Fakt ist

Der für mich erstaunlich interessante neue SpOn-Kolumnist Wolfgang Münchau beschreibt in seinem aktuellen Text die Mythen der Schuldenkrise, die dazu führen, dass die Politik die Flaschen Schlüsse zieht (nämlich dass Staatsverschuldung an der Krise schuld ist und dass die Hyperinflation vor fast 90 Jahren uns eine Lehre sein sollte).

Noch erstaunlicher finde ich allerdings, dass man (auch aber nicht nur infolge dieser Mythen) in Deutschland immer noch behaupten darf, dieser Krise könnte man mit „Sparen“ begegnen – ausgerechnet in dem Land, das deswegen relativ gut durch die Weltfinanzkrise gekommen ist, weil man zum Beispiel mit Konjunkturpaketen und Kurzarbeit jede Menge Geld ausgegeben und eben gar nicht gespart hat. Es sind, im Gegenteil, Anreize geschaffen worden, fahrtüchtige Autos zu verschrotten und neue zu kaufen – wenn Sparen in Krisenzeiten eine gute Option wäre, dann hätte die selbe Kanzlerin, die das heute von allen außer sich selbst fordert, damals zu Staub zerfallen müssen wie ein Vampir an der Sonne.

Am schönsten demonstriert die offensichtlich mit der Realität nicht einmal mehr korrelierende Gemütslage allerdings der Mythen- und Sagenfachdienst Bild.de, der heute schreibt:

Fakt ist aber auch: Der in Jahrzehnten aufgehäufte deutsche Schuldenberg von über zwei Billionen Euro hat eine Höhe von über 80 Prozent der jährlichen deutschen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt BIP).
Das ist zwar besser als in den allermeisten anderen Euro-Ländern, liegt aber weit über der in der EU eigentlich erlaubten Gesamtverschuldung von 60 Prozent des BIP.

Nun kann man vielleicht über die Definition von „allermeisten“ ein bisschen streiten, aber Fakt ist trotzdem ganz eindeutig etwas anderes: Von 17 Euro-Ländern haben gerade einmal fünf eine höhere Verschuldung (im Verhältnis zu ihrem BIP) als Deutschland, und Deutschland ist gerade dabei, in einer Zeit sprudelnder Mehreinnahmen seine Verschuldung noch zu erhöhen.

Es ist irre, wie man vor einen Satz, dessen Wahrheitsgehalt man höchstens irgendwie so fühlt, ausgerechnet „Fakt ist“ schreiben kann. Es wird allerdings die Realität nur bedingt aufhalten.

Himmel & Hölle: Einen Fairness-Preis gewinnen wir damit nicht

Ich bin stolzes Mitglied des jungen Berufsverbandes Freischreiber e.V. für freie Journalisten. Und ich schreibe relativ regelmäßig für die Zeitschrift NEON (und werde ihnen ewig dankbar sein für den Mut und die Energie, das Experiment Live-Reportage zu wagen). Jetzt streiten sich beide, und ich bin sehr unglücklich darüber – auch deshalb, weil ich das Gefühl habe, mit einer an sich guten Sache auf der falschen Seite zu stehen.

Freischreiber hat in diesem Jahr zum ersten Mal den Preis Himmel & Hölle ausgelobt für diejenigen Redaktionen, die am fairsten und am fiesesten mit ihren freien Schreibern umgehen. Das ist schonmal eine kipplige Idee, weil kein freier Journalist öffentlich über einen „fiesen“ Auftraggeber reden will oder kann. Eventuelle Vorwürfe sind also gezwungenermaßen anonym und so weit unscharf, dass ihr Urheber nicht erkennbar ist. Das ist problematisch, aber es ist auch ein nicht ganz seltenes Vorgehen im journalistischen Arbeiten, wenn Quellen nur anonym auftreten wollen und geschützt werden müssen. Die Jury-Mitglieder haben deshalb im Fall von sich häufenden Vorwürfen bei anderen Mitgliedern nachgefragt, die für dieselben Auftraggeber arbeiten, und sind überzeugt, dass sie stimmen.

Schwerer wiegender ist aber: Alles, was der Verband Freischreiber bisher mit großer, bewundernswerter Energie getan hat – mit viel zu wenig echter Unterstützung zum Beispiel von mir, der ich nur passiver Beitragszahler bin – hatte immer nur das Ziel, mehr Fairness zwischen Freien und Redaktionen zu erkämpfen. Freischreiber baut Brücken, und das viel besser, als selbst die meisten Mitglieder es wahrscheinlich bei der Gründung gedacht hätten. Aber das Vorgehen beim „Hölle“-Teil des Preises ist offensichtlich weder fair noch besonders konstruktiv.

Nominiert für den „Hölle“-Preis sind NEON, Spiegel Online und die Für Sie. Die Chefredakteure der ersten beiden Titel haben sich öffentlich sehr, sehr verärgert gezeigt darüber, dass sie plötzlich mit anonym geäußerten Vorwürfen konfrontiert sind. Im Fall von Spiegel Online betrifft das Vertragsbedingungen, die objektiv überprüfbar sind – allerdings ist Spiegel Online nach Aussage des Chefredakteurs Matthias Müller von Blumencron bereits dabei, diese Passagen zu überarbeiten, ironischerweise wohl sogar angestoßen durch einen Brief, den Freischreiber im Sommer an die Chefredaktion geschickt hatte. Für diese Art der konstruktiven Zusammenarbeit ist der konfrontative Preis sicher keine Hilfe, und er passt auch nicht zum bisherigen Stil meines Verbandes.

