Gutmenschen

Selbst in der über alle Maßen bewundernswerten Reaktion der norwegischen Öffentlichkeit auf den Massenmord vor einer Woche gibt es noch Dinge, die herausstechen. Angesichts der Katastrophe haben die Führer des Landes – allen voran Ministerpräsident Stoltenberg und Kronprinz Haakon – Worte und Haltung gefunden, die der ganzen Nation und darüber hinaus Menschen in der ganzen Welt in dieser langen, dunklen Nacht der Seele Trost, Mut, Kraft und das Gefühl einer starken Gemeinschaft gegeben haben.

Heute Abend sind die Straßen mit Liebe gefüllt. Wir wollen Grausamkeit mit Nähe beantworten. Wir wollen Hass mit Zusammenhalt beantworten. Wir wollen zeigen, wozu wir stehen. […]

Heute Abend sind die Straßen mit Liebe gefüllt. Wir stehen vor einer Wahl. Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen. Aber wir können uns entscheiden, was es mit uns als Gesellschaft und als Einzelnen macht. Wir können uns dafür entscheiden, dass niemand allein stehen muss. Wir können uns dafür entscheiden, zusammenzustehen.

Jeder Einzelne hat diese Entscheidung, Du hast sie und ich habe sie. Zusammen haben wir eine Aufgabe zu erfüllen. Diese Aufgabe steht an, wenn wir beim Abendessen zusammensitzen, in der Kantine, beim Vereinsleben, als Freiwillige, Männer und Frauen, auf dem Land und in der Stadt.

Wir wollen ein Norwegen in dem wir zusammenleben in einer Gemeinschaft, mit der Freiheit Meinungen zu haben und uns zu äußern. In der wir Unterschiede als Möglichkeiten sehen. In der Freiheit stärker ist als Angst. Heute Abend sind die Straßen mit Liebe gefüllt.

Kronprinz Haakon

Ich kann (und mag) mir niemanden vorstellen, der davon unbewegt bleibt. Aber natürlich wissen wir, wie sehr die Aufgabe verblassen wird mit jedem Tag Abstand von den Geschehnissen, so wie sie sicher blasser sind mit dem räumlichen Abstand vom Ort des Geschehens. Es werden Tage kommen, wo wir in Kantinen kaum zusammen sitzen mögen, geschweige denn zusammenstehen. Und ich kann mir sehr genau vorstellen, wie an einem solchen Tag ein erwachsener Mann genannt werden wird, der öffentlich von Liebe, Nähe und Zusammenhalt spricht. Es gibt in unserer Gesellschaft tatsächlich einen Kampfbegriff für jemanden, der ständig das will, von dem den meisten nur in Ausnahmesituationen bewusst wird, dass sie es eigentlich auch richtig finden.

Am Donnerstag vor dem Massenmord hätte man Haakon für dieselben Worte einen „Gutmenschen“ genannt.

Es ist einer der schlimmsten Begriffe, die ich mir überhaupt vorstellen kann, weil er in Wahrheit die Tür zu einer ideologischen Gesamtladung aufstößt. Ich zitiere einigermaßen willkürlich ein winziges, unwichtiges Beispiel aus der bürgerlichen Presse, gerade um zu zeigen, wie weit es sich in die ganz normale Debatte gefressen hat: Am 1. Mai portraitierte Winand von Petersdorff in der FAS den Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus und bietet dabei eine erstaunliche Erklärung für dessen Erfolge. Yunus‘ Mikrokredite an die Ärmsten, um diesen einen Einstieg ins Geschäftsleben zu bieten, funktionierten zwar wahrscheinlich nicht, gefielen aber allen offenbar relevanten Gruppen, nämlich liberalen Ökonomen, Pragmatikern unter den Entwicklungshelfern, Linken und – natürlich – Gutmenschen.

Nun ist man wahrscheinlich selber schuld, wenn man sich wie ich überhaupt über einen Autoren ärgert, der Yunus in seinem Text mehrfach nur den „kleinen Bengalen“ nennt, aber irgendwann reicht eben alles – und Petersdorff ist ja auch diesseits der Broders und ähnlicher Taschenwärmer-Reaktionäre nicht allein in seiner Verächtlichmachung von Menschen, die glauben, dass es Norwegen tatsächlich gibt. Denn das ist die Ideologie: Gutmenschen, lautet der immer implizierte Vorwurf, glauben an das Gute im Menschen, und das sei naiv.

