissteigerung lässt sich viel regeln, und es gibt verschiedene Werkzeuge, die man einsetzen kann. Eines davon ist die Lohnpolitik, die unter die Tarifautonomie fällt, aber ja nicht im politischen Vakuum verhandelt wird. Tarifabschlüsse entstehen unter politischem Druck, und in Deutschland waren sie in den Jahren seit der Währungsunion extrem niedrig. Die Reallöhne in Deutschland fallen seit Einführung des Euro beständig – und das ist einer der Gründe, warum Südeuropa es nicht schafft, konkurrenzfähig zu werden.

Sehen wir uns das am Beispiel Griechenlands an: Kein anderes Land in der Eurozone hat nach Auskunft des Chef-Volkswirtes der UN-Handelskonferenz in den letzten Jahren mehr in die Produktivität investiert als Griechenland. In endgültigen Zahlen ist die Produktivität aber kaum gestiegen, weil die Lohnstückkosten gestiegen sind – eine unausweichliche Folge der angesprochenen Preissteigerungen im Euro-Raum. Die Wahrheit ist: Die griechische Politik war in diesem Punkt nicht so schlecht, wie sie dargestellt wird. Es gab einfach keine realistische Chance, aufzuholen, unter anderem, weil Deutschland sich nicht an die Abmachung gehalten hat, knapp zwei Prozent Inflation zu erzeugen, also zum Beispiel über Lohnerhöhungen Geld in den Umlauf zu bringen und die Nachfrage anzukurbeln. Der deutsche Außenhandelsüberschuss ist unter anderem erkauft mit dem Lohnverzicht der Angestellten, und das auf Kosten der Länder, die Außenhandelsdefizite eingefahren haben – und Deutschland exportiert 63 Prozent seiner Waren in die EU, vornehmlich in den den Euro-Raum. Und aufgrund des niedrigen Lohnniveaus hier können die südlichen Länder inklusive Frankreich nicht wettbewerbsfähig sein. Es wird gerne und mit einigem recht argumentiert, Deutschland hätte einfach „seine Hausaufgaben gut gemacht“, aber verschwiegen, dass es dabei die Vereinbarungen zum Euro unterläuft. Mit fatalen Folgen für die kleineren Länder.

Das ist das echte, strukturelle Problem des Euro. Es wird gerne beklagt, dass es keine zentrale Lenkungsstelle für europäische Finanzpolitik gibt, die im Zweifel Sanktionen verhängen kann. Aber in Wahrheit sind Sanktionen ein Mittel, das erst greift, wenn die Verabredungen und Verträge gebrochen wurden. Da ist Euroland wie jeder Sportverein: Wenn es so weit ist, dass man in die Satzung gucken muss, ist der Schaden schon passiert. Es gab und gibt den politischen Willen zur europäischen Einheit, aber offenbar keinerlei Disziplin dabei, sich an die Abmachungen zu halten. Die Griechen haben ihren Euro-Beitritt schon mit geradezu unglaublich geschönten Zahlen begonnen, was aus meiner Sicht den Tatbestand zumindest politisch den Tatbestand des Betruges erfüllt. Aber es hat sich niemand in Europa darüber auch nur ernsthaft beklagt, so lange in Griechenland viel Geld zu verdienen war. Beides ist skandalös.

Damit das erwähnt ist: Es gibt jede Menge berechtigte Kritik an Griechenland und einen riesigen Reformstau. Aber jetzt so zu tun, als wäre die Krise ausgelöst von der falschen Politik – die ja nur in Nuancen falscher ist als bei allen anderen – oder gar den griechischen „Luxusrentnern“, ist falsch, dumm und im schlechtesten Fall eine Kampagne, um die deutschen Lohnempfänger, die am letzten Aufschwung schon nicht teilgenommen haben, auf weitere Einschnitte vorzubereiten. Ohne jeden Zweifel haben Steuerhinterziehung und Korruption in Griechenland großen Schaden angerichtet. Aber vor allem auf Kosten der griechischen Bevölkerung, von denen 20 Prozent akut von Armut bedroht sind, mit steigender Tendenz. Seine ausländischen Schulden hingegen hat Griechenland seit dem 2. Weltkrieg ausnahmslos pünktlich bedient, und das wäre auch so weiter gegangen – nicht ewig, aber eine ganze Weile, denn das Staatsdefizit ist kein neues Problem – wenn nicht die globale Finanzkrise die Säulen Handelsschifffahrt, Tourismus und Baugewerbe weggerissen hätte. Aber dafür kann die griechische Politik wenig, und die griechische Bevölkerung gar nichts, auch wenn es manche Medien so aussehen lassen wollten. Kurz und knapp: Griechenland entspricht in seiner Wirtschaftsleistung dem Bundesland Hessen. Würde der Euro wackeln, selbst wenn alle hessischen Ärzte Steuern hinterziehen würden? Wenn diese Krise eine rein griechische gewesen wäre, dann wäre sie leicht einzudämmen gewesen.

