Wichtig ist auf welchem Platz

Der Berg der Berichte über Apples iPad hat einen Gipfel erreicht, wenn es nicht gar ein Gipfelkreuz ist, was Frank Schirrmacher in der FAS in der ihm eigenen Art unter dem Titel „Die Politik des iPad“ (leider noch nicht online) in einem überragend verwirrten wie verwirrenden Text gemacht hat. Am Ende ist es allerdings durchweg wie bei iPod und iPhone vorher: Es findet die Betrachtung von technischen Daten statt (und wie bei jedem Apple-Gerät wird festgestellt, dass sich die Faszination aus den Daten nicht ableiten lässt) und direkt im Anschluss die bizarre, pseudophilosophische Debatte aus der das Feuilleton hierzulande eine Daseinsberechtigung über die Kritik konsumierbarer Kultur hinaus ableitet. Wir bekommen die politischen Auswirkungen eines Computers erklärt, den weder wir noch die Rezensenten je in der Hand gehalten haben. Es ist drollig. Allerdings finde ich es auch ein gutes Stück weit überheblich, vor allem, weil ich keinen einzigen Text gefunden habe, der sich mit der echten Neuerung auseinander gesetzt hat, die das iPad möglicherweise für Mediennutzer bringt, und die am Ende die echte Neuerung für uns Medienschaffende bedeuten könnte (und damit, nebenbei, uns allen den Arsch retten). Ich habe – auch nach wirklich vielen Gesprächen, die ich im letzten Jahr oder so zu den Themen Print, Online und Tablet-PCs geführt habe – das Gefühl, es liegt daran, dass sich viele Verantwortliche diese Gedanken gar nicht machen. Ich halte es für fahrlässig, aber irgendwie auch für verständlich. Spätestens seit Steve Jobs‘ Keynote aber müsste es eigentlich mit der Gedankenlosigkeit vorbei sein, denn Jobs hat die „Killer-App“ seines iPad klar benannt – und es ist keine App.

Es ist das Allererste, das Jobs sagt, als er sich auf der Keynote mit dem Gerät hinsetzt um es zu demonstrieren: „Dieses Ding zu benutzen ist bemerkenswert. Es ist so viel intimer als einen Laptop zu benutzen.“ Das ist er, der entscheidende Punkt. So viel intimer. Es ist vollkommen unverständlich, warum über diesen Punkt in Verlagen nie gesprochen wird, aber der Schluss drängt sich auf, dass sich Verlage über die Produkte, die sie verkaufen, erstaunlich wenig Gedanken machen.
Bis heute hört man viele als feststehende Wahrheiten begriffene Sätze wie „Die Leute lesen keine langen Texte im Internet“. Es wird teilweise sogar als letztes Rückzugsgebiet der Zeitschrift missverstanden (wie beim Focus, wo der irrwitzig dünne Versuch eines Relaunchs gerade das letzte bisschen eigene Identität getötet hat, was auch immer man von dieser Identität gehalten haben mag). Dabei ist die Länge von Texten zunächst einmal vollkommen irrelevant. Tatsächlich aber habe ich noch nie, weder in Print- noch in Online- noch in integrierten Redaktionen irgendeinen Gedanken dazu gehört, dass die Produkte ganz offensichtlich an völlig unterschiedlichen Orten gelesen werden müssen: Während man zum Beispiel Zeitschriften in der U-Bahn, auf dem Klo oder im Mitarbeiterzimmer beim Frühstück liest, werden die meisten Online-Texte im Büro gelesen, jedenfalls an einem Computer und in sehr vielen Fällen aufrecht sitzend, vollständig bekleidet und nicht selten im Blickfeld von Kollegen. Journalisten können und wollen sich eine Welt wahrscheinlich nicht vorstellen, in der man an seinem Schreibtisch nicht den Playboy lesen kann, die komplette Süddeutsche oder den Spiegel, aber für den größten Teil der Bevölkerung ist es Realität. Allein die in Redaktionen durchaus bekannte Tatsache, dass Videos im Netz (die ja auch mal als der ganz große, heiße Scheiß für Nachrichtenseiten galten) eher abends als tagsüber gesehen werden hätte den Gedanken anstoßen können: Wenn die Medien in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen konsumiert werden, muss das dann nicht Auswirkungen auf den Inhalt haben?