Im Fall von NEON sind die Vorwürfe aber noch ein Stück problematischer: Angeblich würde die Redaktion Ideen und Themenvorschläge, die von Freien eingebracht werden, an andere – wohl meist interne – Schreiber vergeben, kurz: Themen klauen. Jetzt wird es doppelt kompliziert, denn das ist erstens tatsächlich kaum zu überprüfen, zweitens auch ein gern geäußerter Vorwurf von Leuten, die sehr unkonkrete Ideen vorschlagen (ich habe mal gehört, wie jemand behauptete, die Redaktion des inzwischen eingestellten Interview-Magazins Galore hätte ihm ein Thema geklaut. Das Thema war „Ein Interview mit Kylie Minogue“) und drittens ist das ein übler Vorwurf – Themen klauen ist eine Todsünde für Redaktionen. Plötzlich und ohne Belege öffentlich diesem Vorwurf ausgesetzt zu sein ist hart, und Chefredakteur Michael Ebert ist sehr sauer darüber. Ich muss sagen, ich finde, er hat damit recht.

Ich persönlich kann nichts zu dem inhaltlichen Vorgang sagen. Ich bin im Zuge der Recherchen über die Nominierungen nach meiner Erfahrung gefragt worden und habe damals gesagt, mir gegenüber ist die Redaktion von NEON in jedem einzelnen Fall sehr, sehr fair aufgetreten, in einigen Fällen sogar überragend großzügig mit ihrer Unterstützung. Ich hätte gedacht, sie würden eher auf der Himmel-Seite des Preises nominiert. Aber, nächste Eskalationsstufe und letztlich der Grund, warum ich glaube, dieser Preis hat ein doch auch strukturelles Problem: Als Mitglied darf ich jetzt wählen, welcher der nominierten den Preis jeweils bekommt. Ich persönlich finde, NEON verdient ihn nicht, ich müsste also einen der beiden anderen wählen – habe aber für beide noch gar nicht gearbeitet. Das ist nicht gut.

So findet sich der Verband, an dem ich sehr hänge, von dem ich viel halte und dessen Erfolg mir wichtig ist in einer echten Zwickmühle: Dieser Preis war gedacht als konstruktive Kritik, die Anstoß geben soll zu einer besseren Zusammenarbeit zwischen Redaktion und Freien in der Zukunft. So etwa, wie Politiker „Dinge zuspitzen“ um Debatten hervorzurufen. Leider sind mein Verband und ich in diesem Falle Guido Westerwelle: Wir haben uns im Ton vergriffen. Und das schadet der Wertschätzung, die dieser Verband bisher auch von den kritisierten Redaktionen entgegengebracht bekam. Dieser Preis hat den doofen Namen „Hölle“ und den Zusatz „fieseste Redaktion“, aber er war gedacht als ein ehrliches Wort unter Kollegen.

Ich habe eine Lösung dafür, aber sie ist aberwitzig: Ich weiß, dass Michael Ebert und Matthias Müller von Blumencron stinkesauer sind, und ich habe schon gesagt, ich finde, sie sind es zu recht. Aber ich habe einen winzigen Fitzel Hoffnung, dass ausgerechnet sie sich am Ende eines reinigenden Gewitters trotzdem hinstellen und den Preis so verstehen werden, wie er gedacht war, und nicht so, wie man ihn verstehen musste, weil er scheiße aufgezogen worden ist. Beide haben das in ihren Interviews durchklingen lassen: Dass sie grundsätzlich Respekt für den Verband und sein Anliegen haben. Deshalb schlage ich folgendes vor: Wir sehen ein, dass es, wenn wir den Preis und seine Ziele ernst nehmen, in diesem Jahr nur einen würdigen Preisträger geben kann: uns selbst. Wir waren nicht fair. Ich werde am Wahltag einen Wahlzettel abgeben, auf dem die „Hölle“-Stimmen ungültig gemacht sind.

Und ich würde Michael Ebert, Matthias Müller von Blumencron und wenn sie sich angesprochen fühlt auch Sabine Fäth von der Für Sie von Herzen bitten, die Größe zu zeigen, am Abend der Preisverleihung zu einer Diskussionsrunde über die Zusammenarbeit von Redaktionen und Freien teilzunehmen. Dabei können die Vorwürfe ja ausgesprochen werden und wir können versuchen, zu beurteilen, welche Substanz sie haben. Aber wir sollten das im Gespräch tun, nicht in der Konfrontation. Ich glaube, wir können in dieser Situation nur darum bitten, denn wir haben es trotz guter Intention verbockt. Wir sollten die Größe haben, das zu sagen.

Aber die echte Arbeit liegt nicht bei dem, der sich entschuldigt, sondern bei dem, der die Entschuldigung annehmen oder ablehnen muss. Man kann und darf da nichts erwarten oder voraussetzen. Aber ich habe Hoffnung.

PS. Der großartige Kollege Christoph Koch auch.

Die WELT hat eine Lösung für die Schuldenkrise: Lasst arme Schulen pleite gehen!

In der Welt geißelt heute eine Stellvertretende Chefredakteurin die Tatsache, dass es auf der ganzen Welt reiche Menschen gibt, die eine Reichensteuer fordern, obwohl sie die ja selbst bezahlen müssten. Nachdem sie diese Tatsache kolportiert hat („Wir leben wahrlich in ungewöhnlichen Zeiten“) steigt die Autorin steilst in ihre These ein.

