Es ist ohnehin auf eine dunkle Art faszinierend, welchen Phantomschmerz der Rücktritt von Karl-Theodor zu Guttenberg auslöst, aber am faszinierendsten – und auch am traurigsten – finde ich die Tendenz, mit der auch heute, wo die Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Anhängern erröteten Barons längst eindeutig entschieden ist, eine fatale Meinung vertreten wird: Wer heute noch zu dem ehemaligen Verteidigungsminister steht, muss in den Augen vieler, auch Medienschaffender, ganz offensichtlich dumm sein. Man liest, hört und sieht diese Haltung an vielen Stellen, vornehmlich in den Kommentarspalten, aber zwischen den Zeilen auch bei Kommentatoren. Das Volk hat sich nach Meinung vieler von dem Mann blenden lassen, es ist einfach nicht klug oder schlau genug, seinen Schwindel zu durchschauen. Abgesehen davon, dass mich die Arroganz dieser Haltung ankotzt, ist die Schlussfolgerung auch – dumm.
Die Wahrheit ist sehr einfach, es gibt unter denen, die sich überhaupt für den Vorgang interessieren, nur drei Gruppen: Diejenigen, die KTzG sowieso nicht mochten, diejenigen, denen sein Vergehen so schwer aufgestoßen ist, dass sie ihn unabhängig von Sympathie nicht mehr in diesem verantwortungsvollen, auch würdevollen Amt haben wollten und diejenigen, die ihn ohne Wenn und Aber sowieso geliebt haben. Über die reden wir hier. Sie mögen ihn und vertrauen ihm. Das ist nicht naiv, sondern Voraussetzung für Demokratie: Um zu wählen müssen wir vertrauen. Und wir vertrauen lieber denen, die wir mögen. Das klingt zu einfach, aber es ist so: Grundsätzlich reicht Sympathie in einer Demokratie, um in ein Amt gewählt zu werden, und trotzdem haben es Populisten in diesem Land (mit einigen unrühmlichen Ausnahmen in meiner geliebten Heimatstadt Hamburg) nicht besonders leicht, in die Parlamente zu gelangen. Die Wähler sind nicht dumm. Plötzlich einen großen Teil der Bevölkerung für dumm zu halten, weil sie an einem Betrüger Qualitäten sieht, die einen Verbleib im Amt trotz seines Betruges für richtig halten, ist sehr kurz gesprungen. Es bedeutet vor allem, dass man sich vor einer echten Analyse drückt. Warum stehen so viele immer noch zu dem Lügenbaron?
Da ist zum einen sein Vergehen, das von vielen als nichtig betrachtet wird. Und das ist nicht unverständlich. Ich bin beeindruckt von der geballten Aktion der wissenschaftlichen Community, die letztlich zu KTzGs Sturz geführt hat, und ich halte ganz persönlich selbstverständlich sein Plagiat und die Lügen in der Folge für schwerwiegend und für einen Rücktrittsgrund. Aber muss man dumm sein, um das anders zu sehen?
Das Plagiat an sich ist ein Verbrechen ohne Opfer, dessen Schwere für Menschen, die nicht direkt mit der Materie zu tun haben, schwer vermittelbar ist. Um ein schräges Beispiel zu bemühen: Es hat eine ganze Weile gedauert, bis sich die Rechtsprechung auch in Deutschland dazu durchgerungen hat, zum Beispiel den Vertrieb gefälschter Uhren zu verurteilen, bei denen jedem klar war, dass sie falsch sind. Denn wenn jemand, nennen wir ihn O., in Bangkok eine gefälschte Rolex für 20 Dollar bei einem Straßenhändler kauft, dann entsteht ihm kein Schaden. Er weiß ja, dass sie falsch ist. Auch Rolex entsteht kein materieller Schaden, denn der O., der für 20 Dollar eine falsche Uhr kauft, verzichtet garantiert nicht deshalb auf den Kauf einer echten. Was also ist das Verbrechen?
Das Verbrechen ist, dass alle Beteiligten das geistige Eigentum am Design und dem Logo von Rolex verletzt haben. Das kann (und aus meiner Sicht auch: sollte) man schlimm finden. Aber mal ehrlich: pffft? Ich könnte O. trotz seines Vergehens mögen. Genau wie die von KTzG zitierten Autoren zu Recht beleidigt sein können, denn er hat sich an ihrem geistigen Eigentum vergriffen. Und er hat es in einer gewerbsmäßigen Größenordnung gemacht. Das ist strafbar, unehrlich und schmierig. Aber ich kann zumindest nachvollziehen, dass nicht jeder es für so ein ernstes Vergehen hält, wie ich das tue.
