Warum AfD-Lucke möglicherweise unverzichtbar ist

Journalismus in Deutschland, Reality Check: Griechenland hat also einen Primärüberschuss erwirtschaftet. Es gibt eine Schulregel, was ein Primärüberschuss ist (der Saldo des Staatshaushaltes vor Bedienung der Schuldzinsen), allerdings gibt es auch durchaus sinnvolle Modifizierungen, je nachdem, wessen Primärüberschuss da gerade berechnet wird. Bei den deutschen Bundesländern zum Beispiel fließen die Leistungen der Geberländer im Länderfinanzausgleich nicht in die Berechnung ein. Bei Griechenland sind in den Berechnungen die Einmalzahlungen ausgenommen, die das Land in einen Fond zur Rettung seiner Banken leistet.

Bei der FAZ war genau das aber gestern der Grund, Griechenlands Primärüberschuss als „Primärüberschuss“ zu bezeichnen, also als etwas, das nur so heißt, aber in Wahrheit etwas anderes ist. Der pöbelnde Mob der faz.net-Leser verstand das selbstverständlich als Aufruf zu dem, was sie eh immer machen: Den Griechen vorzuwerfen, sie würden betrügen. Im Prinzip lässt sich das ja auch nicht anders verstehen.

Ich habe, in zugegeben leicht genervter Laune, per Twitter nachgefragt, warum der mit den vorher aufgestellten Regeln übereinstimmende Primärüberschuss nur ein „Primärüberschuss“ ist. Und ich erhielt Antwort: Ein FAZ-Wirtschafts-Redakteur (ich nehme an, der Autor des Artikels, aber ich finde da online die Autorenzeile nicht) erklärte es mir so:

Das artete ein bisschen aus und ich wollte unter anderem wissen, ob die FAZ jetzt alle Primärüberschüsse in der EU in Anführungen schreiben würde, weil die EU ja die Regeln für die Berechnung so festgelegt hatte.

Natürlich führt das zu nix. Ich werde weder FAZ-Redakteure von irgendwas überzeugen, die denken, sie wüssten alles, ohne die Dinge durchzulesen, über die sie schreiben. Und schon überhaupt gar nicht werde ich die ekligen Lallbacken zur Fairness bewegen, die dort solche Artikel kommentieren.

Ich nicht.

Aber Bernd Lucke. Denn der lurchige Professor für Volkszorn, nebenbei auch Vorsitzender der Partei Alternative für Deutschland, stellte (sinngemäß) fest, dass das ja ein Skandal wäre, wenn die scheiß Griechen sich so schon wieder zu neuen Hilfen schummelten, und offenbar gelang es ihm, das Bundesfinanzministerium in einen Briefwechsel zum „Primärüberschuss“ Griechenlands zu verwickeln. Das Finanzministerium besteht darauf, dass es ein Primärüberschuss ohne Anführungszeichen ist und bedient sich in seiner Antwort Techniken wie Logik und klare Vereinbarungen, die als Grundlage von Entscheidungen dienen. Auch klar, einen Lucke überzeugt man so nicht.

Aber erstaunlicherweise die FAZ. Plötzlich scheinen Logik und Regeln doch wieder bessere Argumente zu sein als Lucke und Vorurteile, denn heute schreibt Werner Mussler zusätzlich zu einem langen Erklärstück den Kommentar „Kein Skandal in Griechenland“:

Luckes impliziter Vorwurf, die Troika habe erst jüngst ihre Definition angepasst, ist daher schlicht falsch. Diese ist schon zum Start des Programms so festgelegt worden.

Also ist Bernd Lucke wenigstens dafür nützlich: Als verlässlichster Marker für so richtig falsche Standpunkte. Wer seine Zustimmung bekommt denkt dann offensichtlich doch noch mal drüber nach, dass da irgendwo ein Fehler in der Argumentation sein muss.

Na gut, nicht ganz alle: Luckes impliziten Vorwurf erhebt zumindest einer ganz explizit und richtet sogar seine Berichterstattung danach aus.

