Strukturreformen: Gibt es das auch als App?

Als die Firma Apple die neueste Version ihres Film-Schnitt-Programms „Final Cut“ vorstellte, gab es Kritik vor allem aus der professionellen Nutzerschaft. Offenbar war vielen derjenigen, die Jahre mit dem Erlernen aller Feinheiten des Programms verbracht hatten, die Nutzung jetzt eigentlich zu einfach. So wie die Generation derjenigen, die einmal DOS-Eingabebefehle oder gar Programmiersprachen gelernt hatten, mit denen man die Quersumme beliebiger und im Prinzip unsinniger Zahlenreihen errechnen konnte, fanden sie sich von einem Moment auf den anderen mit einer Menge obsolet gewordenen Wissens beladen. Es gibt Dinge, die muss man einfach nicht mehr wissen oder können, denn es gibt jetzt eine App dafür. Wirklich wissen, wie Dinge funktionieren, müssen heute nur noch diejenigen, die solche Apps programmieren. Und vielleicht noch jemand als Kontrollinstanz.

Journalisten, diese merkwürdigen Zwitter-, Tritter- und Quatter-Wesen (Twitter-Wesen hoffentlich auch) müssen in manchen Fällen Kontrollinstanz sein. Ihre eigentliche Aufgabe besteht aber letztlich darin, in den relevanten Fragen ihren Lesern und Zuschauern die Möglichkeit zu geben, selbst zu kontrollieren, sich ein Meinung zu bilden und vernünftige Entscheidungen zu treffen.

Zwischenfrage: Wenn wir von Strukturreformen reden, wovon reden wir dann?

Meiner Erfahrung nach gehört die Phrase von den „notwendigen Strukturreformen“ in allen möglichen Ländern der europäischen Peripherie zu den am häufigsten gebrauchten Sätzen, bei denen der Sprechende überhaupt keine Ahnung hat, was er da eigentlich gerade meint. „Strukturreform“ wird gebraucht als „Irgendetwas Schlaues, das macht, dass alles wieder besser wird.“ Wenn alles schlecht ist, dann muss es im Umkehrschluss daran liegen, dass es keine Strukturreformen gegeben hat.

Zwischenfrage: Wie viele Strukturreformen hat Angela Merkel als deutsche Bundeskanzlerin durchgeführt?

Genau. Keine einzige. Nicht, weil es nicht nötig wäre. Die OECD mahnt seit Jahren Reformen im Bereich der „Services“ an, auch um den erwarteten Abschwung im Export auszugleichen. Aber das Deutschland seit Jahren vom Ausland das Gegenteil von dem fordert, was es selbst tut, ist ja längst ein prägendes Element dieser Bundesregierung (überboten höchstens noch von der lustigen Angewohnheit, immer genau das Gegenteil von dem zu tun, was man angekündigt hatte). Deutschland fordert also vor allem in Südeuropa Strukturreformen, verteilt absolut willkürlich Lob und Tadel ob der Umsetzung und deutsche Journalisten beten den Text bei jeder Gelegenheit nach. Der Begriff „Strukturreform“ ist eine Art Journalismus-App: Man drückt drauf, klingt klug und muss sich weiter keine Gedanken darüber machen, was im Hintergrund genau abläuft.

Der Grund ist einfach: Journalisten, die eine Frage stellen, tun das in der Regel nicht, um eine Antwort darauf zu erhalten im Sinne von: Lernen, was ist. Sie stellen Fragen, um Soundbytes zu erhalten, die auf möglichst spektakuläre Art den Soundbytes eines anderen widersprechen. Beide Soundbytes gemeinsam ergeben dann eine „ausgewogene Geschichte“. Spektakuläre Soundbytes allein reichen manchmal schon (so erhält eine Geschichte, in der die IWF-Chefin in dämlichster Art und Weise das Scheitern ihres Programms an moralischen Defekten „der Griechen“ festmacht Aufmacherstatus, ihre Entschuldigung praktisch keine Erwähnung, die Geschichte über den griechischen Ober-Steuerfahnder, der das Scheitern seines eigenen Hauses wiederum natürlich nicht selbst verantworten will sondern mithilfe der bereits zurückgenommenen Aussagen der Frau wieder auf andere schiebt ist erneut ein Aufmacher. Das ist die „Logik“ der Medien). Wenn das Ziel dahinter sein sollte, dass sich Leser aus den verschiedenen geäußerten Meinung ungestört vom Journalisten ihr eigenes Bild machen, scheitert es schon daran, dass so letztlich nur noch die spektakulären Meinungen gehört werden. Und überprüfen können die meisten Journalisten das ohnehin nicht mehr.