Forderungen nach einem höheren Spitzensteuersatz oder einer Vermögensteuer kommen gemeinhin von der politischen Linken. Dass viele Linke die Wirkkraft „des Kapitals“, wie sie denunziatorisch Unternehmen nennen, für Wohlstand und Vorankommen unserer Volkswirtschaften verkennen, ist so traurig wie wahr.

Natürlich ist es nur ein rhetorischer Kniff, seine eigene Ausführung mal eben als wahr zu kennzeichnen, aber es hülfe der Aussage nichtsdestotrotz, wenn sie stimmte. Aber was für ein Blödsinn ist denn das?

Wer nennt ein Unternehmen denunziatorisch „Kapital“? In keiner einzigen Theorie oder Lehre der Welt werden Unternehmen als Kapital bezeichnet. Kapital ist in der Volkswirtschaftslehre ein Produktionsfaktor und bezeichnet bei Marx Geld, dass nur zur Profitgewinnung eingesetzt wird. Das Unternehmen an sich ist für die Linken im Gegenteil eine so tolle Sache, dass sie finden, möglichst alle sollten welche haben. Aber das ist nebensächlich.

Das Lustigste an dieser Passage ist nämlich die Bräsigkeit, mit der die Tatsache, dass die Forderung nach einer Reichen- oder Vermögenssteuer im beschriebenen Fall überall auf der Welt keineswegs von „Linken“ gefordert wird, zur Seite gewischt wird, weil es die Meinung der Autorin verlangt, auf Linke einzuschlagen. Wenn Reiche tatsächlich fänden, der Staat habe gerade ganz einfach zu wenig Geld, dann würde das ihr Weltbild zerstören. Also darf es nicht sein. Sie schlägt einfach dahin, wo sie offenbar immer hinschlägt. Das ist schon kein rhetorischer Kniff mehr, das ist der Versuch, eine Olympische Goldmedaille für sich zu reklamieren, weil man schließlich viel schneller gelaufen wäre, nur ganz woanders und leider ohne Zeugen. Aber echt wahr.

Ihre notorische Forderung nach Reichensteuern dient daher nicht der vielgepriesenen Gerechtigkeit, denn die läge in einer Befreiung der Mitte aus der kalten Progression. Nein, mit dem Dauergebet von der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich wird nur ein Ressentiment bedient und Neid gegen „die Reichen“ geschürt.

Ähm, ja? Mit dem „Dauergebet“ von der wachsenden Schere wird nicht die wachsende Schere kritisiert sondern nur der Neid geschürt? Also der Neid, der nicht dadurch entsteht, dass Reiche überall auf der Welt in so extremer Weise immer reicher werden, dass einige von ihnen selbst fordern, man solle sie gefälligst höher besteuern? Die wachsende Schere ist ein nachgewiesener Fakt, aber manche Meinungen mögen nicht von Tatsachen behindert werden. Aber wir reden ja hier sowieso schon anlassfrei über Linke, deshalb unterfüttern wir die Argumentation auch lieber faktenfrei.

Dass einzelne Unternehmer mehr Steuern zahlen wollten, sei ein bemerkenswertes Signal, fällt der Autorin auch auf, und sie möchte ihnen den Spaß auch gar nicht nehmen.

Wenn Reiche mehr für ihre Gesellschaft tun wollen, sollten sie spenden und stiften, wie dies die großen amerikanischen Unternehmer von Carnegie bis Gates immer taten. Niemals hätten sie dem Staat Aufgaben überlassen, die doch tief im Bürgersinn verankert und in Kommunen und Städten gut aufgehoben sind.

Abgesehen davon, dass Kommunen und Städte Teil unseres gemeinsamen Staates sind: Meint die Autorin tatsächlich, man solle letztlich die Qualität von Schulen davon abhängig machen, ob sich ein großzügiger Spender für sie findet? Ähm, ja, ganz genau.

Niemand hindert Otto oder Westernhagen, ihr Geld für die Sanierung von Schulen zu spenden oder andere Projekte zu fördern, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dienen. Der Staat aber muss endlich schlanker werden. Mitleid hat er nicht verdient.

Das ist so bizarr, dass man ein irres Kichern hinter den Zeilen zu hören glaubt. Wenn Herr Otto (der Versandunternehmer) oder Herr Müller-Westernhagen, die als Reiche eine Reichensteuer fordern, nun gerade die Schule meiner Tochter nicht bedenken, soll diese nicht saniert werden, um dem Staat eine Lehre zu erteilen? Und mir vielleicht auch, weil ich nicht reich bin? Immerhin gehöre ich wahrscheinlich zu der Mittelschicht, der die Welt-Vize-Chefredakteurin die Steuern gesenkt sehen will, insofern ist sie wahrscheinlich im Gegenteil dafür, dass die Schule meiner Tochter noch weniger Geld bekommt. Da soll der Staat doch mal sehen, was er davon hat! Selbst schuld!

Abgesehen davon, dass der Text historische, politische und logische Schwächen hat, zeigt er doch zumindest, dass die Autorin eine Meinung hat. Aber wenn es ihre eigene ist, warum versteht sie sie dann nicht?

