Homophocus

Es gibt Menschen, die spielen großartig Fußball. Und es gibt Menschen, die sind dämlich. Eins ist nicht kausal für das andere, aber beides passiert oft parallel: Während die einen Fußball spielen, nutzen andere das, um sich auf den Rängen oder rund ums Stadion aufzuführen wie Vollidioten – inklusive verschiedener Formen körperlicher und verbaler Gewalt. Das ist nicht der Untergang des Abendlandes, aber es ist einer seiner eher unangenehmeren Aspekte. Und nach Meinung des Leiters des Ressorts „Debatte“ der Nachrichtenmagazinsimulation Focus ist es eine schützenswertere Form der Selbstverwirklichung als der offene Umgang der Fußballspieler mit ihrer sexuellen Identität. Der Mann heißt Michael Klonovsky, und er argumentiert in der aktuellen Focus-Ausgabe nicht nur dagegen, dass schwule Fußballprofis ihr Coming Out haben sollen, sondern auch gleich dagegen, dass die homophobe Grundstimmung rund um den Profifußball überhaupt ein Thema sein soll.

Das Fußballstadion aber ist eine archaische Sphäre. Auf dem Platz
imitieren Männer das Jagdrudel von ehedem und kämpfen gegen ein
anderes Rudel. Die Ränge bilden den Ort der Parteinahme, der
emotionalen Aufwallung, der Enthemmung, der Triebabfuhr. Das Stadion
gehört zu den raren Klausuren, wo der von Verhaltensvorschriften und
Tabus umstellte moderne Mensch sich noch gehen lassen kann. Die
Fankurve ist die letzte Bastion gegen den Totalitarismus der
Toleranzerzwinger. Hier hüten von den Medien sonst gern übersehene
Normalos das heilige Feuer des temporären Menschenrechts, sich
danebenzubenehmen, zu fluchen, zu höhnen, sich maßlos zu echauffieren
und dem Gegner unzivilisierte Beleidigungen zuzubrüllen.

Da „hineinzumaßregeln“ (was bedeuten würde … ja, was eigentlich? Homophobie als Verein offensiv anzuprangern und abzulehnen?) griffe also in die „temporären Menschenrechte“ ein. Wenigstens auf dem Fußballplatz soll man ihn, den Stellvertreter des Normalos auf Erden, mit diesen Schwulenproblemen in Ruhe lassen.

Homosexuellen-Probleme sind in letzter Zeit in der Öffentlichkeit
ausgiebig behandelt worden: von der Hinterbliebenenrente bis zur
Erbschaftsteuer, vom Ehegatten-Splitting bis zum Adoptionsrecht.
Angesichts der Tatsache, dass die Probleme der Schwulen und Lesben für
die Zukunft dieser Republik eher sekundär sind, vielleicht zu
ausgiebig.

Das gehört nicht nur zum Albernsten, sondern auch zum Schlimmsten, über das ich mich diese Woche aufrege.

Ich ärgere mich in diesem Fall auch über mich selbst, das mal vorweg. Ich bin ein eher behäbiger, heterosexueller Pseudo-Mini-Macho mit viel Unverständnis allem mir Fremden gegenüber. Ich verstehe einen Großteil aller sexuellen Orientierungen und Fetische ohnehin nicht. Ich habe keine Ahnung von schwuler Kultur oder Subkultur. Mir ist sogar unangenehm, dass sich Hape Kerkeling dauernd als Frau verkleidet, obwohl ich nicht einmal weiß, ob das irgendwie damit zusammenhängt, dass er schwul ist. Mit anderen Worten: Es gibt keinen schlechteren Verteidiger der Schwulenrechte als mich. Aber die simple Tatsache, dass es offenbar im 2012 in Mitteleuropa immer noch ein Diskussionsthema ist, wer sein Coming Out haben kann, soll und darf und wer nicht bedeutet, dass wir alle, auch der Allerletzte und Schlechteste – kurz: ich – aufgefordert sind, Typen wie Herrn Klonovsky zu sagen: Das ist eben nicht nur falsch, was Sie sagen, das ist eine alte Scheiße. Stellen Sie das ab!

