Die Live-Reportage

Vor ein paar Monaten, auf der Höhe der sogenannten Griechenlandkrise, als ich ein paarmal in verschiedenen Medien zu sehen, zu hören oder zu lesen war, war unter den Mails, die ich bekam, auch die einer Frau, deren Tochter vor drei Jahren in Athen unter bis heute nicht wirklich aufgeklärten Umständen gewaltsam ums Leben kam. Die griechischen Behörden behandelten den Fall lange Zeit als Selbstmord, und die Mutter hatte erstens den Eindruck, es gäbe sehr viele Hinweise darauf, dass ihre Tochter sich nicht selbst das Leben genommen hat, und zweitens, dass die griechischen Behörden sich nicht ausreichend um die Aufklärung bemühten (und die deutschen Behörden sie nicht genug dahingehend unter Druck setzen). Die Mutter schrieb mir, weil sie sich seit drei Jahren an praktisch jeden wendet, der auch nur entfernt mit Griechenland zu tun hat. Sie nutzt, und sagt das auch genau so, jede Gelegenheit, um neue Bewegung in die Untersuchungen zu bringen.

Ich habe ihr freundlich geantwortet, wie leid mir das alles tut. Ich bin selbst Vater von zwei (allerdings noch sehr kleinen) Mädchen, und selbst wenn ich den Schmerz nicht einmal im Ansatz nachvollziehen kann, jagt allein die Vorstellung, ein Kind zu verlieren, kalte Schockstöße des Horrors meine Wirbelsäule hinab. Um ganz ehrlich zu sein, meine Grundstimmung war die: Ich habe unendliches Mitleid mit der Familie. Aber ich habe meine berufliche Laufbahn erstens als Polizeireporter begonnen und weiß, dass solche Albtraum-Erlebnisse die Urteilsfähigkeit schwächen können. Und ich weiß außerdem, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass griechische Behörden den Tod einer Deutschen in Athen nur nachlässig untersuchen. Ich bin in diesem Moment davon ausgegangen, dass die erschütterte Familie ganz einfach nicht wahrhaben will, dass ihre Tochter sich umgebracht hat. Und das fände ich total verständlich.

Allerdings habe ich die Energie der Mutter, Marion Waade, extrem unterschätzt. Sie schrieb mir noch einmal die Eckdaten des Falles rund um den Tod ihrer Tochter Susan (die zum Zeitpunkt ihres Todes knapp 27 Jahre alt war), wir haben telefoniert, und ich habe angeboten, mir zumindest einmal die Unterlagen anzusehen, auch um zu gucken, ob ich ihr mit meinem Bauerngriechisch irgendeine Unterstützung sein kann (mein Bauerngriechisch ist allerdings mit – teilweise handschriftlich verfassten – juristischen Unterlagen völlig überfordert). Und es ist ein Berg von Unterlagen – faul waren die Behörden jedenfalls nicht.

Dabei musste ich allerdings feststellen, dass eine ganze Reihe von Vorwürfen eine Grundlage haben. Das muss nicht heißen, dass sie stimmen, aber es gibt eine ganze Menge Fragen zu stellen. Nur als Beispiel, und um zu verdeutlichen, wo meine Überlegungen anfangen: Susan Waade soll sich erhängt haben, aber im Sitzen. Sie ist nach Ansicht der Polizei nicht von einem Hocker oder einer Kiste gesprungen, sondern hat sich sitzend so in die Schlinge eines aufgeknüpften Wollschals gelehnt, dass sie daran erstickte. Das ist technisch wohl möglich, aber es erscheint einigen Experten als unwahrscheinlich, zumal sie keine Betäubungsmittel genommen und wohl auch keinen Alkohol getrunken hatte. Es bleibt eine Frage zurück.

Und Fragen sind das, worauf Journalisten anspringen. Oder nicht?