Es ist ja nicht so, dass irgendjemand die Meinung vertreten würde, „der Staat“ solle Geld verprassen. Niemand will das. Natürlich muss jeder Staat seine Steuereinnahmen effizient einsetzen, und natürlich kann man ewig darüber streiten, ob er es tut und dass er es regelmäßig an vielen Stellen nicht tut. Aber genau das macht die Autorin ja nicht. Was wäre denn sinnvoller eingesetztes Steuergeld als die Sanierung einer Schule? In unserer kompletten Debatte um die Zukunft Deutschlands, die Wirtschaft, Integration, was auch immer – die zentrale Forderung ist immer: bessere Bildung. Das ist keine linke Position, das ist das Mantra quer durch die gesamte Republik. Zu recht. Und genau das sollen wir dem Goodwill von Reichen überlassen? Das ist der Punkt, an dem die Autorin findet, wir hätten zu viel Staat?

Der Staat hätte bewiesen, dass er schlecht haushaltet und die Politik suche nur Sündenböcke für die Schuldenkrise, die sie selbst verursacht habe, geht der Kern der Argumentation. Das Zweite ist zumindest insoweit Quatsch, als man alle Bankenrettungsschirme aus allen Staatsschulden herausrechnen müsste, um ein Bild von der Schuld der Politik zu haben, und dann sähe die Welt anders aus (die Welt wahrscheinlich nicht). Aber selbst wenn man das als Meinung gelten lassen wollte, ist dann die Antwort, Schulen verfallen zu lassen, damit Reiche nicht mehr Steuern zahlen müssen – und gleichzeitig einfach nicht mehr darüber zu reden, dass die Reichen immer reicher werden, um keinen Neid zu wecken?

Ich sehe meine Tochter schon nachhause kommen und mit großen Augen erzählen: „Papa, ich habe durch den Zaun gesehen, an der Roland-Berger-Gesamtschule regnet es gar nicht rein und alle Fenster haben Scheiben!“ Ich sag ihr dann: „Nicht neidisch sein, das ist, weil ein guter reicher Mensch ihnen hilft. Und wenn wir ganz lieb sind, dann hilft uns sicher auch irgendwann einer. Reiche sind so!“

Das muss eine ganz biestige Sache sein, diese „viel gepriesene Gerechtigkeit“. Ist die ansteckend?

Mir wurde noch nie ein Preis aberkannt

Vorweg: Den Grad der gefühlten Demütigung einer Branche erkennt man daran, wie viele Preise sie sich selbst verleiht. Der Journalismus vergibt sehr viele Preise. Ich selbst bin eigentlich der einzige Journalist, den ich kenne, der noch nie irgendeinen davon gewonnen hat, und nicht, weil ich nicht wollte, sondern weil es offensichtlich nie dafür gereicht hat. Insofern bin ich der Allerschlechteste, um über Journalistenpreise zu schreiben – mehr Demütigung geht ja gar nicht. Aber wer will mich davon abhalten?

Für alle, die das Glück haben in einer Welt zu leben, in der das scheißegal ist: Dem Sieger des renommiertesten deutschen Journalistenpreises „Henri Nannen Preis“ ist – auch noch in der Königsdisziplin Reportage – die am Freitag verliehene Auszeichnung am Montag wieder abgenommen worden, weil er einen entscheidenden Teil des von ihm Beschriebenen nicht selbst erlebt hat. Er hatte über die Modelleisenbahn des bayrischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer geschrieben, und ausgerechnet aus ihr eine komplette, lesenswerte Persönlichkeitsstudie abgeleitet (die Geschichte heißt „Am Stellpult“ und Seehofer wird als einer beschrieben, der mit Menschen manövriert).

Es ist viel darüber geschrieben worden, ob die Aberkennung richtig war oder nicht.

Aber ich habe eine Meinung noch nicht gelesen, zufällig meine eigene, und deshalb schreibe ich sie hier.

Der Autor René Pfister steigt in die Geschichte ein:

Ein paarmal im Jahr steigt Horst Seehofer in den Keller seines Ferienhauses in Schamhaupten, Weihnachten und Ostern, auch jetzt im Sommer, wenn er ein paar Tage frei hat. Dort unten steht seine Eisenbahn, es ist eine Märklin H0 im Maßstab 1:87, er baut seit Jahren daran. Die Eisenbahn ist ein Modell von Seehofers Leben.

[…] Seit neuestem hat auch Angela Merkel einen Platz in Seehofers Keller. Er hat lange überlegt, wohin er die Kanzlerin stellen soll. Vor ein paar Monaten dann schnitt er ihr Porträtfoto aus und kopierte es klein, dann klebte er es auf eine Plastikfigur und setzte sie in eine Diesellok. Seither dreht auch die Kanzlerin auf Seehofers Eisenbahn ihre Runden.

Seehofer hat sich in Schamhaupten eine Welt nach seinem Willen geformt, er steht dort am Stellpult, und die Figuren in den Zügen setzen sich in Bewegung, wenn er den Befehl dazu erteilt. […]

Pfister hat den Keller nie gesehen, sondern sich von Seehofer während einer Reise nach China davon erzählen, und sich von anderen, die den Keller mal gesehen haben, später Seehofers Beschreibung bestätigen lassen (was journalistisch einwandfrei ist, aber nach Ansicht der Jury hätte man es kennzeichnen müssen, denn es entspricht nicht der klassischen Vorstellung von einer Reportage als Augenzeugenbericht – nur darum ging es in der Aberkennung des Preises).