Außerdem hat Guttenberg eine falsche Ehrenerklärung abgegeben und seinen Doktorvater nach Strich und Faden belogen. Auch das finde ich furchtbar bis an den Rand des Fremdschämens. Auch das ist für mich ein Rücktrittsgrund für einen Minister. Aber was entgegne ich jemandem, der findet, dass ein langjähriges Betrügen der Ehefrau damit im Prinzip vergleichbar ist? Das fände ich nämlich auf der anderen Seite keinen Rücktrittsgrund, obwohl mir als Begründung gerade nicht mehr einfällt, als dass Seitensprünge Privatsache sind. So ganz entkräftet das den Einwurf aber zugegebenerweise nicht, denn auch Seitensprünge sagen etwas über den Charakter und das Einhalten von Ehrenworten. In seiner Funktion als Minister fühlten sich viele aber offensichtlich von Guttenberg durch sein Erschleichen eines Doktortitels so wenig getäuscht wie von einem, der in seinem Privatleben fremdgeht. Man könnte bis hierher sagen: Ja, er hat gelogen, aber er hat mich nicht belogen. Das macht einen Unterschied.
Drittens muss sich der Träger der falschen Rolex (und in gesteigerter Weise der Träger eines falschen Titels) den Vorwurf gefallen lassen, er sei ein Blender. Natürlich ist er das. Er schmückt sich mit etwas, das er nicht verdient hat. Er versucht, mehr darzustellen, als er ist. Das ist kein einnehmender Zug, es ist sogar meist ganz schön armselig. Aber die Unterstellung, die Anhänger von KTzG würden auf sein Blendwerk hereinfallen, obwohl es doch schon enttarnt war, blendet ihrerseits eine Möglichkeit ganz einfach aus: Auch wenn man das Blendwerk abzieht kann bei einem Menschen noch genug übrig bleiben, das man lieben kann. Ganz offensichtlich haben viele Menschen das Gefühl gehabt, KTzG hätte irgendwann früher auf dem Weg nach oben zum Mittel der Blendung gegriffen, hätte aber hier und heute genügend eigene Größe, um Minister zu sein. Seien wir für einen Moment mal realistisch und erinnern uns an Guttenbergs Einstieg ins Kabinett, als er sich wie ein Gockel posierend auf dem Times Square fotografieren ließ – glaubt irgendjemand tatsächlich, dass es in diesem Land jemanden gibt, der nicht von Anfang an auch ein gutes Stück Eitelkeit und ein gutes Stück Blendwerk in KTzG erkannt hat? Bei einem Mann mit so einer Frisur? Also bitte, natürlich wusste jeder, dass der Typ auch ein Blender ist. Darüber sollten die Leute sich nun aufregen? Haben sie nicht. Sie haben dabei sicher nicht in Betracht gezogen, welchen Schatten das trotzdem auf die Wissenschaft an sich geworfen hätte, und den meisten Menschen ist die Wissenschaft an sich wahrscheinlich auch keine echte Herzensangelegenheit – aber das ist, ehrlich gesagt, auch ihr gutes Recht. Schlimm finde ich diese Einstellung vor allem von Frau Doktor Merkel und ihren schamlosen Kumpanen.
Und es bleiben Guttenbergs Lügen, das scheibchenweise fast Zugeben, das Lavieren und die rhetorischen Spielchen rund um das Wichtigere und die toten Soldaten. Allerdings glaube ich, dass wer bis hierhin zu KTzG gehalten hatte, sich festgelegt hatte, und es von nun an nur noch darum ging, die einmal gefundene Überzeugung mit irgendetwas zu untermauern, was sich wie ein Argument anfühlte. Denn natürlich ist „Haben wir denn keine wichtigeren Probleme in Deutschland“ kein Argument – oder wenn, dann eines gegen praktisch alles. Dann könnten wir über gar nichts mehr reden. Aber man darf dabei eines auch nicht übersehen: KTzG hat bis heute den in seiner Dissertation wohl eindeutig erkennbaren Vorsatz zur Täuschung zwar nicht gestanden und sich dafür nicht entschuldigt, aber er hat gleichzeitig pausenlos irgendetwas gestanden und sich geradezu gebetsmühlenartig für irgendetwas entschuldigt. Aus Sicht der Kritiker, auch aus meiner, war das ein rein taktischer Zug und im Zuge seiner Verteidigung eigentlich dafür gedacht, am Ende eben nicht zurücktreten zu müssen. Aber ist es wirklich so schwer verständlich, dass Menschen, die sehen, dass ihr Idol sich pausenlos entschuldigt, irgendwann genervt sind von dem Anwurf, dass er sich aber bitte endlich für etwas anderes entschuldigen soll? Ich glaube, hier hat der Ton die Musik gemacht, und auch wenn die Noten formal korrekt waren, hatten die Töne der Kritik oft einen kreischenden Klang.
Langer Rede kurzer Sinn: Man konnte auch ohne dumm zu sein einen Weg finden, weiterhin Guttenberg im Amt zu wollen – man musste es allerdings sehr wollen. Ich habe an dieser Stelle schon einmal aufgezählt, was Guttenberg aus meiner Sicht so erfolgreich (und auch gefährlich) gemacht hat, warum Menschen ihn also so sehr wollten. Aber eins muss ich hinzufügen, und zwar als einer, der ihn niemals wollte: Er ist weg, weil er schwere Fehler gemacht hat. Aber das heißt leider nicht, dass ich, dass wir, die wir ihn nie wollten, in allem Recht hatten. Ich hätte ihn wirklich lieber für seine Politik drangekriegt.