Ich bin damals von Frau Waade weggefahren mit dem Versprechen, mir Gedanken zu machen. Und das habe ich getan. Und dabei stößt man sehr schnell auf ein Problem. Denn in Wahrheit springt der Journalismus längst nicht mehr auf Fragen an, sondern nur noch auf Antworten. Um diese Geschichte zu schreiben, würde ich mich entscheiden müssen und Partei ergreifen, denn wie soll man sonst als Autor diese Geschichte vorschlagen? Die Möglichkeiten sind in Wahrheit begrenzt: „Eine junge Frau wird ermordet und die Behörden schlampen bei den Ermittlungen – Skandal“? Oder als „Eine Berliner Familie glaubt, ihre Tochter ist ermordet worden und verlangt Aufklärung“, menschelnd, traurig, anklagend? Diese Geschichte hat es tatsächlich mehrfach gegeben, die Waades waren zum Beispiel bei Stern TV. Aber es ist eben nur die Hälfte der Geschichte. Warum, fragte ich mich, kann ich nicht die Geschichte vorschlagen: „Eine junge Frau kommt gewaltsam ums Leben, ob Mord oder Selbstmord weiß ich nicht, aber ich würde gerne darüber schreiben, ich würde gerne berichten, ohne dass Ende zu kennen“?

Es fällt für einen Freien wie mich schon schwer, mir eine Redaktion auszudenken, der man so etwas vorschlagen kann. Und das ist aus meiner Sicht ein Verlust für den Journalismus und den Beitrag, den Journalismus zu einer funktionierenden Gesellschaft beitragen kann. Es stellt die Reihenfolge auf den Kopf: Vor allem wir Freien müssten die echte Arbeit machen, bevor wir sie überhaupt für einen Auftrag vorschlagen können, die Recherche bis hin zur These vollendet haben, bevor wir Geld dafür verlangen können. Oder aber, und das ist es, was passiert: Wir müssen eine Geschichte vorschlagen, von der wir nicht sicher sein können, ob sie wahr ist – und stehen hinterher realistischerweise unter dem Druck, die recherchierten Fakten so zu beleuchten, dass wir für den Chefredakteur die Erwartung an die These befriedigen können – denn er hat mit der These seine Ausgabe geplant. Da läuft etwas falsch. Ich hatte also das Gefühl, da wäre eine Geschichte, die es sich zu erzählen lohnt, aber die Geschichte hatte eben kein Ende, keine These, keine echte Richtung. Diese Geschichte ist kompliziert, ausufernd, nicht klar zu greifen – genau so, wie das Leben eben ist. Aber der Journalismus nicht.

Ein paar Tage später bin ich mit der Idee aufgewacht, dass das vielleicht schon die Antwort ist. Warum erzählt man diese traurige Geschichte nicht ausufernd und kompliziert, warum gibt man nicht allen Lesern, die es interessiert, die Möglichkeit, sich ein Bild zu machen, ohne sich vorher zu entscheiden? Ohne es vorher in Rahmen zu pressen wie „Skandal“ oder „menschliche Tragödie“? Warum berichtet man nicht das, was man herausfindet, während man es herausfindet, egal, wie wichtig oder nebensächlich das jetzt für irgendeine These ist? Das Internet gibt uns die Möglichkeit, warum probieren wir es nicht aus?

Ich habe Timm Klotzek von Neon zu einer unmöglichen Zeit am frühen Morgen eine SMS geschrieben, und er rief ein paar Minuten später zurück. Er mochte die Idee, aber er hatte auch Bedenken. Sie haben es sich bei Neon nicht leicht gemacht und den Vorschlag ein paar Wochen lang hin und her gewendet, denn natürlich hat diese Geschichte viele Anteile, die nach einer boulevardesken Crime-Story riechen, die eigentlich nicht zu Neon und neon.de passt. Umso mehr muss ich mich bei ihnen für das Vertrauen bedanken, dass ich es schaffen könnte, ohne eine billige, sensationsheischende Geschichte daraus zu machen, die Neon mehr schadet als nützt (und die ersten Kommentatoren auf neon.de sind tatsächlich sehr, sehr kritisch deswegen – und das macht die Seite aus meiner Sicht zum besten denkbaren Ort dafür).

Ich habe das noch nie gemacht, ich kenne auch niemanden, der so etwas schon einmal gemacht hat, und dafür gibt es gute Gründe. Der beste ist: Es kann schiefgehen. Es ist ja nichts wirklich geplant. Es gibt kein Script. Und ich kann jeden gestandenen Reporter verstehen, der sich nicht dem Risiko aussetzen will, zehn Tage lang darüber zu berichten, dass er vor verschlossenen Türen steht und dass niemand mit ihm reden will. Aber die Wahrheit ist doch auch: So, wie es heute ist, wo wir nicht wissen, was Journalisten tun, bis sie es uns „herausgeben“ – wo wir nicht überprüfen können, welche Informationen sie tatsächlich haben und wie sie sie interpretieren, stehen die Journalisten vielleicht gefühlt besser da, aber ihre Auftraggeber, die Leser, nicht unbedingt.