Trickst die BILD heute die Kanzlerin aus?

Bevor ich mir vorwerfe, gar nichts dazu gesagt zu haben, möchte ich minimalinvasiv eine Kurzanalyse der aktuellen Griechenland-Berichterstattung der BILD abarbeiten – oder, wie ich es inzwischen nenne, kurz Schlickrutschen.

Manche haben es möglicherweise gesehen: BILD fragt sich

Tricksen die Griechen heute Angela Merkel aus?

BILD sagt, worauf die Kanzlerin heute bei den Gesprächen achten muss:

Damit Merkel sich dabei nicht wie vor den Landtagswahlen in NRW von der BILD austricksen lässt und Europa weiter in die Krise stürzt, nur weil sie sich im Fachblatt der Dumpfnationalen, aus deren Sicht außer Deutschen sowieso alle Betrüger sind und keinen Staatshaushalt aufstellen können, mit Pickelhaube als „Eiserne Kanzlerin“ dargestellt sehen will … puh, Luft holen, viel zu komplizierter Satz (aber ich kann hier machen, was ich will!) … damit Merkel sich also nicht austricksen lässt, sage ich mal kurz, warum sie auf die Berichterstattung der BILD nicht achten darf.

Kurzform: Weil die BILD-Berichterstattung zum Lachen dumm, falsch und auch noch offen rassistisch ist.

Wer Lust hat, liest ein bisschen Begründung. Als wäre das nötig! Aber ich habe gestern zwei unfassbar tolle Typen getroffen, Franziskaner-Mönche, die in der Bronx Jugendliche retten. Meine Botschaft ist heute ist also die Liebe, deshalb lasse ich die journalistische Fairness auch für rassistische *********** gelten und zerlege mal.

BILD sagt, worauf Merkel achten muss, zum Beispiel:

►Die Staatsschulden will Griechenland bis 2020 auf 120 % des Bruttoinlandsproduktes senken. Fakt ist: von 130 % (2009) stieg die Staatsverschuldung auf 177,3 % (2013) an. Und das trotz des Schuldenschnitts, bei dem 107 Milliarden Euro erlassen wurden!

Wenn BILD Fakten im Sinne von „Dinge, die in der Realität so sind“ benutzen würde, könnte man ja mal „Klartext“ schreiben, was das Geseier bedeutet: In realen Zahlen stieg die Staatsverschuldung Griechenlands in den vier Jahren um gerade einmal 20 Milliarden Euro (den Extrapunkt mit dem Schuldenschnitt für eine Sekunde außen vor) – was angesichts der Bankenkrise, die zu der Katastrophe geführt hat, ein lächerlich kleiner Betrag ist (die deutsche Staatsverschuldung stieg aus demselben Grund allein zwischen 2009 und 2010 um 315 Milliarden Euro oder neun Prozentpunkte im Verhältnis zum BIP, und nicht einmal das war schlecht gemanagt. Im Super-Beispiel-Wunderland Irland stieg die Staatsverschuldung um 100 Milliarden Euro, 40 davon allein zwischen 2009 und 2010, das waren 28 Prozentpunkte zum BIP. Und nochmal: In allen Ländern letztlich alles wegen der Bankenrettungen und der nötigen Folgemaßnahmen).

Nun wird irgendjemand auf die Idee kommen und sagen: „Ja, aber die 20 Milliarden PLUS die 107 Milliarden Schuldenschnitt, das sind dann doch …“ Und das wäre tatsächlich eine andere Zahl, wenn man sie denn so aufaddieren könnte. Das kann man nicht, weil ein Schuldenschnitt eben nicht einfach ein Kappen der Schulden ist, bei dem alle anderen Faktoren gleich bleiben (erklärt zum Beispiel hier). Die spannende, wenn auch akademische, Diskussion wäre ja, wie sich die Wirtschaft in Griechenland entwickelt hätte, wenn es die Bedingungen des Schuldenschnitts u.ä. nicht gegeben hätte. Auf das zumindest kann man sich sicher einigen: Ein Schuldenschnitt hat noch nie irgendwo Wachstum und Investitionen befördert, man könnte sogar sagen, der Schuldenschnitt hat Investitionen für griechische Firmen (nicht alleine aber doch auch) völlig unmöglich gemacht, weil sie natürlich keine Kredite bekommen haben. Womit wir beim nächsten Punkt wären.

