Dreieinhalb Jahre

Strafe hat eine Menge Formen und eine Menge Funktionen. Sie dient der Sühne. Sie dient der Abschreckung. Und sie dient der Gemeinschaft derjenigen, die sich an die Regeln der Gemeinschaft halten, als einigendes Signal dafür, dass der Ehrliche eben nicht der Dumme ist. Er ist derjenige, der die Gemeinschaft am Laufen hält. Wenn man es genau nimmt, dann ist der Ehrliche erst derjenige, der überhaupt eine Gemeinschaft herstellt – denn eine Gemeinschaft der Unehrlichen ist keine. Es gab Zeiten, da war das Stadtrecht eine Art vertragliche Vereinbarung, auf die man einen Eid schwor. Wer die Gesetze brach, brach damit vor allem seinen Eid und wurde dafür bestraft – allerdings später, nämlich von Gott. Zu irdischen Zwecken bezahlte man für kleinere Vergehen eine Strafe, die den Ehrlichen zugute kam – und wurde für schwere Vergehen aus der Stadt geworfen, um in Zukunft vogelfrei auf das jüngste Gericht zu warten. Das ist Teil unserer Kultur- und Rechtsgeschichte: Es lohnt sich schon deshalb, ein ehrlicher Mann zu sein, weil man sonst kein ehrlicher Mann ist – und es nicht wert ist, Teil der Gesellschaft zu sein.

Alle Konstruktionen rund um Gefängnisstrafen und ähnliches sind Hilfskonstruktionen, die alle möglichen Funktionen erfüllen: als Sühne, als Abschreckung, als Signal an die Opfer, als Ort der Resozialisierung, als Sicherungsverwahrung. Keine dieser Konstruktionen ist in irgendeiner Weise voll befriedigend: Zu viele Taten können nicht gesühnt werden, schon gar nicht so, dass es die Verletzungen der Opfer heilt. Rache verbietet sich in zivilisierten Gesellschaften, und überhaupt besteht ein gefühltes Missverhältnis von Delikten gegen das Eigentum und Delikten gegen die körperliche und seelische Gesundheit von Menschen. Das Urteil gegen Uli Hoeneß war angesichts der schieren, monströsen Größe seines Diebstahls an der Gemeinschaft eins mit Augenmaß – im Mittelfeld des möglichen Strafrahmens –, aber es gibt kein befriedigendes Verhältnis zu anderen Taten, die mit ähnlichen Strafen belegt wurden: Es haben schon Kriminelle dreieinhalb Jahre Gefängnis aufgebrummt bekommen, die andere Menschen halbtot geschlagen haben.

Das gefühlte Missverhältnis lässt sich nicht lösen, wenn man Gesetze als den Rahmen einer Gesellschaft betrachtet, wie wir uns in den vergangenen Wochen mal wieder zu tun haben hinreißen lassen: Da kommt ein Edathy davon, obwohl er mit seinen Internet-Käufen Kinderschänder in ihrem Geschäft unterstützt hat. Die Taten eines Uli Hoeneß wirken dagegen fast lässlich, aber er muss teuer dafür bezahlen. Was läuft da falsch im System?

Zum Glück läuft da systemisch erstaunlich wenig falsch. Nur wir lassen uns hinreißen, nicht auf die wahre Stärke eines Systems zu schauen und zu vertrauen, das eben nicht durch Gesetze geregelt wird. Strafgesetze greifen erst, wenn das menschliche Miteinander längst nicht mehr funktioniert, und anders, als wir es uns im täglichen Denken zu glauben erlauben, ver- und gebieten die Strafgesetze im Umgang miteinander gar nichts. Es steht ja nicht im Strafgesetzbuch (StGB), dass Mord verboten ist. Es steht nur drin, was einen Mord ausmacht und wie er bestraft wird. Das StGB enthält keine Gebote im Sinne des „Du sollst …“, sondern eine Preisliste für die Abrechnung hinterher, wenn es längst zu spät ist. Natürlich hält man damit keine Gesellschaft zusammen, sonst würde ja niemand diese Straftaten begehen, wenn sie nur teuer genug wären. Uli Hoeneß‘ Steuerstraftat war aber teuer, und er hat sie trotzdem begangen, so wie viele Kriminelle es tun. Die Gesetze spielen dabei kaum eine Rolle: Was Menschen tun oder nicht tun, das bestimmt sich aus ihrer Kultur.

