Lehnt dpa die Realität eigentlich ab, oder hält sie sie nur für nicht notwendig?

Es ist nicht, was ich im Innern bin, was mich definiert – sondern das, was ich tue.

Batman

Die Deutsche Presse-Agentur dpa ist eine Art offizielle Institution in der Art, wie auch die Tagesschau eine Institution ist: an Glaubwürdigkeit gemeinhin nicht zu überbieten. Sie ist so etwas wie die Sparkasse unter den Produzenten journalistischer Inhalte: wenig funky – man erwartet dort keine Texte mit literarischem Anspruch –, aber grundsolide in der Recherche und genau in der Umsetzung. Die dpa ist die Art Agentur, auf deren Informationen sich deutsche Diplomaten im Ausland verlassen. Offenbar ist das keine so gute Idee, wie ich bisher gedacht hätte. Denn die dpa macht nicht nur Fehler (wie jeder andere auch), sie macht Fehler an politisch entscheidenden Stellen: da, wo sie der offiziellen politischen Propaganda gut in den Kram passen.

In der vergangenen Woche berichtete die dpa über das Gutachten einer Gruppe von 17 prominenten internationalen Ökonomen (darunter aktuelle und ehemalige deutsche „Wirtschaftsweise“), die vor den extremen Gefahren der aktuellen Euro-Krise in starken Worten warnten und Lösungsvorschläge präsentierten. Tatsächlich übernahmen praktisch alle Medien den dpa-Bericht (zum Beispiel sowohl bild.de als auch faz.net, was als Kombination ohnehin schon verstörend ist). Zunächst las offenbar kein Journalist außerhalb der dpa den Bericht dieser „Euro Task Force“ des Institute for New Economic Thinking (INET) tatsächlich durch, was einigermaßen fatal ist, denn der dpa-Bericht enthielt einen Fehler an einer entscheidenden Stelle:

Eine langfristige Transferunion lehnen sie […] ebenso ab wie Eurobonds.

Dieser Satz ist selbst für einen Amateur wie mich hier überraschend, wenn man sich auch nur eine Sekunde lang mit der Zusammensetzung der Gruppe beschäftigt. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger ist ein Mitglied, der schon lange vertritt, dass Eurobonds notwendig sind. Patrick Artus sitzt der Kommission vor, der seit Monaten wenn nicht Jahren erklärt, eine Transferunion sei völlig unausweichlich und eine gemeinsame Haftung durch das Target-System längst Realität. Und wenn man den Text dann liest stellt man fest, dass das Gegenteil dessen, was dpa behauptet, darin steht: Eine kurzfristige Vergemeinschaftung der Schulden wird als schnelle Maßnahme ausdrücklich gefordert, auch Werkzeuge, die man durchaus als Eurobonds bezeichnen könnte, einzig die langfristige Einführung solcher Bonds halten in der Gruppe offenbar nicht alle für zwingend, deshalb hat man sich auf die Formulierung geeinigt, Eurobands seien „nicht notwendig“. Ablehnung ist etwas völlig anderes.

Das ist ein schwerer Fehler. Stefan Niggemeier hat ihn für den Bildblog nachrecherchiert und dokumentiert, die dpa erklärt er basiere auf ihrer „Interpretation“ des Textes – was bizarr ist. Der Text ist eindeutig (und Peter Bofinger hat ihn dem Bildblog noch einmal bestätigt). Interessant ist, dass erstens die FAZ den Fehler am nächsten Tag in einem von einem Wirtschaftsredakteur gezeichneten Artikel wiederholt – und dann auch noch die Bundesregierung in ihrer Reaktion auf die Forderungen der Euro-Task-Force anmerkt, wenigstens sei man sich bei den Eurobonds einig. Die Fehler der dpa pflanzen sich fort, und zwar in einer Weise, die nicht einfach der Bundesregierung nützt, sondern auch ihre längst von den Realitäten entkoppelte Ideologie unterstützt. Und damit kommen wir endlich zurück zu Batman. Zumindest gleich.