Sprechen wir über Strukturreformen. In Griechenland sind einschneidende Reformen zum Beispiel die Liberalisierung der Unzahl an „geschlossenen Berufen“. Allein 107 wurden mit dem letzten Sparpaket abgeschafft. Aber einige werden sehr, sehr hart werden, als aus meiner Sicht besonders schwieriges Beispiel nehme ich einmal die „Lastwagenfahrer“ – also kleine Transportunternehmer. Wer in Griechenland einen Lastwagen betreiben will, braucht eine Lizenz, und weil die Zahl der Lizenzen seit den Siebzigern nicht erhöht wurde sind die Lizenzen bis zu 300.000 Euro teuer. Sie sind also Betriebsvermögen und Alterssicherung des Unternehmers.
Die Logistik ist im Prinzip einer der hoffnungsvollen Bereiche der griechischen Wirtschaft. Das Land ist Weltspitze in der Handelsschifffahrt und mit seinen Häfen natürliches Logistik-Hub für ganz Südosteuropa. Der durch die Begrenzung der Lizenzen unnatürlich teure Transport auf der Straße ist ein gewaltiges, ernstes Hindernis, zusätzlich bedeutender wegen des schlechten Schienennetzes. Eine Liberalisierung ist unbedingt geboten. Da sie auf der anderen Seite aber mit der de-facto-Enteignung vieler Unternehmer einhergeht, wird sie entweder sehr teuer oder sehr lange dauern. Man kann nicht einfach tausenden ihr Vermögen wegnehmen, ihre komplette Alterssicherung, alles. Es braucht also Zeit oder Geld, beides Dinge, die Griechenland nicht hat.
Gleichzeitig ist es eine Reform, die so schnell überhaupt keine positiven Auswirkungen hat: Nicht die Liberalisierung macht den Transport billiger, sondern die Konkurrenz, wenn immer mehr Menschen LKW kaufen und betreiben. Heute, wo Griechen keine Kredite bekommen und ausländische Investoren Griechenland fernbleiben ist das illusorisch. Im Gegenteil, die höheren Steuern (u.a. auf Kraftstoffe) machen den Transport teurer und erschweren so gesunden Unternehmen das Wirtschaften. Das ist ein Beispiel für die Strukturreformen, von denen die deutsche Bundesregierung so gerne redet. Sie sind unbedingt notwendig. Aber so isoliert, wie sie durchgeführt werden, führen sie garantiert nicht zu einem vernünftigen Ziel. Es ist ein bisschen wie mit jemandem, der aus gesundheitlichen Gründen abnehmen muss. Er könnte aufhören zu Essen und den ganzen Tag joggen. So ungefähr am dritten Tag wäre er dann tot. Gesund ist anders. Wirtschaftlich vernünftig auch: Eine tote griechische Wirtschaft wird keine Kredite zurückzahlen können. Es ist in niemandes Interesse, Dinge durchzusetzen, die genau dazu führen müssen.

Am Sonntag wird in Griechenland gewählt, und die deutschen Medien machen daraus eine Wahl um „Spar-Gegner“ und sogar „Euro-Gegner“ in Griechenland. Das ist Unfug in einer Größenordnung, dass es mir schon schwer fällt, mich noch ernsthaft drüber aufzuregen. Die überragend dämliche Moderation von Maybritt Illner im Heute-Journal einmal stellvertretend: Sie schafft es, einen Beitrag, in dem es heißt „niemand in Europa hat so viel gespart wie Griechenland“ und die extremen negativen Auswirkungen der Reformen zeigt anzumoderieren mit „Athen hat beim Sparen und Reformen nicht viel vorzuweisen“. Doch, hat es. Die aufgezwungenen Programme funktionieren nur nicht – was sie offensichtlich mit dem Verstand mancher Moderatoren gemeinsam haben, die Stichworte nur noch wie Apps benutzen.