So viel intimer: Aus diesem Satz – von dem ich glaube, dass er stimmt und dass er den wahren Unterschied zwischen dem iPad und jeder Art Laptop ausmacht – folgt eine Menge. Denn Intimität war unter anderem für Zeitschriften aus meiner Sicht ein definierendes Element.
Zeitschriften haben ihren Lesern die große, weite Welt gezeigt und ihnen dabei auch neue Welten eröffnet, sie haben sie mit wohligem Schauern erfüllt, mit Betroffenheit, Faszination, sie mit Freude erfüllt und mit Angst, ihnen in manchen Fällen Hoffnung gegeben und in anderen, in denen sie nahezu Unbegreifliches zu erklären oder zumindest nachvollziehbar gemacht haben, auch über Trauer hinweg geholfen. Zeitschriften werden, genau wie Fernsehnachrichten, emotional verstanden und verarbeitet. Der überwiegende Teil der Zeitschriften beschäftigt sich außerdem mit Hobbies und anderen Themen, die ihre Leser lieben und die ihnen deshalb ohnehin nah sind. Und wenn Henri Nannen von Lieschen Müller als der typischen Stern-Leserin gesprochen hat, dann hat er vor allem den Fehler umgangen, an dem heute der größte Teil der aktuellen Medien krankt: Das Überschätzen des Informationsstandes des Lesers bei gleichzeitigem Unterschätzen der Urteilsfähigkeit. Die meisten Menschen interessieren sich nicht für jeden Winkelzug der Politik. Sie können trotzdem sehr vernünftige (Wahl-) Entscheidungen treffen – oft aus einem Gefühl heraus. Das ist nichts Schlechtes: Emotion ist nichts anderes als eine Reaktion auf der Grundlage von zu vielen über die Jahre erlernten Emotionen, als das wir sie noch einzeln benennen könnten. Wer einen Leser intellektuell nicht unterfordert (wie es das Boulevard-System tut) und gleichzeitig emotional engagiert, der transportiert Informationen auf dem höchsten möglichen Niveau. Gute Dokumentarfilme können das in einzigartiger Weise – vor allem im Kino. Manche Bücher auch. Und Zeitschriften, wenn sie wirklich gut gemacht sind. Natürlich gibt es auch Online-Erzählformen, die eine ähnliche Qualität haben, aber auch sie leiden unter dem Abstand, den der Leser von dem Bildschirm hat. Oder eben: hatte. Bis jetzt.
Das ist eine gigantische Chance für die Produzenten von journalistischen Inhalten. Ich habe an dieser Stelle schon gesagt, dass ich glaube, die meisten Verlage werden diese Chance wieder einmal mit technischen Spielereien verschenken, aber dieses Mal ist noch etwas ganz anders geworden: Zum ersten Mal, seitdem das Internet Mainstream geworden ist, besteht tatsächlich die Chance für neue Unternehmen, sich einen Markt zu schaffen. Bisher waren im Netz ja nur die Verlängerungen klassischer Medienmarken leidlich erfolgreich, ganz neue Wettbewerber sind regelmäßig an der Tatsache verzweifelt, dass sie sich bei den Usern nicht als zuverlässige Lieferanten der gewünschten Inhalte verankern konnten. Bekannte Marken haben es da nicht nur einfacher, sie erfüllen eben die eine entscheidende Voraussetzung, die online bisher offenbar nicht aufzuholen war: Sie stehen dem User nah (Einschub: Ich weiß, dass sich die Nutzergruppen von Online- und Print-Produkten einer Marke manchmal kaum überschneiden, aber ich bin trotzdem davon überzeugt, dass die Marke den reinen Online-Usern ein Gefühl für die Seite gibt, das in Wahrheit mehr aus der Tradition der Marke denn aus den tatsächlichen Inhalten getriebenist. Auch beim 20-jährigen Spiegel-Online-Leser schafft die Marke Spiegel Vertrauen, selbst wenn er das gedruckte Heft nie liest).