Wenn ich eine Geschichte darüber gemacht hätte, dass Susan Waade wahrscheinlich umgebracht wurde, hätte das eine schöne, respektierte Reportage werden können. Wenn ich eine Geschichte darüber gemacht hätte, dass Susan Waade sich wahrscheinlich selbst umgebracht hat, ihre Eltern es aber einfach nicht wahrhaben wollen, genauso. Und das, obwohl ich nicht weiß, welche Version stimmt, es vielleicht nie wissen werde und trotzdem der festen Überzeugung bin, dass dieses eine Geschichte ist, die es wert ist, erzählt zu werden. Und bei der sich die Leser ihre eigenen Gedanken machen werden, sollen und können.

Bei all dem muss allerdings eine Sache immer im Vordergrund stehen: Es geht um das Schicksal eines Menschen. Und das ist die eine Sache, die ich auf jeden Fall erzählen möchte: Die Geschichte von Susan Waade, einer eigensinnigen, freiheitsliebenden, manchmal starrköpfigen, großherzigen und abenteuerlustigen jungen Sängerin aus Berlin, die nichts mehr liebte als die Musik. Und das allein ist es mehr als wert.

Am 21. geht es los, und zwar hier: www.neon.de/alle/livereportage

Du bist neue Medien

Mit Christian Wulff ist nur der zweitbeste Kandidat Bundespräsident geworden, zumindest, wenn man die Meinung der Bevölkerung zugrunde legt – aber was könnte man denn eigentlich sonst zugrunde legen? Irgendetwas muss es da geben, irgendeine Erklärung, an die sich viele der Wahlmänner und -frauen in der Kabine geklammert haben, als sie ein Kreuzchen da gesetzt haben, wo sie wussten, dass es der Souverän – wir, das Volk – nicht haben wollte. Irgendwie müssen sie es sich innerlich schöngeredet haben, anders kann man ja sonst nicht mehr in den Spiegel schauen. Und erstaunlicherweise haben sie damit der Demokratie aus meiner Sicht einen Dienst erwiesen. Denn sie haben gezeigt, dass zwar die politische Klasse des Landes weitgehend vergessen zu haben scheint, was Politik eigentlich ist – aber wir nicht. Und dass das Desinteresse an den Winkelzügen dieser Klasse nicht Politikverdrossenheit ist, sondern Politikerverdrossenheit. Aber wer sagt denn eigentlich, dass wir diese Politiker überhaupt noch brauchen?

Politik ist am Ende nur die Kunst, möglichst große Einigkeit herzustellen. Und wir hatten eine weit gehende Einigkeit: Den Umfragen nach wollten plusminus zwei Drittel der Deutschen Joachim Gauck als nächsten Bundespräsidenten. Und das wiederum – und hier liegt der Knackpunkt – offenbar deshalb, weil sie sich von ihm versprochen hatten, er könne Einigkeit in Deutschland herstellen. Was, wenn man es richtig bedenkt, eine genau so schöne wie bizarre Vorstellung ist: In einem Amt, dessen ganze Gestaltungsmacht darauf beruht, dass man Reden hält, bedeutet die Fähigkeit, Einigkeit herzustellen, ja letztlich nur: Der Mann wäre nach unserer Ansicht in der Lage gewesen, die Dinge so in Worte zu fassen, dass wir festellen, dass wir uns in den meisten Fragen ohnehin einig sind. Genau wie in dem tiefen, berechtigten Glauben an die Macht des Mediums Wort für den Fall, dass wir es in wichtigen Fragen einmal doch nicht sind (auf die Frage, wie er zum Krieg in Afghanistan steht, sagte Gauck „ich ertrage ihn“. Das war für mich nicht nur das Schlaueste, was ich dazu gehört habe, sondern vielmehr meine eigene Haltung, für die ich noch keine Worte gefunden hatte. Das zu hören war für mich einen Moment lang wie nachhause kommen).