18 Antworten auf „Strukturreformen: Gibt es das auch als App?“

  1. Michali, das ist aus meiner Sicht (fast) alles richtig, was du schreibst, aber irgendwie auch fast akademisch – wie es auch akademisch wäre, darüber zu reden, wer i.R. der Sparvorgaben welche Vorgaben gemacht, entwickelt, nicht eingehalten oder eingehalten hat. Hierzu: Zwei der wenigen aus meiner Sicht ernstzunehmenden Stimmen aus Griechenland, Yanis Varoufakis und Stefanos Manos, fordern bei zwar unterschiedlichen Rahmenbedingungen letztlich teilweise übereinstimmend ein viel radikaleres Sparen. Vielleicht auch gar nicht so „radikal“, sondern nur sinnvoll. Unter andrem bei den Staatsbediensteten, bei denen aus politischer Angst , Unwillen oder warum auch immer (fast) nichts umgesetzt wurde. Aber wie gesagt, die Suche nach und Anklage des Schuldigen, ist zum Kotzen. Egal, ob in der Diskussion in D oder im Wahlkampf in GR (in dem fast nichts anderes als Schuldzuweisungen, also rückwärtsgerichtete Denke, passiert). Wirklich entmutigend und frustrierend ist, dass die wenigen, die gute und richtige Ideen und Konzepte haben, keine politische Macht haben und auch nicht bekommen werden. Varoufakis wird zwar Syriza wählen, aber nicht aus Überzeugung, Manos wird gar nicht ins Parlament kommen. Alle anderen sind in dem Punkt, nicht die Wahrheit sagen zu können, im System gefangen zu sein, gleich.

  2. Ich finde es ein wenig merkwürdig, bei der Frage nach den durchgeführten Strukturreformen so persönlich zu werden – es gab mit der Agenda 2010 eine wahnsinnig gravierende Strukturreform in Deutschland, und ich möchte keine Politiker, die Strukturreformen anleiern, weil die letzte vor ihrer Amtszeit war und sie sich auch eine auf die Fahnen schreiben wollen – Du etwa? Auch kann man sich fragen, warum OECD-Empfehlungen über jeden Zweifel erhaben sein sollen, wenn die Reformforderungen anderer multilateraler Organisationen offenbar das pure Böse sind.

    Aber der Artikel hat meines Erachtens eine gewaltige Schwäche, und zwar liefert er – ungewollt – in der Einleitung ein Argument, den Schluss zu zerlegen. Genauer gesagt, die Aussage

    „Man kann nicht einfach tausenden ihr Vermögen wegnehmen, ihre komplette Alterssicherung, alles.“

    Wenn wir das mal ganz nüchtern betrachten: wer sagt das? Nimm doch Deinen App-Vergleich: Manchmal werden irgendwann Dinge obsolet, die man gelernt hat. Und dann wird man nicht gefragt, wieviel man in das Lernen investiert hat. Warum auch? Wenn ich einen Rechner über eine grafische Oberfläche effizient administrieren kann, dann werden die DOS-Befehle davon nicht leichter zu lernen, aber trotzdem wertloser. Warum? Das Problem hat sich nicht geändert. Es hat sich nur die Annahme, dass seine Lösung so kompliziert sein müsse, als Irrtum herausgestellt.

    Und ebenso ist es ein Irrtum, dass ein Land in der wirtschaftlichen Lage Griechenlands sich eine so starke Wettbewerbsbeschränkung im Transportsektor erlauben könnte.

    Natürlich ist das im Einzelfall tragisch, auf der anderen Seite bedeutet eine Investition in so eine Lizenz natürlich auch, das System in der Form am Laufen halten zu wollen. Würde man die Beschränkungen nicht aufheben, würden diese Leute ja auch von diesem System profitieren – natürlich müssen Sie das auch, um die Lizenz abzubezahlen, dennoch profitierten Sie von einer Regelung, die grundfalsch ist.