Die Frage ist: Kann es sein, dass hier ein dpa-Mitarbeiter einfach nur einen Fehler gemacht hat? Das ist schwer vorstellbar. Dafür ist der Text der Task Force zu eindeutig, dafür sind auch die Positionen zumindest einiger ihrer Mitglieder zu bekannt. Und dpa selbst nennt ihre Berichterstattung eine „Interpretation“ – warum auch immer die Information, jemand halte etwas für „nicht notwendig“ interpretiert werden müsste. Es wirkt natürlich schräg, dass ein Wirtschaftsredakteur der FAZ noch einen Artikel über die Empfehlungen der Task Force schreibt, ohne ihn zu lesen, aber ich habe ja schon beschrieben, welche Glaubwürdigkeit dpa-Meldungen normalerweise haben. Natürlich muss gerade einem Wirtschaftsredakteur auffallen, was da passiert, aber das Versagen ist zumindest mit Faulheit oder Zeitmangel erklärbar. Und dass unsere Bundesregierung Stellung nimmt zu Texten, die sie nicht gelesen hat, ist … vielleicht Absicht? Immerhin sieht sich die Bundesregierung so in einem Kernstück ihrer Wirtschaftspolitik bestätigt, das sich ansonsten ausschließlich auf Ideologie gründet.

An welche Mittel Menschen wirklich glauben sieht man daran, worauf sie setzen, wenn es für sie eng wird. Das ist so beim ewigen Kampf zwischen Schulmedizin und Homöopathie, aber eben auch bei pro- oder antizyklischer Wirtschaftspolitik. Die deutsche Bundesregierung hat (in der großen Koalition) unter Merkel eindeutig antizyklisch auf die Wirtschaftskrise reagiert (z.B. mit zwei Konjunkturpaketen, Kurzarbeitergeld und der Abwrackprämie), also „auf Pump“ die Nachfrage belebt. Das hat gut funktioniert. Jetzt verlangt sie im Brustton der Überzeugung von allen anderen in Europa das Gegenteil, nämlich im Abschwung zu Sparen. Das hat, für jeden offensichtlich, nicht funktioniert. Nirgendwo. Es treibt ganze Völker ins Elend. Es gibt keinen aufgrund von Zahlen und Fakten argumentierbaren Grund mehr, an diesem Weg festzuhalten – aber eben eine nicht auf Tatsachen basierende Überzeugung, eine Ideologie. Sie wird gern mit intuitiv verständlichen Phrasen erklärt wie „Schulden kann man nicht mit Schulden bekämpfen“ und „wenn der Staat Schulden macht ist das unsozial, weil es die Probleme der Gegenwart auf zukünftige Generation abwälzt“. Beides ist Blödsinn, aber es klingt vernünftig, wenn man fälschlicherweise versucht, die Erfahrungen eines Privathaushaltes mit denen eines Staatshaushaltes zu vergleichen (was Wähler offenbar oft genug tun). Die prozyklische Wirtschaftspolitik, verbunden mit der neoliberalen Ideologie des „schlanken“ Staates, nützt vor allem denen, die den Staat nicht brauchen, weil sie sich besseres leisten können. Auftritt FDP.

Im Zuge der Neoliberalisierung der deutschen Politik ist es den daran interessierten Kreisen in beeindruckender Art und Weise gelungen, falsche Vorstellungen zu vermeintlichem Allgemeinwissen werden zu lassen. Dazu gehört nicht zuletzt, dass Eurobonds schlecht für Deutschland wären, weil sie Deutschland überfordern würden. Die Wahrheit ist genau anders: Ein Zusammenbrechen des Euroraumes würde Deutschland überfordern, wie es durch das momentane System mit nationalstaatlichen Anleihen sehr viel wahrscheinlicher ist, weil einzelne Staaten mörderisch Zinsen zahlen müssen und so zahlungsunfähig werden könnten. Die einzigen, denen das momentane System nützt, sind diejenigen, die die hohen Zinsen erhalten: Banken und diejenigen, denen sie gehören (und denen seit Jahren von den Steuerzahlern regelmäßig der Arsch gerettet wird).