►Die Wirtschaftsleistung wollte Griechenland deutlich steigern, um seine Schulden zurückzuzahlen. In Wahrheit sank das Bruttoinlandsprodukt von 230 Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 182 Milliarden Euro im Jahr 2013.

Es ist per se bizarr, jemandem vorzuwerfen, er steigere die Wirtschaftsleistung nicht so, wie er das vorhatte. So könnte man auch einfach fragen: Warum hören die scheiß armen Leute nicht auf, so arm zu sein?
Es muss zum Kotzen sein, im Kopf eines BILD-Schreibers gefangen zu sein: Man hat alle Lösungen für alle Probleme, und die Welt hält sich einfach nicht daran! Die Welt MUSS irre sein. In Griechenland zum Beispiel hätten sie doch echt allen Grund, mal einen Schlag reinzuhauen. Aber was machen sie, anstatt zu arbeiten? Rekordarbeitslosigkeit!

Aber weiter:

►Einsparungen im öffentlichen Dienst greifen oft nicht. Eine 2012 verhängte Gehaltskürzung für Polizisten und Soldalten (10 %) wurde vom obersten Verwaltungsgericht gekippt.

Das ist also einer der Tricks, mit denen Merkel heute fertig gemacht werden soll: ein Rechtsstaat! Kann ich diesen Punkt eigentlich anders verstehen, als dass die BILD findet, ein Staat sollte für seine Polizisten und Soldaten den Rechtsweg ausschließen, wenn man ihnen das Gehalt kürzt? Sind die Schreiberlinge dieses Blattes noch wenigstens irgendwie in Randbereichen demokratischer Grundhaltung beheimatet? Ich erkenne das nicht. Die nennen sich selbst APO? Interessant. Nach ihren eigenen Maßstäben könnte man sie wahrscheinlich längst „Rechtsterroristen“ nennen. Aber meine Botschaft ist ja die Liebe, insofern würde ich sowas natürlich nicht sagen.

Mein Lieblings-„Fakt“ ist aber der letzte in der Reihe:

►Griechen-Rettung absurd: Obwohl Griechenland noch Milliarden-Hilfskredite über 30 Jahre mit 1,8 % Zinsen bedienen muss, nahm die Regierung gestern an den internationalen Finanzmärkten eine neue teure Staatsanleihe von rund 3 Milliarden Euro auf – und zahlt dafür 4,75 % Zinsen – mit Geld, das es nicht hat.

Um das überhaupt denken zu können, muss man wahrscheinlich das haben oder nehmen, was sie bei BILD alle haben oder nehmen. Offensichtlich WOLLEN sie den von ihnen so empfunden korrupten, faulen Südländern Hilfskredite aufdrücken, damit sie sie hinterher als faule, korrupte Südländer beschimpfen können. Und dann wollen diese undankbaren Kanaken ihr Leben lieber eigenständig leben? Wo kommen wir denn da hin? Dabei weiß doch JEDER hier, dass die nur auf unsere Kosten leben wollen! Wieso halten die sich nicht an unsere Vorurteile? Da muss man sich als BILD-Schlickschleuder echt belogen vorkommen.

Weil ich aber beschlossen habe, mich heute über dumpfe Lallbacken nicht einmal aufzuregen, wenn sie vor Millionen Lesern antidemokratische Propaganda und ethnische Vorurteile verbreiten, möchte ich bitte, dass wir uns alle innerlich reinigen und einmal einen Blick auf das unfassbar großartige Werk der Franciscan Friars of the Renewal in der Bronx werfen, entweder hier in einem ZEIT-Artikel oder auf ihrer eigenen Seite. Wenn alle Katholiken so wären, dann wäre ich sofort dabei.

Liebe!