    Ich weiß nicht, wie viel eine Ausbildung zum Steuerberater kostet, meines Wissens nach ist es nicht wenig, und dies stellt natürlich auch eine Investition in ein ertragreiches – auch im Hinblick auf Altersvorsorge, für die man als Selbständiger ja auch selbst sorgen muss – Berufsleben dar. Mich interessiert Deine Meinung dazu: Wäre eine Vereinfachung des Steuersystems in Deutschland eine Enteignung dieser Menschen, und daher abzulehnen bzw. wenn dann nur behutsam durchzuführen? Eine Entscheidung, die die wirtschaftlichen Belange von zig Millionen Menschen betrifft?

  3. Moin! Danke für die Diskussion! Malte, das Problem ist ein anderes, nämlich Rechtssicherheit. Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass die Welt sich nicht ändert. Fotolaboranten sind durch digitale Kameras ausgestorben. Steuerberater könnten (sehr theoretisch) durch ein einfaches Steuerrecht weniger Aufträge bekommen und Lastwagenfahrer müssen damit leben, dass sie stärkere Konkurrenz bekommen und ihre Lizenzen an Wert verlieren. Aber sie entschädigungslos zu enteignen ist nicht nur eine soziale Frage, es würde jede Art von Investition abenteuerlich machen. Wenn ich zugunsten der Allgemeinheit entschädigungslos enteignen darf ist ein zentraler Grundsatz der Verfassung außer Kraft. Es ist also nicht nur unsozial, sondern auch marktfeindlich und undemokratisch. Deshalb Sage ich: Gäbe es die Zeit, das abzufedern (wie bei einer natürlichen Veränderung) oder die Möglichkeit, zumindest teilweise finanziell auszugleichen wäre das anders. Ich finde, der Atomausstieg ist (ohne jetzt lange darüber nachgedacht zu haben) vergleichbar. Die Rechtslage ändert sich für die Betreiber (die auch klagen), aber sie werden nicht von einem Tag auf den anderen rechtlos.

  4. Oh, und damit das gesagt ist: ob ich mir Strukturreformen Wünsche ist eine Sache (auch wenn mir nicht einleuchtet, warum Anwälte keine Werbung machen dürfen), aber ob ich pausenlos behaupte, ich hätte meine „Hausaufgaben gemacht“ wie Schäuble und Brüderle, und in Wahrheit exakt gar nichts gemacht habe, ist etwas anderes.

  5. Aber rechtslos werden doch auch die Transportunternehmer nicht? Klar, die Lizenz mag einen bedeutenden Teil ihres Grundkapitals ausmachen, aber Du sagst doch selbst, dass Du keine sofortige Überschwemmung des Marktes mit neuen Transportunternehmern erwartest – aufgrund der derzeitigen Lage (Benzinkosten), aber ja auch aufgrund anderer Investitionshürden, die den jetzigen Transportunternehmern einen Vorteil gegenüber neuen Konkurrenten bieten. Ich tue mich schwer, die konkrete vom-einen-auf-den-anderen-Tag-Rechtslosigkeit zu erkennen: dass sich im wirtschaftlichen Gefüge etwas ändern muss, ist eine Einsicht, die man nicht unbedingt erst seit gestern haben muss.

    Zwischenfrage an dieser Stelle: Du schreibst, dass die Transportkosten in Griechenland sehr hoch sind. Woran liegt das – dass die Leute Ihre Lizenzen abbezahlen müssen, oder dass es weniger Konkurrenz gibt? So wie ich Dich verstanden habe, stellt die Lizenz auch eine Art Altersvorsorge dar, d.h. man verkauft sie weiter, wenn man sich zur Ruhe setzt – dies war bis jetzt sicher kein Verlustgeschäft: Im Vergleich, wenn ich eine industrielle Dienstleistung anbiete, muss ich in Maschinen investieren, die irgendwann abgeschrieben sind und sich wenn dann nur noch für einen Bruchteil des Wertes verkaufen lassen. Ich denke dass man die hohen Preise daher überwiegend auf die Konkurrenzsituation zurückführen muss, und damit willst Du Leute schützen/schonen, die vielleicht 10, 20, 30 Jahre von einer gesamtwirtschaftlich schädlichen Regelung profitiert haben.