Dass das Gegenteil des Vorwurfs richtig ist, dass nämlich eine Gesellschaft, die auf der permanenten Abwehr des Schlechten basiert nicht funktioniert, hat in letzter Zeit wohl niemand besser in Worte gefasst als Norwegens Premierminister Jens Stoltenberg.

Inmitten dieser Tragödie bin ich stolz darauf, in einem Land zu leben, das es geschafft hat, in einem kritischen Moment aufrecht zu bleiben. Ich bin beeindruckt von der Würde, dem Mitgefühl und der Entschlossenheit die mir begegnet sind. Wir sind ein kleines Land, aber ein stolzes Volk.

Wir sind immer noch von dem, was passiert ist geschockt, aber wir werden nie unsere Werte aufgeben. Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Menschlichkeit. Aber nie Naivität.

Wenn es einmal ein Gutmenschen-Manifest geben sollte, dann sollten die letzten zwei Sätze seine Präambel werden, und wer immer ein Land zu führen hat, sollte seinen Eid darauf ablegen.

Mögen die Gutmenschen gewinnen.

Deutsch-österreichische Nachrichtenorganisationen versagen

Ich weiß nicht einmal, wie ich die Unfähigkeit nennen soll, die offensichtlich Redakteure befällt, wenn sie über Zypern schreiben sollen.

Erdogan will die Beziehungen zur EU während der griechisch-zyprischen Ratspräsidentschaft einfrieren.

Das schreibt Spiegel Online, auch nachdem sich der Bildblog – von dem mir niemand erzählen muss, dass er bei SpOn nicht gelesen würde – schon einen Tag vorher darüber lustig gemacht hat, dass offensichtlich auch Mitarbeiter der Agentur AFP nicht in der Lage sind, Zypern und Griechenland auseinander zu halten. Natürlich ist der Weltmarktführer der Idiotie in diesem Fall immer noch Welt Online, die in der Bildunterschrift zu dem entsprechenden Artikel immer noch tagelang behauptet haben, Griechenland und Zypern würden gemeinsam die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Aber während manche Redaktionen sich von dem katastrophal bescheuerten AFP-Artikel in die Irre führen lassen, schreibt Jürgen Gottschlich aus Istanbul offenbar bei vollem Bewusstsein für SpOn Sätze wie diesen:

Hoffnungen auf ein Einknicken macht Erdogan den Griechen allerdings nicht: Jene Zugeständnisse, welche die Türkei im Uno-Plan von 2004 gemacht hatte, sind laut Erdogan obsolet.

Um es noch einmal so zu sagen, dass es auch die fast vollständig retardierten unter den Nachrichtenmenschen in den sicher irgendwie total überlasteten Redaktionen verstehen: Zyprioten oder meinetwegen Zyprer sind genau das, und nicht Griechen. Zypern ist ein unabhängiger Staat, und es ist nichts an der Zypernkrise umstritten. Die angebliche Republik Nordzypern ist genau von einem einzigen Staat der Welt anerkannt, nämlich der Türkei, während das angebliche Südzypern, das Ihr auch gerne mal griechisches Zypern nennt, in Wahrheit die Republik Zypern ist, die die ganze Insel umfasst, Mitglied der EU ist und mit Griechenland so viel zu tun hat wie Österreich mit Deutschland. So viel Versagen bei den einfachsten, aber wirklich allereinfachsten Fragen des Nachrichtenjournalismus wie in den letzten zwei Tagen habe ich schon mindestens seit zwei Wochen nicht erlebt. Ihr Nulpen!

PS. VIEL besser spät als nie: Welt.de hat den Text korrigiert und angemerkt

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieser Nachricht wurde Zypern fälschlich als „griechische Inselrepublik“ bezeichnet. Fakt ist, dass Zypern eine eigenständige Republik ist und kein Ableger Griechenlands. Wir bitten um Entschuldigung.

Ich ziehe die Nulpen also zurück, obwohl ich mich gerade so an das Wort gewöhnt hatte.