All das den Wählern zu erklären nimmt sich selbst bei SPD und Grünen schon gar kein Politiker mehr vor. Auch dort haben sie vor der vermeintlichen Dummheit der Wähler kapituliert. Anstatt mit echten Informationen um Vertrauen zu werben, anstatt mit echten Lösungen den Euroraum wieder in die starke Stellung zu bringen, die ihm zusteht (ein Euroraum mit gemeinschaftlichen Schulden hätte nach Aussage der Ratingagenturen selbstverständlich ein AAA-Rating und keinerlei Probleme, seine Schulden zu finanzieren, die dann überschaubare 87 Prozent des BIP ausmachen würden). Stattdessen wird argumentativ in einem virtuellen Raum agiert, in dem die Logik der viel zitierten „schwäbischen Hausfrau“ zu Naturgesetzen mutiert ist. Selbst die dpa „interpretiert“ Informationen dabei so, dass sie passen. Die Euro-Krise ist eine Art Ego-Shooter für Politiker geworden, eine eigene Realität. In der echten Realität verdienen derweil Banken weiter Geld mit Geschäften, deren Risiko der Steuerzahler trägt.

Die Frage ist: Ist das Absicht? Auf Seiten der Bundesregierung ganz sicher. Es ist nicht so, dass sie keine soziale Ader hätte: Sie dient immerhin als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für eine Reihe von Menschen, die ansonsten schwer vermittelbar wären. Philipp Rösler ist ja nicht einfach nur nicht ministrabel, um von Dirk Niebel und Rainer Brüderle mal gar nicht erst anzufangen. Das Beste, was man über Guido Westerwelle sagen kann ist, dass man wenig von ihm hört. Ironischerweise ist es diese FDP, die in der möglicherweise letzten Legislaturperiode ihres Bestehens den Schwenk von der antizyklischen, handelnden Bundesregierung in der Großen Koalition zur paralysierten aber mit dem Mund prozyklischen Traumkoalition begründet hat. Es ist jene Fraktion, der die Bundeskanzlerin in einem besonders bizarren Moment versprochen hat, es gäbe keine gemeinsamen europäischen Anleihen „so lange sie (Angela Merkel) lebe“. Da wäre es ein Geschenk, wenn tatsächlich eine derart prominent besetzte Riege wie die der INET ihren Kurs unterstützen würde, der so offensichtlich bisher nicht greift. Da ist es sogar verständlich, wenn sich die Bundesregierung in ihrer Antwort eher auf die erkennbar falsche dpa-Berichterstattung stützt als auf den Text selbst. Es bleibt unethisch, aber verständlich ist es schon. Bleibt die Frage, warum dpa „interpretiert“ anstatt einfach zu berichten.

Es will mir kein einfacher Grund einfallen. Auch bei mehrmaligem Lesen ist es unmöglich, den Originaltext der INET-Task Force falsch zu verstehen – ganz besonders für jemanden, der das, anders als ich, hauptberuflich macht und wahrscheinlich noch viel mehr mit den Positionen der Unterzeichner vertraut ist. Man muss ihn schon unbedingt falsch verstehen wollen. Und dafür fallen mir wiederum nur zwei mögliche Gründe ein: Entweder man ist so gehirngewaschen, dass man widersprechende Positionen nicht mehr bemerkt – was für einen Journalisten hieße, er wäre berufsunfähig. Oder man will jemandem einen Gefallen tun. Dann gilt das mit der Berufsunfähigkeit umso mehr.

Ich weiß, das sind viele Buchstaben für ein vermeintlich kleines Beispiel. Aber es ist nicht klein. Es zeigt, wie Europa von Regierungen an die Wand gefahren wird, die ihre falschen Vorstellungen von der Welt mit falschen „Fakten“ untermauern, assistiert von unfähigen oder willfährigen Journalisten, und sich mit ihren Erklärungen inzwischen so weit von der Realität entfernt haben, dass sie in einer virtuellen Welt agieren müssen, damit ihr Handeln noch irgendeinen Sinn ergibt.