Kaum einer Online-Medienmarke ist es bisher gelungen, mit seinen Lesern intim zu werden im Jobs’schen Sinne. Das kann sich nun ändern durch dieses Gerät, mit dem wir das Internet „in der Hand halten“. Denn wir dürfen nicht vergessen: Medien erzählen den Menschen Geschichten von Mord und Totschlag, von Katastrophen und Grausamkeiten, von Angriffen auf ihre Freiheit, ihre Sicherheit oder ihr Geld. Wir wissen, dass Kinder die Grausamkeiten in Grimms Märchen gut abkönnen, wenn ihre Eltern sie ihnen vorlesen, sie dabei also in Sicherheit sind. Wir wissen, wie wichtig die Anchorman der Nachrichtensendungen sind, die uns gleichzeitig mit den Nachrichten über das Elend und die Gefahren der Welt allein durch ihr Gesicht auch die tröstliche Sicherheit vermitteln, dass die Welt morgen noch existieren wird und irgendwie alles gut kommt. Verdammt, wir wissen, dass Günther Jauch der bestbezahlte Journalist des Landes ist – ein Gesicht, dass dafür steht, dass die Welt doch noch irgendwie normal ist. Kurz: Emotion. Sie ist ein Teil des Inhalts. Nicht nur als Abkürzung für den schäbigen Teil des Boulevards, der den Intellekt ausblendet, sondern gleichberechtigt neben der sachlichen Information. So merkwürdig es klingt: Vielleicht ist es ein entscheidender Schritt, dass wir das Internet mit aufs Klo nehmen können.
Und, übrigens: Ich glaube es nicht, aber ich kann auch nicht ausschießen, dass Frank Schirrmacher das mit den Emotionen verstanden hat und seine verwirrten und verwirrenden Texte schreibt, um Menschen wahnsinnig aufzuregen. Ich jedenfalls habe seinen zweimal gelesen, insofern war er einmal mehr erfolgreich.

Die arschlochfreie Kette – oder: Was der Focus nicht hat

Gegen Ende des letzten Jahrtausends kaufte eine Getränkefirma die Rechte an der Marke Afri-Cola, einer alten deutschen Marke, die immer noch eine gewisse Beliebtheit hatte. Und weil Marken in den Augen mancher (Fach-) Leute heute wichtiger sind als der Inhalt, wurde der Geschmack des Getränks an den Mainstream angepasst – mit mehr Zucker und weniger Koffein. Kunden wurden dazu nicht gefragt. Es wurde ihnen nicht einmal mitgeteilt.
Einige Leute machte das ziemlich sauer: Sie gründeten eine eigene Cola-Marke, die weitestgehend nach dem Originalrezept unter dem Namen Premium-Cola inzwischen mehr als 300.000 Flaschen pro Jahr verkauft (was nicht viel ist, aber es ist was).