Michael Spreng, der ehemalige Chefredakteur der Bild am Sonntag, schreibt in seinem Blog Sprengsatz über die Bild-Berichterstattung:

„In einer seit dem Kampf des Springer-Verlages gegen die Ostverträge beispiellosen Kampagne machte BILD Front gegen Bundesregierung und Parlament und versuchte, die Leser gegen die Griechen in einer Form aufzuwiegeln, die an Volksverhetzung grenzte.“

Und das ist aus meiner Sicht freundlich formuliert.

Linktipp (2)

Nachdem die so genannten Mainstream-Medien bei der Bewertung der „Griechenland-Krise“ meiner Meinung nach umfassend versagt haben, finden wir uns in einer Situation, wie wir sie in den USA beklagen: die „neuen“ Medien müssen es richten.

Ein wirklich erhellender Text findet sich hier auf Telepolis, schon zwei Wochen alt, aber ich habe ihn erst spät entdeckt.

Linktipp

Ein wütender Text eines Schweizers in Athen. Böse, tief empfunden und lesenswert.

Und aus Gründen, über die zu spekulieren ich herzlich einlade, gibt es diesen Linktipp nun auch zum Hören. Danke, Bodalgo.com!

[audio:Fauler Hund.mp3]

Die Rentenlüge, Folge 192

Vorweg: Diesen Blogpost kann man auch hören – dank Bodalgo, dem Online-Marktplatz für Sprecher. Vielen Dank!

[audio:Faule Griechen.mp3]

Und weiter geht es mit dem sonntäglichen Griechen-Bashing bei Spiegel Online, und ich nehme das zum Anlass, einmal ein Missverständnis aus der Welt zu schaffen, das angeführt von der Bild-Zeitung fast alle deutschen Medien ohne Prüfung irgendwelcher Tatsachen übernommen haben. Ich zitiere SpOn:

Bisher können Staatsdiener schon vor Erreichen des 50. Lebensjahres in den Ruhestand gehen.

Das schreiben alle. Und es ist, so wie es da steht, falsch. Deshalb für alle deutschen Journalisten, die zu faul oder zu dämlich sind zu fragen einmal die korrekte Darstellung – falls es nicht ohnehin daran liegt, dass sich manche Kollegen ihre Geschichten nicht durch Recherche versauen wollen.

Tatsache ist: Griechische Beamte haben nach 35 Jahren Dienst einen Anspruch auf eine Pension, die sie vom Erreichen des Rentenalters an (bisher 60, ab jetzt 63*) ausgezahlt bekommen. Es kann also kein griechischer Beamter mit 50 oder noch früher in den Ruhestand gehen. Falls er allerdings mit 14 oder 15 Jahren angefangen hat, zu arbeiten (was es damals tatsächlich nicht so selten gab), dann könnte er mit 50 kündigen, zehn Jahre etwas anderes arbeiten oder von Luft und Liebe leben und dann mit 60 in den Ruhestand gehen.

Das durchschnittliche Rentenalter in Griechenland ist übrigens 61,4 Jahre (Deutschland 61,7), die Lebensarbeitszeit in Griechenland tendenziell aber höher, weil weniger Leute, die heute in Rente gehen, studiert haben. Und, wir ahnen es inzwischen, die gern verbreitete Zahl von angeblich 94,7 Prozent des letzten Nettolohnes, den die Staatsdiener als Rente kriegen, bezieht sich nur auf das Grundgehalt und nicht auf die Zuschläge, die einen großen Teil (in Extremfällen den Großteil) des Gehaltes ausmachen. Die deutschen Rentner wären auf griechische Renten nicht neidisch (sie liegen bei durchschnittlich 630 Euro), deshalb werden die absoluten Zahlen nie irgendwo erwähnt. Das ist selbstverständlich Absicht, und zwar eine böse.

So viel zu dem Vorurteil des faulen Griechen, der mit 50 in Rente geht und dabei reich wird. Es ist ein Mythos, und dass er bis heute verbreitet wird (unter dem SpOn-Artikel stehen als Kürzel übrigens ler/dpa/Reuters) ist mit fahrlässig noch nett umschrieben.

* Den Beschluss aus Brüssel gibt es noch nicht zu lesen. Jetzt höre ich, es könnte auch noch höher sein, aber weniger als die 60 natürlich auf keinen Fall.