    Ich finde das Steuerberaterbeispiel schon vergleichbar (es gibt nicht wenige Steuerberater, und durch ein radikal einfacheres Steuerrecht – sagen wir, die Steuererklärung ließe sich von jedem problemlos per App machen 😉 – halte ich die Möglichkeit für mehr als nur theoretisch, dass viele davon ihren Beruf aufgeben müssen. Für Leute, die gerade ihre Ausbildung zum Steuerberater vollendet haben, käme das wohl sogar einer Katastrophe gleich). Auch hier schafft der Staat eine künstliche Hürde, durch ein übermäßig komplexes Steuerrecht. Über eine Vereinfachung des Steuerrechts wird schon lange diskutiert, und obwohl bei einer Durchsetzung es wohl kaum Entschädigungsansprüche geben würde, nehmen dennoch Leute die zeitliche und finanzielle Investition, Steuerberater zu werden, auf sich.

    Und wenn ich dich korrekt verstanden habe, hat sich ja nicht der Staat direkt die Lizenz so teuer bezahlen lassen, sondern lediglich deren Zahl künstlich beschränkt gehalten – die Preisentwicklung hat der Markt gemacht. Ich finde die vom Staat errichtete Hürde hier nicht konkreter als im Fall Steuerrecht. Gab es denn jemals vom Staat die Garantie, dass es in den nächsten xy Jahren keine neuen Lizenzen geben würde? Irgendwie kann man doch selber darauf kommen, dass dies in einem Land, welches Wirtschaftswachstum anstrebt (also: jedes), auf Dauer nicht funktionieren kann. Investitionssicherheit hin oder her, ein paar rationale Überlegungen kann man wohl von einem Investor erwarten.

    Zu guter Letzt: Das mit der Fotoentwicklung ist ein schönes Beispiel, aber ist jemand, der *kurz* vor der Digitalfotorevolution ein Fotolabor gegründet hat (und damit in enorm teure Maschinen investiert hat, für die es auch keinen Weiterverkaufsmarkt mehr gab) weniger „enteignet“ wurden, von heute auf gestern? War die Zeitspanne bis zum totalen Niedergang der Analogfotografie von dem Zeitpunkt an, an dem man ihn erahnen konnte, wirklich so viel länger als die Zeitspanne von der drastischen Offenlegung der wirtschaftlichen Probleme in Griechenland bis zur – noch nicht erfolgten – Liberalisierung des Transportgewerbes?

    Gruß,
    Malte

  6. Oh, und auch ich muss das in einen neuen Post auslagern, weil ich es vergessen habe 😉
    Mir ist Schäuble mit seinem Auftreten ein Unsympath sondergleichen. Dennoch erwarte ich, dass er für Deutschland spricht, nicht für nur *seine* persönliche Finanzminister-Amtszeit. Und faktisch ist es so, dass Deutschland – zur Zeit – wirtschaftlich gut darsteht, auch dank im letzten Jahrzehnt gemachter „Hausaufgaben“. Natürlich sollte man sich niemals darauf ausruhen, aber es gibt bessere Zeitpunkte für einen Verweis daruf, was sich in nächster Zeit mal ändern sollte, wenn man gerade in *akuten* Problemen erstickt.

  7. Malte, es ist ein riesiger Unterschied, ob ich von einer Technik überholt werde oder von einem Staat enteignet (und das Steuerberater-Beispiel zieht deshalb nicht, weil es kein „einfaches“ Steuersystem geben kann). Und, ja, der Transportauf der Strasse ist vor allem teuer, weil sich wenig Konkurrenz entwickeln konnte (auch nicht auf der Schiene mangels Ausbau).