Man ist, sagt Batman, was man tut. Die Vorgängerregierung hatte unter derselben Kanzlerin für Deutschland einen vernünftigen Weg gefunden. Seitdem redet sie aber (in einer anderen Koalition) überzeugt vom Gegenteil, selbst wenn sie dabei wie in diesem Beispiel die Wahrheit um 180 Grad drehen muss – und tut ansonsten am liebsten gar nichts.

In dieser Euro-Krise ist unfassbar viel falsch berichtet worden. Immer wieder argumentieren selbst Minister oder die Bundeskanzlerin öffentlich mit falschen Zahlen – um nicht zu sagen: auf der Grundlage von Vorurteilen. Und suchen Schuldige, wenn sich die Realität nicht ihren Vorurteilen fügt.

Wo ist dieser Batman, wenn man ihn mal braucht?

Geduld mit Rainer Brüderle

Die Geduld mit Griechenland geht zuende, jedenfalls bei dem Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei FDP, Rainer Brüderle (Selbstbeschreibung: Häuptling Silberlocke mit dem iPad).

„Die Berichte aus Griechenland lassen einen wirklich an der Reformfähigkeit des Landes zweifeln“

sagt er laut Spiegel Online.

Nun bleibt es dabei, dass Griechenland erstens das härteste Sparpaket der jüngeren Geschichte mit großem „Erfolg“ durchführt (das Primärdefizit ist dramatisch gesunken, also das, was die Angebots-Ökonomen á la Brüderle angeblich wollen). Was nicht eingetreten ist, ist die zweite sichere Annahme Brüderles: Trotz aller Sparbemühungen ist nicht der Heiland in Form eines Euros scheißenden Schweizer Bankkontotieres der Ägäis entstiegen um die Griechen von ihren Sünden zu befreien, was bei Brüderle die Vermutung bestätigt, der liebe Gott und die Märkte hätten die griechischen Sünden noch nicht vergeben und die Strafe müsse weitergehen. Oder, um es normal zu sagen für alle, die nicht in der FDP sind und deshalb am Konzept „Realität“ festhalten können: Wie jeder Kommentator, der bei Trost ist (ich schließe mich hier mutig mit ein) vorhergesagt hat, sind die Vorgaben an die griechische Regierung von keiner Regierung der Welt zu erfüllen. Es ist unmöglich. Brüderle verliert die Geduld mit der Tatsache, dass sich die Welt den Vorstellungen in seinem Kopf nicht anpassen will. Das ist ein phänomenales Konzept zumindest in der Kommunikation: Es gibt ja niemanden, der ihn daran hindert.

Dabei hat Spiegel Online seit Wochen pausenlos Reporteagen aus den entlegensten Winkeln Griechenlands auf der Seite. Jeden einzelnen Tag wird dort anschaulich beschrieben, unter welchen Härten die Bevölkerung leidet (weil es so großartig ist möchte ich an dieser Stelle trotzdem vor allem auf die grandiose Arbeit von Peter Praschl hinweisen, der die Berichte verschiedener Medien zusammengetragen hat). Was fehlt ist allerdings der offensive Mut, einmal das Offensichtliche auszusprechen: Die Berichte aus Griechenland über die unerträgliche Not der Bevölkerung lassen nicht an der Reformfähigkeit zweifeln (die Leidensfähigkeit übersteigt offensichtlich um ein Vielfaches alles, was in Deutschland durchsetzbar wäre), sie sollten jeden Menschen daran zweifeln lassen, dass diese „Reformen“ funktionieren. Jedenfalls die Menschen, die das nicht längst wussten, weil sie sich für Wirtschaftspolitik in der so genannten „Realität“ interessieren. Dieses Programm, das Brüderle da vertritt, ist direkt verantwortlich für den Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft, sie wird verantwortlich sein für den der spanischen und portugiesichen. Irland und Italien werden ebenfalls lange leiden. Brüderle ist direkt verantwortlich dafür, dass Kinder hungern. Ich verliere die Geduld mit ihm.