Dazu hätte ich eine Anmerkung: Wenn der Journalist neben dem Ministerpräsidenten in einem Flugzeug sitzt, und Seehofer – der ja weiß, dass alles was er sagt einem Text über ihn dienen soll – erzählt davon, wie er im Keller Angela-Merkel-Bildchen auf Modelleisenbahnen klebt … ist das nicht die hundertmal geilere Szene? Ein Politiker, der will, dass man ihn als Stellmeister portraitiert, und dabei von infantilem Zeug wie seiner Modelleisenbahn erzählt? Die Szene im Flugzeug hätte ich lieber gelesen als das Zeug über seinen Allmachts-Keller, das Seehofer selbst verbreitet.

Aber vielleicht ist das genau der Grund, warum ich nie einen Preis gewinne.

PS. Der klügste Text zum Thema stammt übrigens wie erwartet von dem völlig zurecht preisgekrönten Wolfgang Michal. Deshalb verlinke ich ihn erst ganz hier unten. Es reicht bei mir vielleicht nicht für Preise, aber ich bin ja nicht total doof.

Helden.

Kaiserwetter. Ein Tag, um Helden zu zeugen, und gleichzeitig der Tag, der bestimmt ist von dem Schatten der Trauer um die beiden in Misurata getöteten Fotografen Tim Hetherington und Chris Hondros.
Ich habe nun den ganzen Tag über immer wieder über die beiden gelesen oder Nachrichten im Radio gehört, und ich muss sagen, ihre Geschichte macht mich doppelt traurig. Ich könnte keinen größeren Respekt haben als vor Kollegen, die unter gefährlichen Umständen der nobelsten Aufgabe unseres Berufes nachgehen: Der Welt zu zeigen, wie es wirklich ist.

Und ich finde, es muss Journalisten auch erlaubt sein, als Gruppe besonders um die eigenen Kollegen zu trauern und mit ihren Familien zu fühlen. Mir geht es genau so.

Aber ich finde, wer das Eine tut, muss das andere nicht lassen: Die ausführliche, respektvolle und wichtige Berichterstattung über den Tod der beiden Kollegen zeigt aus meiner Sicht einmal mehr auf, wie wenig wir eigentlich über diejenigen berichten, die in unserem Auftrag den wohl noch gefährlicheren Dienst tun, irgendwo am Ende der Welt.

Ich war und bin gegen den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, aber gerade deshalb finde ich es wichtig, es immer wieder zu sagen: Als Bürger dieses Landes, als Nachbar, als Freund, gelten meine Gedanken, meine Solidarität und mein Respekt nicht nur den Kollegen, die über kriegerische Auseinandersetzungen überall auf der Welt berichten, sondern auch den Frauen und Männern in Uniform, die nicht mit ihren Familien Ostern feiern können, weil wir sie in solche Auseinandersetzungen schicken. Ich hoffe, sie kommen bald nach Hause. Aber wichtiger noch als bald: Ich hoffe, sie kommen gesund und sicher nach Hause.

Ich weiß, ich neige zum Pathos. Aber manchmal muss man Dinge einfach sagen. Frohe Ostern!

Standard der Reichen

Die Rating-Agentur Standard & Poor’s hat den USA gerade eine makellose Kreditwürdigkeit bescheinigt (AAA), dabei aber angedeutet, es könnte in der Zukunft einmal so etwas wie ein Hauch eines Zweifels an der Zahlungsfähigkeit des Landes aufkommen. Mit anderen Worten: amerikanische Staatsanleihen sind heute nach Meinung von S&P todsicher, werden aber möglicherweise einmal nur noch sehr sicher sein. Klingt langweilig? Schon, aber nur, wenn man sich für Wirtschaft interessiert. Wenn man stattdessen hauptberuflich darüber schreibt, dann kann man sich davon zu einer Menge spannender Zeilen inspirieren lassen.

Spiegel-Online schreibt von einer „Rating-Schmach“, die Frankfurter Rundschau kommt in einer so genannten Analyse zu dem Schluss, die „Weltschuldenmacht“ habe nur noch eine „letzte Chance“, alles überragend weiß aber vor allem die FAZ, was Barack Obama jetzt tun muss: Unter der irreführenden Headline „Herabgesetzt“ fordert Patrick Welter, Obama müsse jetzt mal ganz schnell damit aufhören, dauernd Dinge für die Armen zu tun.

Während andere Länder einen mittelfristigen Defizitabbau beschlossen und mit der Umsetzung begannen, musste in Amerika die Sanierung des Staatshaushaltes hinter großen Sozialprojekten wie der Gesundheitsreform zurückstehen. […] Die Quittung für diese Sorglosigkeit hat Obama jetzt erhalten.

Obama setze auf „wundersame Einsparungen in den Sozialversicherungen“ während die Republikaner „sich im Interesse des Wachstums jeglicher Steuererhöhung“ verweigerten. Die Argumentation ist so derart simpel, dass es fast wehtut: Jeder Sozialstaat ist schlecht, Steuersenkungen sorgen für wirtschaftlichen Aufschwung.