    Und, nein, Deutschland hat nicht seine Hausaufgaben gemacht, wenn es im Übermaß abhängig ist davon, dass andere seine Waren kaufen, während andere es sich nicht leisten können. Die deutsche Exportblase ist im Zweifel nicht nachhaltiger als die spanische Immobilienblase, wenn sie dazu führt, dass wir eine Billion Euro in Target2 abschreiben müssen. Weniger aufgeblähte Aussenhandelsbilanzen bei stärker steigenden Löhnen und stärkerer Binnenkonjunktur wären nachhaltiger gewesen. Hartz4, also das, was er hier Hausaufgaben nennt, war keine nachhaltige Strukturreform sondern ein Wettbewerbs-Werkzeug, das letztlich vor allem innerhalb der eigenen Währungsunion „funktioniert“ hat – so lange gleichzeitig der Euro für vertretbare Wechselkurse gesorgt hat. Ich verstehe die aktuelle Kritik aus Belgien, England und Italien schon: Deutschland als stärkste Volkswirtschaft hat viel profitiert und wenig für (was hier auch ein Stück weit bedeutet: eher viel gegen) einen integrierten Euro-Raum getan.

  8. Zwischenruf Transportunternehmen: Allein hier in München hatten sich ca. 30-40 griechische Transportunternehmen „niedergelassen“ (tendenziell als Briefkastenfirmen). Nicht, weil die Inhaber Deutschland so toll fanden, sondern weil sie in Griechenland einfach keine Möglichkeit dazu hatten. Und weil die Umsatzsteuerrückerstattung in einem bestimmten Sinn bei Niederlassung in D besser funktioniert. Viele von denen haben gefeiert, als sie von der Deregulierung in GR hörten, weil sie gerne von GR aus arbeiten wollen. Dann kam die Ernüchterung. Jetzt haben die meisten in D abgewickelt und neu gegründet. Aber leider nicht in GR, weil die Öffnung nie verwirklicht wurde, sondern in Bulgarien.

  9. Mh, ich hatte befürchtet dass die Diskussion sich wieder auf altbekannte Dreh- und Angelpunkte wie den deutsche Außenhandelsüberschuss/Target2 zubewegt, nur fürchte ich dass eine – erneute – Diskussion hierüber eh zu keinem Ende kommt.

    Klar, auch ellenlange Analogien unter welchen Umständen Unternehmern damit Leben müssen, auf ihren Investitionen sitzen zu bleiben, tun das nicht wirklich, und ich gebe zu es damit vielleicht ein bisschen übertrieben zu haben. Allerdings war das Thema „Transportgewerbe“ nun einmal Kernthema im ursprünglichen Blogpost, und wichtige Antworten – wie etwa ob der Staat garantiert hat, für eine bestimmte Zeit auf eine Neuvergabe von Lizenzen zu verzichten – habe ich ja leider bis jetzt nicht bekommen. Wenn es keine Garantie dafür gab, sondern dies lediglich aufgrund von Klientelpflege und evtl. Lobbyismus geschah, und eine Investition somit eine Spekulation, dass sich daran so bald nichts ändern würde, darstellte – dann erscheint es mir grotesk, das auch nur ansatzweise für vergleichbar mit dem Atomausstieg zu halten, wo die Enteignungsklage sich um Verträge zwischen Unternehmen und Staat über garantierte Reststrommengen dreht.

    Ich habe einfach den Eindruck, dass in Griechenland wirtschaftlich viele Pelze gewaschen werden müssen, und man immer noch glauben will, dabei müsse niemand nass werden. Versteh‘ mich nicht falsch – ich weiß, dass es vielen Leuten in Griechenland sehr schlecht geht. Das ändert nichts daran, dass wenn Griechenland wieder auf die Beine kommen will, manchen Leuten – z.B. den Transportunternehmern – weh getan werden muss. Völlig ideologiefrei, ohne eine „reinigende Wirkung des Schmerzes“, einfach aufgrund wirtschaftlicher Realitäten. Und ich denke auch bspw. Tsipras kann man vorwerfen, sich um diese Thematiken zu drücken, jedenfalls von dem, was ich mitkriege.

    Ich habe mich schon oft, ich glaube auch in diesem Blog, gefragt, wenn die Lösung für Griechenland jetzt in Zeit und Hilfskrediten bestehen soll – warum hat dann die Zeit in der Eurozone bis zur Krise nichts geändert? Die landläufige Meinung scheint zu sein, dass dies nur von „Eliten“ dazu genutzt wurde, sich die Taschen vollzustopfen. Aber normale Menschen, wie beispielsweise Transportunternehmer mit ihrer traumhaften Konkurrenzsituation, haben doch auch profitiert, weil man sich diese Absurditäten länger (und mit steigender Kaufkraft) erlauben konnte. Im Gegensatz zur korrupten Oberklasse muss man sie dafür nicht bestrafen, aber sie dann auch noch extra schonend zu behandeln halte ich für den Falschen Weg.