Weil ich weiß, welche Einwände jetzt kommen: Nein, „die Griechen“ sind nicht selbst schuld. Die Probleme der Weltwirtschaft sind direkt verursacht von zockenden Bankern (zum Verhältnis: der Markt mit Credit Default Swaps, diesen sinnlosen Verischerungen, die jeder auf fremde Kredite abschließen und sie dadurch auch noch in den Default treiben kann, hat ein Volumen von 60 Billionen Dollar im Jahr. Das ist das BIP der Welt. Der Markt mit Derrivaten, zu denen auch die toxischen CDO gehören, die als eine Art private Nebenwährung die Katastrophe begründet haben, beträgt ZEHNMAL das BIP der Welt. Wer mir erzählen will, die Länder, die durch ihre Bankenrettung plötzlich in den Zinsstrudel geraten sind hätten Fehler gemacht, die so groß waren, dass man deshalb ihre Kinder hungern lassen muss, der hat ganz einfach keine Ahnung von dieser Krise. Abgesehen davon, dass seine moralischen Maßstäbe, freundlich gesagt, nicht ordentlich justiert sind).

Ich frage mich, wann die beiden Seiten in den Medien endlich zusammenfinden: Diese Krise könnte morgen beendet sein. Diejenigen, die das verhindern, darunter unsere Kanzlerin aus falsch verstandenem Hegemonialstreben und, für mich noch schlimmer, die Bankenlobby in Form der FDP, sind schuld an dem Leiden von Abermillionen.

Europa, das ich meine

Ich weiß, alles unterhalb eines Manifests wirkt manchmal unentschlossen, aber weil alle inklusive mir selbst nun schon seit Jahren fordern, es müssen einmal eine Debatte darüber geführt werden, was Europa eigentlich ist, werde ich ein paar zarte, halb geschlüpfte Gedanken in die Runde werfen. Und meiner Meinung nach ist das Thema Freiheit.

Die europäische Freiheit erscheint mir mit meinem zugegeben beschränkten Horizont einzigartig. Im direkten Gegensatz zu Joachim „Liberty Joe“ Gauck glaube ich zwar nicht, dass unsere Freiheit nicht nur eine Freiheit „von etwas ist, sondern auch eine Freiheit zu etwas“ – aber ich glaube ganz im Gegenteil, dass unsere Freiheit nicht nur eine Freiheit zu etwas ist, sondern auch eine Freiheit von etwas. Die höchste Form.

Die Freiheit zu etwas ist die erste, die sich die Menschen erkämpfen. Die Freiheit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, ihr Leben zu fristen, zu lernen, zu lieben wen sie wollen und zu leben wie sie wollen. Für mich ist dies das Grundversprechen zum Beispiel des „American Way of Life“: die Freiheit, zu tun was man will, so lange es niemand anderen in seinen Rechten verletzt. Tolle Sache. Und keineswegs selbstverständlich: In weiten Teilen der Welt ist das aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen völlig undenkbar. Jeder Mensch ist immer auch ein Objekt der Umstände, unter denen er lebt, und Freiheit kann aus meiner Sicht nur dann Freiheit sein, wenn sie tatsächlich allen offen steht (wenn ein Land strukturell drei Millionen Arbeitslose hat, dann mag dem einzelnen der Weg in Erwerbsarbeit offen stehen, aber eben nicht allen gleichzeitig. In diesem Punkt ist die Gesellschaft strukturell unfrei).

Das ist die „Freiheit zu …“. In Europa leben wir den sozialdemokratischen Traum, auch frei zu sein von vielen Dingen. Wir leben relativ frei von der Angst vor Gewalt, sei es politische in Form der Diktatur oder ordinär kriminelle (wir werden nicht mehr verschleppt und als Sklaven verkauft). Wir verarmen nicht sofort, weil wir eine Zeit lang arbeitsunfähig krank sind oder den Job verlieren (wenn auch immer schneller). Wir und vor allem unsere Kinder sind durch Bildung einigermaßen sozial mobil und nicht auf ewig in die soziale Schicht ihrer Eltern gefesselt (auch wenn das für Deutschland in Europa mit am wenigsten gilt), das heißt wir leben relativ frei von ständischen Hierarchien. Aus meiner Sicht ist das die noch größere Errungenschaft, die noch größere Freiheit, die auf der ersteren aufbaut, sie aber noch eine zivilisatorische Stufe höher hebt. Ich meine aus dem Kopf, der Gedanke kommt von dem amerikanischen Anthropologen David Graeber (in seinem gigantischen Buch „Schulden – Die ersten 5000 Jahre“), dass Platon, wenn er mit einer Zeitmaschine im Heute landen würde, die meisten Erwerbsarbeiter ob ihrer Verschuldung nicht von Sklaven würde unterscheiden können.