Das allein wäre noch nicht unbedingt verwunderlich, denn natürlich ist all das schon tausendfach widerlegt, aber da jede Art von Prognose sich auf die Zukunft bezieht, mag meinetwegen jeder seine Meinung haben und mit einer Art Argumentationssimulation tarnen. Mein Problem ist ein ganz anderes: Die Empfänger der Botschaft vom schlechten Sozialstaat und der Mär von der erdrückenden Schuldenlast sitzen nämlich ganz eindeutig nicht in den USA. Wie nichtig die Nachricht über die unverändert perfekte Bewertung der USA tatsächlich ist, lässt sich nämlich sehr einfach an der Reaktion der Menschen ablesen, die tatsächlich etwas von der Materie verstehen: Gäbe es auch nur den Hauch eines Zweifels an der Kreditwürdigkeit der USA hätten die Zinsen für US-Staatsanleihen am Montag steigen müssen. Tatsächlich sind zum Beispiel die für 10-jährige Bonds gefallen. Und am Dienstag wieder. Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman nennt die S&P-Bewertung auf seinem Blog einen „Non-Event“.

Das zum Anlass zu nehmen, derart abenteuerlich die Tatsache anzugreifen, dass zigmillionen US-Amerikaner zum ersten Mal eine Krankenversicherung haben, hat offenbar ein anderes Ziel. Nachdem die Hetze auf Hartz-IV-Empfänger ja von der Bild schon wieder eröffnet wurde, bin ich gespannt, wann wir uns angeblich deren Krankenversicherung nicht mehr leisten können.

Krisen-PR: Wir Unvergleichlichen – aktualisiert

Es kann sein, dass ich einfach viel zu wenig Ahnung habe, um das zu beurteilen, aber es wundert mich doch, wie viele deutsche Politiker im Zusammenhang mit der japanischen Atomkatastrophe gerade mit Sätzen davonkommen wie der bayrische Umweltminister Markus Söder:

Fakt ist: Japan ist nicht mit Deutschland vergleichbar. Bei uns gibt es keine vergleichbaren Erdbeben und Tsunamis.

Wenn ich es richtig verstehe, dann ist der direkte Auslöser für die Kernschmelzen ein Stromausfall, durch den die Kühlung der Reaktoren zum Erliegen gekommen ist.

Und eine Naturkatastrophe, einen Unfall oder Anschlag, durch die erstens der Strom ausfällt und zweitens die Zugänge zu einem Reaktor so versperrt sind, dass Ersatz nur schwer durchkommt ist in Deutschland vielleicht schwer vorstellbar, aber doch um einiges wahrscheinlicher als ein Erdbeben oder Tsunami dieser Stärke.

Reiner Matzger hat in einem Kommentar in der taz deutliche Worte für die Vertuscher der Atomlobby gefunden. Der Originaltitel des Kommentars ist inzwischen entschärft, aber in der URL noch nachlesbar. Ich wüsste nicht, wie man ihm da widersprechen sollte.

PS: Die nächste Phase ist gezündet, und vorneweg marschiert der mir fast lieb gewordene Jan Fleischhauer, der wie jede Woche versucht, sinnlose Positionen damit zu verteidigen, dass er sie für irgendwie stilvoller hält. Das Argument lautet ungefähr so: Die Kernkraftgegner sind trotz allem immer noch im Unrecht, weil sie sich heimlich darüber freuen, dass es endlich den Unfall gegeben hat, der beweist, dass sie immer Recht hatten.

Viel ist jetzt vom Mitgefühl mit den Menschen die Rede, die in Japan aus Sorge vor einer Kernschmelze aus ihren Wohnorten weggebracht werden mussten. Wer an diesem Mitgefühl Zweifel hegt, setzt sich heftigen Verwünschungen aus. „Inhuman, widerlich und zynisch“ nannte der grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck einen Twitter-Eintrag, in dem der Autor dieser Kolumne den Verdacht äußerte, dass der Kernkraftgegner im tiefsten Inneren seines Herzens immer den Unfall herbeisehnt, weil dieser auf drastische Art seine Befürchtungen bestätigt, vorausgesetzt natürlich, er ereignet sich nicht vor der eigenen Haustür.

Das ist in einer Größenordnung bizarre Logik, die es mir unmöglich macht, noch irgendeinen Gedanken des Herrn Fleischhauer ernst zu nehmen – bisher war es ja nur sehr schwierig. Aber fürs Protokoll: Wer derart neben den Ereignissen argumentieren muss, um noch irgendeinen lächerlichen Punkt zu machen, der weiß offensichtlich selbst, dass er verloren hat. Aber zu behaupten, diejenigen, die immer vor der Gefahr gewarnt und ein Ende der Atomkraft gefordert haben, wären heimlich froh über den Unfall, ist derart ekelhaft, verlogen und wider jede Realität, dass man sich schon fragen darf, ob das nur die simple Lust an der Provokation ist, oder ob man nicht doch ein echtes Arschloch sein muss, um überhaupt auf solche Ideen zu kommen.

Dummes Volk?

Es ist ohnehin auf eine dunkle Art faszinierend, welchen Phantomschmerz der Rücktritt von Karl-Theodor zu Guttenberg auslöst, aber am faszinierendsten – und auch am traurigsten – finde ich die Tendenz, mit der auch heute, wo die Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Anhängern erröteten Barons längst eindeutig entschieden ist, eine fatale Meinung vertreten wird: Wer heute noch zu dem ehemaligen Verteidigungsminister steht, muss in den Augen vieler, auch Medienschaffender, ganz offensichtlich dumm sein. Man liest, hört und sieht diese Haltung an vielen Stellen, vornehmlich in den Kommentarspalten, aber zwischen den Zeilen auch bei Kommentatoren. Das Volk hat sich nach Meinung vieler von dem Mann blenden lassen, es ist einfach nicht klug oder schlau genug, seinen Schwindel zu durchschauen. Abgesehen davon, dass mich die Arroganz dieser Haltung ankotzt, ist die Schlussfolgerung auch – dumm.