Was Uli Hoeneß zum Straftäter und Dieb an der Gemeinschaft hat werden lassen ist ein kultureller Fehler, oder wahrscheinlich eine ganze Reihe davon: Die Kultur, dass selbst sinnentleert große Summen von Gewinnen aus völlig unproduktiven Devisengeschäften, bei denen keinerlei Mehrwert geschaffen sondern Geld aus dem Nichts geformt wird, dass diese Gewinne als echter Gewinn, als Erfolg, als etwas Wertvolles und Richtiges verstanden werden; als etwas hart Erarbeitetes; als etwas Gutes. Dann Hoeneß‘ bis zuletzt vertretene Überzeugung, er sei ein guter Mensch, weil er schließlich gespendet habe – obwohl er das gespendete Geld vorher der Gemeinschaft gestohlen hatte, der es rechtmäßig gehörte. Die Vorstellung, einer der viel Steuern zahle habe schließlich schon so viel geleistet, so als wäre sein Lebenswerk mehr wert als das jedes anderen hart arbeitenden Menschen, weil seine Arbeitszeit offenbar teurer ist. So wird sein über Steuern zum Bau eines Krankenhauses geleisteter Beitrag wichtiger als der des Maurers, der das Haus gebaut hat, und des Arztes, der darin Verletzungen verbindet: Es ist ein kultureller Fehler, dass in dieser Gemeinschaftsleistung plötzlich einzelne nach virtuellen Zahlen in ihrem Wert herauf- und herabgesetzt werden, anstatt die Gemeinschaft für ihre gemeinsame Leistung zu feiern.

Insofern ist Uli Hoeneß Verbrechen eines gegen jene Kraft, die unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält, und dementsprechend richtig und wichtig ist es, dass er die Wehrfähigkeit dieser Gemeinschaft auch in seiner Strafe spürt.

Trotzdem wird Uli Hoeneß die ultimative Strafe dieser Gemeinschaft aller Voraussicht nach erspart bleiben. Ich war einigermaßen schockiert ob seiner Einlassung vor Gericht, er wäre kein „Sozialschmarotzer“, denn es zeigt, wie wenig Einsicht er bisher gewonnen hat. Denn natürlich ist er das. Der finanzielle Schaden, den „Karibik-Klaus“ dem Gemeinwesen zugefügt hat, war 22500 Euro. Bei Hoeneß liegt er um mehr als das tausendfache höher. Natürlich ist er ein Sozialschmarotzer, wenn er der Gemeinschaft zigmillionen Euro klaut. Aber er wird ja nicht für immer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen sein. Schon heute gibt es viele, die ohnehin bedingungslos zu ihm halten – und wütende Gegnerschaft ist er gewohnt, die wird ihn nicht schockieren (ich ganz persönlich glaube tatsächlich, dass wir den besten Uli Hoeneß erst noch erleben, anders als den besten Muhammad Ali, den ein völlig ungerechtes Urteil auf dem Höhepunkt seiner Karriere gestoppt hat).

Sebastian Edathy hingegen ist tatsächlich so etwas wie vogelfrei. Es ist richtig und wichtig, dass ein Rechtsstaat klare Grenzen ziehen muss, und es muss seinen Bürgern natürlich erlaubt sein, sich an diesen Grenzen entlang zu hangeln (wobei ich für die Zukunft finde, wir sollten einen Weg finden, den gewerblichen Handel mit Bildern nackter Kinder zu unterbinden). Aber die Gemeinschaft basiert auf Kultur, und in diese Kultur passt weder die sexuelle Ausbeutung von Kindern, noch jemand, der sich dabei nur auf technisch-formale Details herausredet und die Problematik seines Handelns nicht erkennt.