  10. Ich kann Malte nur beipflichten. Das Transportgewerbe in Griechenland hat offenbar lange Zeit von einem Markt mit (künstlichen) Zugangsbeschränkungen stark profitiert. Diese Zeit hätte man nutzen können, um etwa ins Ausland zu expandieren oder um sich auf eine Zeit des lizenzfreien Wettbewerbs vorzubereiten. Griechenland hatte in diesem Punkt eine Sonderstellung in der EU, die auch unter anderen Rahmenbedingungen nicht ewig hätte halten können. Damit umzugehen ist Teil des unternehmerischen Kalküls, dem sich jeder Selbständige unterwerfen muss.

    Zudem wäre ich sehr vorsichtig damit, jetzt in das Klagelied dieser Branche einzustimmen. Einzelne mag die Umstellung hart treffen, das Gros der Spediteure aber hat vermutlich über lange Zeit sehr gut verdient und jammert jetzt auf einem unverhältnismässig hohem Niveau.

    Was die Kritik an Deutschland betrifft: Woher unser Wohlstand kommt, ist kein Geheimnis. Frankreich, Großbritannien und andere Länder hatten und haben Zeit genug, in Branchen wie z. B. dem Maschinenbau aktiv zu werden. Niemand auf der Welt ist gezwungen, bei deutschen Firmen einzukaufen… 😉

  11. Wahrscheinlich sollte man mit seinen Beispielen aufpassen, weil alle nur noch daran diskutieren. Wie gesagt, ich teile die Einwände gerade nicht und halte sie sogar für haargenau falsch (ein Kleinunternehmer mit einem Lastwagen, was in GR sehr häufig ist, soll mit einem zweiten Lastwagen, für den er in GR keine Lizenz bekommt, ausschließlich im Ausland expandieren? Please!). Aber das Beispiel geht ähnlich für einen Kölner Taxifahrer, der 80.000 Euro für seine Lizenz bezahlt hat. Den würdet ihr auch einfach enteignen?

  12. Der Vergleich mit den Kölner Taxifahrern ist nicht falsch.

    Ansonsten aber habe ich mal wieder den Eindruck, dass Deutschland an allem schuld ist. Das hat schon etwas von Pippi Langstrumpf: „Zwei mal drei macht vier, widewidewitt und drei macht neune, ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt…“

    Und wenn man den Griechen etwas vorhalten könnte (Milliarden Euro an Steuern hinterzogen und auf Privatkonten gebunkert), dann ist der Chef der Steuerfahnder schuld – und nicht die griechische Gesellschaft, die all das seit Jahrzehnten toleriert bzw. über Generationen hinweg jene gewählt hat, die das haben so laufen lassen.

    Ich lese in diesem Blog auch wenig darüber, dass es eine ganze Reihe griechischer Experten gibt, die den Reform-Unwillen in ihrem Land geißeln.

    Manchmal habe ich den Eindruck: je näher das Ende kommt, desto schwarz-weißer wird gemalt. Da macht dieser Blog – leider – keine Ausnahme.

  13. Also, ich kenne mich im deutschen Taxigewerbe nicht besonders gut aus, aber eine Schnellrecherche ergab, dass man in Köln eben diese 80.000€ nur für die Konzession bezahlt – wenn man sie illegal erwirbt (Handel mit Taxikonzessionen ist nicht erlaubt, man muss den Umweg über eine Unternehmensveräußerung gehen). Davon wird noch ein guter Teil schwarz bezahlt. Ich weiß nicht, ob du das wirklich als den Maßstab anlegen willst..?