Die Wahrheit ist sehr einfach, es gibt unter denen, die sich überhaupt für den Vorgang interessieren, nur drei Gruppen: Diejenigen, die KTzG sowieso nicht mochten, diejenigen, denen sein Vergehen so schwer aufgestoßen ist, dass sie ihn unabhängig von Sympathie nicht mehr in diesem verantwortungsvollen, auch würdevollen Amt haben wollten und diejenigen, die ihn ohne Wenn und Aber sowieso geliebt haben. Über die reden wir hier. Sie mögen ihn und vertrauen ihm. Das ist nicht naiv, sondern Voraussetzung für Demokratie: Um zu wählen müssen wir vertrauen. Und wir vertrauen lieber denen, die wir mögen. Das klingt zu einfach, aber es ist so: Grundsätzlich reicht Sympathie in einer Demokratie, um in ein Amt gewählt zu werden, und trotzdem haben es Populisten in diesem Land (mit einigen unrühmlichen Ausnahmen in meiner geliebten Heimatstadt Hamburg) nicht besonders leicht, in die Parlamente zu gelangen. Die Wähler sind nicht dumm. Plötzlich einen großen Teil der Bevölkerung für dumm zu halten, weil sie an einem Betrüger Qualitäten sieht, die einen Verbleib im Amt trotz seines Betruges für richtig halten, ist sehr kurz gesprungen. Es bedeutet vor allem, dass man sich vor einer echten Analyse drückt. Warum stehen so viele immer noch zu dem Lügenbaron?

Da ist zum einen sein Vergehen, das von vielen als nichtig betrachtet wird. Und das ist nicht unverständlich. Ich bin beeindruckt von der geballten Aktion der wissenschaftlichen Community, die letztlich zu KTzGs Sturz geführt hat, und ich halte ganz persönlich selbstverständlich sein Plagiat und die Lügen in der Folge für schwerwiegend und für einen Rücktrittsgrund. Aber muss man dumm sein, um das anders zu sehen?

Das Plagiat an sich ist ein Verbrechen ohne Opfer, dessen Schwere für Menschen, die nicht direkt mit der Materie zu tun haben, schwer vermittelbar ist. Um ein schräges Beispiel zu bemühen: Es hat eine ganze Weile gedauert, bis sich die Rechtsprechung auch in Deutschland dazu durchgerungen hat, zum Beispiel den Vertrieb gefälschter Uhren zu verurteilen, bei denen jedem klar war, dass sie falsch sind. Denn wenn jemand, nennen wir ihn O., in Bangkok eine gefälschte Rolex für 20 Dollar bei einem Straßenhändler kauft, dann entsteht ihm kein Schaden. Er weiß ja, dass sie falsch ist. Auch Rolex entsteht kein materieller Schaden, denn der O., der für 20 Dollar eine falsche Uhr kauft, verzichtet garantiert nicht deshalb auf den Kauf einer echten. Was also ist das Verbrechen?

Das Verbrechen ist, dass alle Beteiligten das geistige Eigentum am Design und dem Logo von Rolex verletzt haben. Das kann (und aus meiner Sicht auch: sollte) man schlimm finden. Aber mal ehrlich: pffft? Ich könnte O. trotz seines Vergehens mögen. Genau wie die von KTzG zitierten Autoren zu Recht beleidigt sein können, denn er hat sich an ihrem geistigen Eigentum vergriffen. Und er hat es in einer gewerbsmäßigen Größenordnung gemacht. Das ist strafbar, unehrlich und schmierig. Aber ich kann zumindest nachvollziehen, dass nicht jeder es für so ein ernstes Vergehen hält, wie ich das tue.

Außerdem hat Guttenberg eine falsche Ehrenerklärung abgegeben und seinen Doktorvater nach Strich und Faden belogen. Auch das finde ich furchtbar bis an den Rand des Fremdschämens. Auch das ist für mich ein Rücktrittsgrund für einen Minister. Aber was entgegne ich jemandem, der findet, dass ein langjähriges Betrügen der Ehefrau damit im Prinzip vergleichbar ist? Das fände ich nämlich auf der anderen Seite keinen Rücktrittsgrund, obwohl mir als Begründung gerade nicht mehr einfällt, als dass Seitensprünge Privatsache sind. So ganz entkräftet das den Einwurf aber zugegebenerweise nicht, denn auch Seitensprünge sagen etwas über den Charakter und das Einhalten von Ehrenworten. In seiner Funktion als Minister fühlten sich viele aber offensichtlich von Guttenberg durch sein Erschleichen eines Doktortitels so wenig getäuscht wie von einem, der in seinem Privatleben fremdgeht. Man könnte bis hierher sagen: Ja, er hat gelogen, aber er hat mich nicht belogen. Das macht einen Unterschied.

