Als geradezu vorbildlich integrierter Deutscher mit Migrationshintergrund werde ich dieser Tage medial verwöhnt, indem immer wieder darauf hingewiesen wird, was für eine Erfolgsgeschichte es ist, dass Menschen wie ich weder Serienkriminelle sind, noch auf Arbeitslosengeld angewiesen. Ich nehme an, ich sollte das als Kompliment sehen. Davon abgesehen wird in der angeblich von Thilo Sarrazin losgetretenen Debatte sehr viel über und sehr wenig mit Migranten diskutiert, wahrscheinlich deshalb, weil wir, wenn wir Deutsch können, sehr langweilig und unexotisch sind (und nach Ansicht von Melanie Ahlemeier von der Süddeutschen bin ich ja ohnehin schon deshalb kein Grieche, weil ich in Deutschland geboren wurde — was ein Argument ist, das ich sie gerne mal mit dem Genossen Thilo diskutieren lassen würde, juchhe).
Tatsache ist, dass Sarrazin, dem angeblich Sprech- und Denkverbote auferlegt werden, seine Gedanken nicht nur in einem Buch hunderttausendfach verbreiten kann, sondern in Vorabdrucken, Interviews und Talkshows in allen großen Medien. Wer ausgerechnet das zum Anlass nimmt, über angeblich mangelnde Meinungsfreiheit zu klagen, der meint in Wahrheit das Gegenteil: Er will Kritik an Sarrazins Thesen unterbinden, und macht damit genau das, was er angeblich bekämpft. Um der „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“-Orgie noch einen hinzuzufügen: Man wird doch wohl noch sagen dürfen, dass Thilo Sarrazin mit seinem überflüssigen Buch keine Debatte losgetreten, sondern ganz einfach ziemlich dumpfen, rassistischen Strömungen ein Ventil verschafft hat. Er musste sie nicht einmal aufschreiben: Durch ein paar gezielte Stichworte sind die Dämme ganz einfach einzureißen gewesen. Und die einzigen, die nichts dazu sagen dürfen, sind in Wahrheit die Betroffenen, denn zum Ritus gehört es jetzt, dass jeder an Integration wirklich Interessierte zunächst einmal anmerken muss, dass es tatsächlich auch Probleme mit der Integration von Migranten gibt (was in jedem Land der Welt seit Jahrzehnten eine Binsenweisheit ist. Und dem gern gebrauchten Stammtisch-Argument, dass „wir“ uns schließlich auch anpassen würden, wenn wir ins Ausland zögen, möchte man doch mal die Ausländersiedlungen zum Beispiel in Saudi-Arabien entgegenhalten, in denen auch deutsche Gastarbeiter weit entfernt von jeder Anpassung an die arabischen Gepflogenheiten oder auch nur mit Respekt für die Gesetze leben — darauf ein Pils!).
In der Diskussion haben auch diejenigen keine Stimme, die tatsächlich die Integrationsarbeit in diesem Land leisten: Die untere Mittelschicht, die am Arbeitsplatz, in Sportvereinen, auf Schulhöfen und in der Nachbarschaft jeden Tag die Benutzeroberfläche Deutschlands für Einwanderer darstellen. Und dabei in der Masse überragende Arbeit leisten. Als engagierter Vater und Elternvertreter an einer Grundschule im Hamburger Problembezirk Sankt Pauli kann ich jedenfalls für mich festhalten, dass Sarrazins Buch die Arbeit nur schwieriger macht, weil sie die Gräben vertieft und es zum Beispiel für Mütter, die schlecht Deutsch sprechen und deshalb ohnehin ungern zu schulischen Veranstaltungen kommen, sicher nicht einfacher wird, wenn sie mitbekommen, mit welchen Thesen über sie, ihre Intelligenz und ihre wirtschaftliche Nützlichkeit diskutiert wird. Und das macht es letztlich wieder noch ein bisschen unwahrscheinlicher, dass ihre Kinder die Schule erfolgreich abschließen werden. Dem Genossen Thilo würde ich gern sagen: Wenn ihm etwas an diesem Land liegt, dann wäre einfach mal Fresse halten und anpacken produktiver gewesen. Aber darum ging es wohl nie.
Am schlimmsten aber ist, und damit bin ich endlich bei meinem Thema, diese merkwürdige Haltung von Medien wie dem Spiegel, die ohne Not eine rassistisch geführte Diskussion lostreten, ohne zu verstehen, dass sie dadurch und dabei Partei werden, und längst nicht mehr nur journalistische Beobachter sind. Denn selbst wenn es Sarrazin, den ich gar nicht für einen Rassisten halte sondern nur für unangenehm und auf einem hohen Niveau für unglaublich dämlich, dann war in der Redaktion des Nachrichtenmagazins natürlich jedem klar, was gerade die verkürzende Berichterstattung über die Thesen im Vorabdruck auslösen würde. Dabei geht es nicht darum, dass man bestimmte „Wahrheiten“ nicht aussprechen darf, sondern dass Kontext, Art und Weise etwas anderes auslösen — und dafür tragen die Profis an der Brandstwiete natürlich auch Verantwortung. Dann später auf dem Cover blauäugig zu fragen, wie es sein kann, dass so viele Deutsche dem Provokateur folgen, ist schamlos und bigott. Und ein Erfolgsmodell, denn eine sich selbst befeuernde Kontroverse verkauft wahrscheinlich ein paar Zeitschriften. Thilo Sarrazin ist der Blutdiamant unserer Branche geworden: ein gutes Geschäft auf Kosten eines Konfliktes, den er immer nur weiter befeuert, anstatt zu seiner Lösung beizutragen.