In der Welt der Politiker gelten beide Prinzipien in Wahrheit nichts. Im Gegenteil: Anstatt Einigkeit herzustellen, gilt es als karrierefördernd und unumgänglich, Unterschiede „zuspitzen“ zu können. Und die Macht des Wortes ist der Fähigkeit gewichen, Zuspitzungen oder teflonartige Nichtpositionen in Soundbytes als Statements für die Tagesschau abzusondern. Es lässt sich ja nicht von der Hand weisen, dass die Wahrscheinlichkeit eher hoch ist, dass selbst aus Philipp Mißfelder im Sinne einer politischen Karriere „noch einmal irgendetwas wird“. Und das liegt nicht unwesentlich an dem, was Politiker als „die Gesetzmäßigkeiten der Medien“ verstehen. Die allerdings ändern sich gerade für immer.

Die große, öffentliche und unaufhaltsame Kampagne ganz normaler Menschen, die gefragt und ungefragt ihre Präferenz für ein notorisch langweiliges Amt erklären, zeigt, dass Menschen ein Interesse daran haben, wer sie regiert. Die sinkenden Wahlbeteiligungen zeigen, dass sie allerdings nicht das Gefühl haben, durch Wahlen etwas zu verändern. Dass sich ausgerechnet bei einer Wahl, bei der das Volk gar nicht zur Urne gerufen wird, so viele Menschen emotional oder gar mit Briefen und Online-Kampagnen engagieren, liegt aus meiner Sicht an einer einfachen Tatsache: Durch die besondere Konstellation dieser Bundespräsidentenwahl sah es während eines begrenzten Zeitraumes so aus, als würden die ganz normalen Menschen mit ihren Wünschen tatsächlich gehört werden. Jemand, der seine Meinung irgendwo online veröffentlichte, konnte davon ausgehen, einen winzig kleinen Beitrag zum großen Meinungskanon beizusteuern. Aus denen, die im politischen Betrieb durch die „Gesetze der Medien“ eigentlich als Empfänger der Botschaft vorgesehen sind, wurden zu Sendern ihrer eigenen. Das, und nur das, sind neue Medien.

Wie stark diese neuen Sender, wir alle, sind, wenn wir uns einer Sache einig sind, zeigt die Tatsache, dass die Anhänger der alten „Gesetze der Medien“ genau das tun mussten, was sie am schlechtesten können, weil es in ihrem Gesetzbuch nicht vorkommt: zuhören. Die Macht der Worte hat sie zumindest dazu gezwungen. Und wenn wir das einmal schaffen, warum nicht immer wieder?

Ich glaube, dass sich letztlich alle Probleme der Medien darauf zurückführen lassen: Sie sollten ein Vehikel des Austauschs von Informationen zwischen Menschen sein. Aber Austausch hat zwei Richtungen, und das sehen die alten Gesetzmäßigkeiten bis heute nicht vor. Dabei brauchen wir nur auf die Qualität von Kommentaren unter Beiträgen im Internet nachzusehen, um das Gesetz der neuen Medien zu lernen: Wenn an dem einen Ende ein Mensch steht, der sich zu erkennen gibt, dann wird der am anderen Ende sich im Regelfall auch benehmen wie ein Mensch. Steht aber an dem einen Ende nur eine Institution, eine Funktion, eine gesichtslose Maschine, führen sich auch Kommentatoren in vielen Fällen in einer Art auf, die weit jenseits ihres alltäglichen Umgangs liegen dürfte.

Für Politiker gilt das neue Gesetz der Medien – der Zwang zum Zuhören – umso mehr, weil wir sie ja überhaupt nur als Medium der Übertragung unserer Wünsche, Lebens- und Gesellschaftsmodelle nach oben in ihre Position gewählt haben. Wer von ihnen, egal wie unbewusst, sich nur als Sender einer Botschaft zu uns versteht, als Institution, der wird es im Zeitalter der neuen Medien bald so unerträglich schwer haben wie die Medienhäuser, die nur in eine Richtung funktionieren – und sie werden möglicherweise nicht einmal wissen, was ihnen zugestoßen ist.

Aber wir wissen, was ihnen zugestoßen ist: wir.