Drittens muss sich der Träger der falschen Rolex (und in gesteigerter Weise der Träger eines falschen Titels) den Vorwurf gefallen lassen, er sei ein Blender. Natürlich ist er das. Er schmückt sich mit etwas, das er nicht verdient hat. Er versucht, mehr darzustellen, als er ist. Das ist kein einnehmender Zug, es ist sogar meist ganz schön armselig. Aber die Unterstellung, die Anhänger von KTzG würden auf sein Blendwerk hereinfallen, obwohl es doch schon enttarnt war, blendet ihrerseits eine Möglichkeit ganz einfach aus: Auch wenn man das Blendwerk abzieht kann bei einem Menschen noch genug übrig bleiben, das man lieben kann. Ganz offensichtlich haben viele Menschen das Gefühl gehabt, KTzG hätte irgendwann früher auf dem Weg nach oben zum Mittel der Blendung gegriffen, hätte aber hier und heute genügend eigene Größe, um Minister zu sein. Seien wir für einen Moment mal realistisch und erinnern uns an Guttenbergs Einstieg ins Kabinett, als er sich wie ein Gockel posierend auf dem Times Square fotografieren ließ – glaubt irgendjemand tatsächlich, dass es in diesem Land jemanden gibt, der nicht von Anfang an auch ein gutes Stück Eitelkeit und ein gutes Stück Blendwerk in KTzG erkannt hat? Bei einem Mann mit so einer Frisur? Also bitte, natürlich wusste jeder, dass der Typ auch ein Blender ist. Darüber sollten die Leute sich nun aufregen? Haben sie nicht. Sie haben dabei sicher nicht in Betracht gezogen, welchen Schatten das trotzdem auf die Wissenschaft an sich geworfen hätte, und den meisten Menschen ist die Wissenschaft an sich wahrscheinlich auch keine echte Herzensangelegenheit – aber das ist, ehrlich gesagt, auch ihr gutes Recht. Schlimm finde ich diese Einstellung vor allem von Frau Doktor Merkel und ihren schamlosen Kumpanen.

Und es bleiben Guttenbergs Lügen, das scheibchenweise fast Zugeben, das Lavieren und die rhetorischen Spielchen rund um das Wichtigere und die toten Soldaten. Allerdings glaube ich, dass wer bis hierhin zu KTzG gehalten hatte, sich festgelegt hatte, und es von nun an nur noch darum ging, die einmal gefundene Überzeugung mit irgendetwas zu untermauern, was sich wie ein Argument anfühlte. Denn natürlich ist „Haben wir denn keine wichtigeren Probleme in Deutschland“ kein Argument – oder wenn, dann eines gegen praktisch alles. Dann könnten wir über gar nichts mehr reden. Aber man darf dabei eines auch nicht übersehen: KTzG hat bis heute den in seiner Dissertation wohl eindeutig erkennbaren Vorsatz zur Täuschung zwar nicht gestanden und sich dafür nicht entschuldigt, aber er hat gleichzeitig pausenlos irgendetwas gestanden und sich geradezu gebetsmühlenartig für irgendetwas entschuldigt. Aus Sicht der Kritiker, auch aus meiner, war das ein rein taktischer Zug und im Zuge seiner Verteidigung eigentlich dafür gedacht, am Ende eben nicht zurücktreten zu müssen. Aber ist es wirklich so schwer verständlich, dass Menschen, die sehen, dass ihr Idol sich pausenlos entschuldigt, irgendwann genervt sind von dem Anwurf, dass er sich aber bitte endlich für etwas anderes entschuldigen soll? Ich glaube, hier hat der Ton die Musik gemacht, und auch wenn die Noten formal korrekt waren, hatten die Töne der Kritik oft einen kreischenden Klang.

Langer Rede kurzer Sinn: Man konnte auch ohne dumm zu sein einen Weg finden, weiterhin Guttenberg im Amt zu wollen – man musste es allerdings sehr wollen. Ich habe an dieser Stelle schon einmal aufgezählt, was Guttenberg aus meiner Sicht so erfolgreich (und auch gefährlich) gemacht hat, warum Menschen ihn also so sehr wollten. Aber eins muss ich hinzufügen, und zwar als einer, der ihn niemals wollte: Er ist weg, weil er schwere Fehler gemacht hat. Aber das heißt leider nicht, dass ich, dass wir, die wir ihn nie wollten, in allem Recht hatten. Ich hätte ihn wirklich lieber für seine Politik drangekriegt.

Muss man nicht gutt finden

Es muss zu den undankbarsten Aufgaben der Gegenwart gehören, sich als deutscher Oppositionspolitiker an Karl-Theodor zu Guttenberg abarbeiten zu müssen, denn an dem Verteidigungsminister prallt jede Kritik ab – und das nicht nur, weil er in enger Symbiose mit der Bild-Zeitung lebt, die teilweise den Eindruck eines Fanclubs hinterlässt.
Aber die Kritik prallt nicht nur ab, sie lässt auch diejenigen klein und erbärmlich wirken, die es auf sich nehmen, Deutschlands beliebtesten Minister auf seine Fehler hinzuweisen. Obwohl er als Verteidigungs- und vorher schon als Wirtschaftsminister (und, fairerweise sollte man das immer dazu sagen: als Kabinettsneuling) manchmal erratisch agiert, seine eigenen Einschätzungen und Entscheidungen ohne Erläuterung umwirft und in seiner Inszenierung durchaus auf beiden Seiten der Grenze des guten Geschmacks zu finden ist, entsteht von seinen Kritikern der Eindruck, sie würden ihm ganz einfach nicht gönnen, dass er so unglaublich toll ist. „Muss man nicht gutt finden“ weiterlesen