    Wenn die Beschränkung der Konzessionen an- oder aufgehoben wird, ist das doch keine Enteignung – jeder Taxiunternehmer behält seine Konzession (deren Beantragung natürlich nach wie vor kostet). Aber dass der Staat für die Blüten, die der (Schwarz)markt treibt, einstehen soll?! Das finde ich grotesk…

  14. „Wenn die Beschränkung der Konzessionen an- oder aufgehoben wird, ist das doch keine Enteignung – jeder Taxiunternehmer behält seine Konzession“

    Aber das Geschäft bricht weg, weil dann jeder fahren kann. Es wird ein Preisdumping geben, bei dem am Ende Leute für einen Weit-unter-5-Euro-Lohn in alten Kisten das Rennen machen.

    Will sagen: nicht jede Form von Konzessionierung ist zwingend falsch. Die Lehre von der angeblich freien Marktwirtschaft führt, wenn man sie im globalen Rahmen konsequent anwendet, oft zu immer niedrigeren Löhnen. Ob das z.B. bei Berufen wie Notar, Arzt, Anwalt, Vermessungsingenieur o.ä. zu verschmerzen ist, ist eine andere Sache.

  15. Ich schrieb davon, die (zahlenmäßige) Beschränkung der Konzessionen an- oder aufzuheben. Fahren darf nach wie vor nur, wer eine Konzession besitzt. Nur dass diese zum normalen (ich las etwas von 2.500€ in München) Preis erworben werden kann, wenn die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind – und natürlich kann das auch den Zustand der Fahrzeuge mit einschließen, das sind doch verschiedene Paar Schuhe. Es kann von mir aus ja auch nur eine einmalige Erhöhung des Kontingents geben. Aber ich weigere mich, diejenigen, die 80.000€ Schwarzmarktpreis bezahlt haben, weil sie die Beschränkungsregelungen umgehen wollten – Regelungen, von denen sie sich höheren Umsatz versprachen – dann als Opfer von Enteignung zu sehen. Sorry.

  16. Ich kann mich an kaum eine Gelegenheit erinnern, bei der die (Mainstream-) Medienöffentlichkeit so sauber seziert worden ist, wie in diesem Blog-Eintrag über die Strukturreform-Phrase. Große Klasse!
    Journalisten neigen dazu, auch die komplexesten Probleme in immer kürzeren Stehsätzen zusammenzufassen, von denen am Ende (unter Mitwirkung von Politikern und Lobbyisten, denen Fachlektüre zu zeitaufwändig ist) nur noch Schlagworte übrig bleiben. Und diese Schlagworte beginnen dann ein Eigenleben zu führen, das mit den realen Umständen nur noch ansatzweise zu tun hat.
    Es gibt aber natürlich noch andere Phrasenbeispiele. Ich nenne jetzt mal „Wachstumsimpulse“. Griechenland braucht sie, weil es sich sonst kaputt spart. Die entschieden Frage lautet hier – wie bei „Strukturreformen“ auch: Welche? Hier wie dort gibt es sinnvolle und kontraproduktive Reformen oder Impulse und dann noch sinnvolle oder kontraproduktive Schritte, sie auf den Weg zu bringen. Das ist alles schön kompliziert und passt so gut wie nie in Schlagzeilen oder Stehsätze und ein Journalist muss sich jeden Tag, ja eigentlich alle paar Stunden überlegen, wie er das Problem möglichst kurz und anschaulich erklärt. Das Problem: er hat dafür in aller Regel zu wenig Zeit. Einmal wegen des Arbeitsdrucks, aber auch weil Soundbyteproduzenten wie Politiker und Lobbyisten in einer Tour aus Schlagwörtern und Stehsatzbausteinen Texte zusammenschustern und ihm auf den Tisch knallen – nach dem Motto: Einordnung unerwünscht. Und wenn der Schreiberling unbedingt einen Hintergrund braucht, soll er sehen, wo er die Fakten herbekommt, die nicht in unser Weltbild passen.
    PS: Eine Strukturreform Merkels fällt mir sofort ein: Die Rente mit 67 – auch wenn die SPD die Prügel dafür fast ganz allein eingesteckt hat. (Warum eigentlich?) Die anderen „Hausaufgaben“, von denen die jetzige Regierung gern behauptet, sie habe sie gelöst, hat ein gewisser Schröder für sie erledigt.

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