Aber das ist nicht alles. Wenn man ein kleines Erfrischungsgetränke-Unternehmen vor allem deshalb aufbaut, weil man sich von seinem angestammten Händler betrogen fühlt, dann muss das eigentlich Konsequenzen haben. Bei Premium-Cola hatte es die. Bei Premium-Cola will man alle mit Respekt behandeln und so, dass am Ende alle zufrieden sind mit dem, was sie kriegen: Kunden, Händler, Großhändler, Spediteure, Mitarbeiter – die Stakeholder würde man sagen, wenn man so etwas gerne sagt. Warum etwas machen, und es dann nicht perfekt machen? Ohne Tricks und Rabatte, ohne irgendjemanden auszuquetschen oder zu drängen? Wenn man im Gegenteil, alles genau so machen würde, dass alle Beteiligten mit jedem einzelnen Schritt gut leben können? Weil außerdem nur solche Menschen mitmachen, die es auch wollen? Wie wäre denn die Produktion in einer, wie es einer der Premium-Cola-Beteiligten nennt, „arschlochfreien Kette?“
Seit gestern ist der überarbeitete Focus auf dem Markt. Er ist das Ergebnis von einem Dreivierteljahr Arbeit in drei verschiedenen Teams, aus deren Ergebnissen angeblich ein Best-Of-Potpurri gemischt wurde. Und aus meiner Sicht ist es so: Wenn dies die besten Ideen von drei verschiedenen Teams zusammenführt, die neun Monate Zeit hatten, sich Gedanken zu machen, dann ist das Ende der Zeitschriften in diesem Land besiegelt. Zumindest die erste Ausgabe ist eine unvorstellbar preiswert billig anmutende Mischung aus Designelementen der Mitbewerber – aber nicht einmal gut geklaut. Den Umgang mit Fotografie muss man noch einmal gesondert herausheben, weil er den absoluten Tiefpunkt von allem markiert, das ich je gesehen habe. Es ist bodenlos: langweilig und schlecht, und wenn im ganzen Heft zwei Fotos auch nur entfernt in ihrer Aussage die Geschichte stützen, die sie illustrieren sollen, dann ist das wahrscheinlich Zufall. Im Regelfall ist auf einem Focus-Foto einfach nur eine lächelnde Person zu sehen, egal worum es geht, und dementsprechend absurd und handwerklich abenteurlich sehen die Seiten aus. Eine lächelnde Familienministerin neben der Headline „Züge eines Kulturkampfes“. Ein lächelnder Weißhaariger unter der Head „Von wegen Märtyrer“. Ein lächelnder Guido Knopp unter der Headline „Mit dem Zweiten reist man besser“. Um den Focus überhaupt verstehen zu können muss man alles, was in ihm steht, bereits wissen (um Guido Knopp wird gerade ein Skandälchen um zu teure Dienstreisen konstruiert). Bis hin zur vom Spiegel abgeguckten Personalien-Seite, auf der dann allerdings statt echter oder gar exklusiver Anekdoten auch zusammenhanglose Interviewschnipsel der Schauspielerin Kristin Scott Thomas verarbeitet werden: Focus wirkt inzwischen wie ein Nachrichtenmagazin, dessen Redakteure als einzigen Informationsquellen die selben Medien zur Verfügung stehen wie den Lesern auch. Vielleicht liegt es an der Fallhöhe des Genres Nachrichtenmagazin, aber ich habe noch nie erlebt, dass irgendein Produkt so sehr „Sparkurs“ geschrien hat wie dieser Focus. Was auch immer zwischen den stuhlklebenden und stuhlschiebenden Chefredakteuren dort los ist – dem Heft hat es nicht gut getan.
Ausgehend von dem Ergebnis der langen Entwicklungsarbeit bleibt eigentlich nur die Frage: Will man dort in München tatsächlich ein Nachrichtenmagazin machen?

Ich möchte keinen Vergleich ziehen, sondern ein systemisches Problem aufzeigen, deshalb schlage ich noch einmal den Bogen zu der konsensdemokratischen Premium-Cola, bei der mehr als 170 Menschen sich einig sein müssen über jeden Händler, der sie ausschenken darf (der erste war Harry Schulz von Harrys Lütt’n Grill, und der ist immer noch begeistert), was auf dem Etikett steht und welche Zeitschrift über sie berichten darf (bei anderen bittet man höflich darum, ignoriert zu werden). Man gibt Anti-Mengenrabatte, subventioniert also kleine Händler, für die die Transportkosten sonst im Verhältnis zu hoch wären. Nachhaltig und CO2-neutral ist die Produktion natürlich nebenbei auch, und seitdem man neuerdings auch ein Premium-Bier braut, investiert man auch einen festen Prozentsatz der Erlöse in die Alkoholismus-Prävention. „Die arschlochfreie Kette – oder: Was der Focus nicht hat“ weiterlesen