Aber der Reihe nach: Sport ist die vielleicht großartigste Metapher auf das Leben, die wir haben. Der Kampf um Erfolg, den eigentlich jeder nur gegen sich selbst gewinnen kann. Die Momente der Größe, die Momente der Niederlage. Und die graue Zeit dazwischen. Diese unerklärliche Mischung aus Team-Geist und Egoismus, die Helden auszeichnet. Die Unerklärlichkeit des Lebens, die Zufälle, die Millimeter, die Ungerechtigkeit, das Glück. Wenn da unten Menschen spielen und Millionen dafür bekommen, dann deshalb, weil es so großartig ist, dabei zuzusehen und zu spüren, was das Leben alles sein kann, wenn man dafür kämpft. Was wir alles sein können. Und mehr als das: Was wir sein können, ohne dabei Regeln zu brechen. Innerhalb der Gemeinschaft. Wenn wir Fair Play zur Grundlage jedes Sports machen, dann nicht deshalb, weil es das Spiel spannender macht – sondern weil es das Spiel erst möglich macht. Egal ob ein Fußballspiel mit 55.000 Menschen im Volksparksstadion, die Stadt Hamburg, die Bundesrepublik Deutschland oder den Rest der Welt – all das funktioniert nur, weil es das „temporäre Menschenrecht der Triebabfuhr auf Kosten anderer“, wie es Herr Klonovsky propagiert, eben nicht gibt. Nicht einmal im Debattenressort des Focus.

Die Argumentation des Herrn Klonovsky wäre genauso auch auf ausländische Spieler anwendbar: Wir reden viel über die Probleme von Ausländern in Deutschland, warum sollte man sich da nicht wenigstens im Stadion zu rassistischen Ausfällen hinreißen lassen dürfen? Schließlich passiert das ja. In der Logik des Debattenressortleiters sollte man ausländischen Spielern vermutlich zunächst raten, ihr Ausländischsein zu verheimlichen („Schmink dich doch einfach über, Demba Ba! Und dann nennen wir dich Daniel Bahr!“) und ansonsten die Klappe zu halten. Ich möchte das eigentlich gar nicht Argumentation nennen, sondern das wütende Schluchzen eines frustrierten Reaktionärs nach Kontakt mit diesem ekligen Zeug, das zwölf Monate im Jahr draußen vor der Tür wartet … der Realität.

Um es einmal zu sagen: Wir gehen praktisch alle davon aus, dass Beziehungen, Familie, Ehe – Liebe! – ein zentraler Punkt unseres Daseins auf diesem Planeten sind. Der Default-Modus eines Hotelzimmers ist Doppelzimmer. Von Menschen zu verlangen, sie mögen bitte auf einen zentralen Teil ihrer Existenz verzichten oder ihn zumindest unter extremem Öffentlichkeitsdruck verheimlichen, damit der homophobe „Normalo“ auf der Tribüne nicht ihretwegen sein temporäres Menschenrecht aufs Arschlochsein ausüben muss, ist unmenschlich, unvertretbar und widerlich. Punkt. Ich möchte nicht in der Haut derjenigen stecken, die heute als Fußballer mit sich ringen, ob sie ihr Coming Out haben sollen. Ich kann ihnen das nicht abnehmen. Aber ich kann feststellen, dass die Tatsache, dass es so schwierig ist, eindeutig ein Fehler im System Profifußball ist – und kein Fehler der schwulen Spieler. Ich weiß nicht, wie das letztlich gehen wird, aber: Natürlich müssen wir den Fehler abstellen, nicht die sexuelle Orientierung der Spieler.

Selbstverständlich weiß ich auch, dass die armseligen Gestalten beim Focus solche Dinge nur schreiben, damit sich mal wieder irgendjemand für sie interessiert. Aber, wie gesagt, es geht dabei auch um mich selbst. Ich bin viel zu oft still, wenn Menschen diskriminiert werden, weil ich eben nicht zu der diskriminierten Gruppe gehöre. Und das tut mir leid. Das geht so nicht.

Insofern: Homophobe Arschlöcher aller Länder, verpisst euch aus meinem Stadion!