Deshalb glaube ich, dass das System funktioniert: Weil wir das unterscheiden können. Weil ich einen Uli Hoeneß mögen kann und finden, er verdient zwar seine Strafe, aber damit muss es auch gut und getan sein, während ich andere für Vergehen bestrafen kann, auch wenn es formal keine sein mögen.

Ich bin provoziert worden

Dirk von Gehlen hat mir offenbar ein „Blogstöckchen zugeworfen“, was bedeutet, ich bin jetzt so eine Art Geisel und kann nicht mehr ruhig schlafen, bis das hier erledigt habe.

Zähle 5 Bücher auf, die ganz oben auf deiner Wunschliste stehen, die aber KEINE Fortsetzungen von Büchern sind, die du schon gelesen hast – sie sollen also völlig neu für dich sein. Danach tagge 8 weitere Blogger und informiere diese darüber.

Ich halte das für eine Art Kettenbrief mit einem bescheuerten Namen, aber für Dirk würde ich selbst dabei mitmachen (außerdem ist mir gerade eingefallen, dass ich ja alle Bücher mit Amazon-Affiliate-Links versehen kann, oder? Ich versuche das). Ich warne vorweg, dass mein Literaturgeschmack unvorstellbar unoriginell und merkwürdig ist.

Also:

1. Tatsächlich ungelesen liegt bei mir ungelesen Zadie Smith – NW
auf dem Nachttisch. Weil ich sie ziemlich verehre und alle ihre Bücher geliebt habe. Ich fühle mich auf die bizarrstmögliche Art mit ihr verbunden: Ich habe das Gefühl, sie macht das, was ich tun würde, wenn ich es könnte (ähnliche Gefühle habe ich übrigens in der Musik in Bezug auf Badly Drawn Boy (Affiliate Link: Have You Fed The Fish),in der Mode für den unverschämt viel zu früh verstorbenen Alexander McQueen und beim Sport selbstverständlich für Iron Mike Tyson). Und ich lese gerne auf englisch, um mein Englisch zu erhalten.

2. Entsprechend werde ich sicher irgendwann Mike Tysons Undisputed Truth: My Autobiographylesen, wobei da wahrscheinlich noch ein paar Bücher dazwischenrutschen, an die ich im Moment noch nicht denke, die ich dann plötzlich wichtiger finde, obwohl sie es sicher nicht sind.

3. Das Geschäft mit der Musik: Ein Insiderberichthätte mich kein Stück interessiert, wenn ich nicht dieses irrwitzig spannende Interview mit ihm auf heise.de gelesen hätte, bei dam man (ich zitiere meinen Bürokollegen hier) „jeden Satz rausnehmen und küssen will“. Jetzt ist das wohl Pflicht.

4. Und als Politik-Nerd freue ich mich auf Das Hohe Haus: Ein Jahr im Parlamentvon Roger Willemsen.

5. Ich habe außerdem eine Schwäche für den Mond und fest vor, ihn noch in meiner Lebenszeit zu bereisen. Deshalb ist für mich das ohne Frage tollste, schönste und wichtigste Buch des vergangenen Jahres Norman Mailer: Moonfire: The Epic Journey of Apollo 11.Es liegt bei mir nicht ganz ungelesen, aber ich bin noch lange nicht damit fertig (ich kannte natürlich auch den Text von Norman Mailer schon und habe es wegen des Gesamtpakets gekauft. Unfassbare Fotos!). Insofern erfüllt das Buch nur so halb die Kriterien.

Ich weiß, ich soll jetzt acht (ACHT?) Blogger benennen, die ihre Buchvorsätze aufzählen sollen. Mach ich aber nicht.