Auf jeden Fall von Graeber kommt die Definition von Freiheit, die den freien Menschen vom Sklaven unterscheidet: die Freiheit, soziale Beziehungen eingehen zu können. Das ist es, was den freien Menschen vom unfreien unterscheidet. Es ist das Recht, das nur der König und der Sklave nicht haben. Der eine, weil er Gott gleich ist, der andere, weil er den Toten gleich ist. Beides hat keinen Platz in einer zivilisierten, demokratischen Gesellschaft (außer natürlich Prince Charles, aber nur als Folklore. God Save The Queen!). Die Beziehung eines freien Menschen zu einem Sklaven ist eine, die einzig auf Besitzverhältnissen beruht (im eigentlichen Sinne also „rational“ ist, auf Verhältnissen beruhend (ratio = Verhältnis)). Es ist außerdem das Verhältnis, mit dem Konservative von Thilo Sarrazin bis zu dem Quoten-Reaktionär auf Spiegel Online, von Hans-Werner Sinn bis zu den niederen Rängen der FDP (d.h. von Rösler abwärts, also alle Aktiven) die Verhältnisse in Europa bewerten. Wer kein Geld hat, der soll eben hungern, sein Land verkaufen oder einfach den Anstand haben zu sterben (der sich inzwischen selbst öffentlich kaum noch zivilisiert gebende stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Martin Lindner forderte tatsächlich im Bundestag, Griechenland solle doch „den Anstand haben“, die Währungsunion zu verlassen. Es ist ein Vorrecht des (eingebildeten) Adels, die Armen unanständig zu finden. Ich weiß, dass sein Spitzname im Bundestag „Eierkrauler“ ist, aber ich schlage trotzdem einen neuen vor: Marie Antoinette). Diese Art Argumentation gibt es selbstverständlich nicht innerhalb von Familien, Gruppen (eine Bundeswehr-Einheit in Afghanistan dürfte nicht deshalb eine andere im Stich lassen, weil diese sich selbst durch eigene Fehler in Gefahr gebracht hat) oder Nationen. Ein Hamburger verlangt nicht von Berlin, es möge das Brandenburger Tor verkaufen, weil es verschuldet ist, Kinder hungern lassen oder ähnliches. Die Beziehung von Hamburg zu Berlin ist keine „rationale“, keine auf berechenbaren Verhältnissen begründete, sondern auf unberechenbaren, sozialen. Es würde nicht einmal der Versuch durchgehen, den einen zum Sklaven des anderen umzudeklarieren. In Europa passiert aber gerade genau das.

Europa ist der stärkste Wirtschaftsraum der Welt. Er ist es deshalb, weil nirgendwo sonst ein derartiger kultureller Reichtum auf so engem Raum friedlich und in Freiheit zusammenlebt. In Freiheit von und zu. Wir erleben gerade die Angriffe derer, die mit Freiheit nur das Recht des Stärkeren meinen, sich das Recht zu nehmen. Ihr Trick ist, soziale Verhältnisse in berechenbare, „rationale“ Verhältnisse zu überführen. Es ist die Logik der Sklavenhalter, nach dem am Ende der Ärmste keine Rechte mehr haben kann, weil er Schulden hat (ein extrem lustiger Trick dagegen wäre übrigens, wenn jeder heiratsfähige Nordeuropäer einen heiratsfähigen Südeuropäer heiraten würde, dann wäre das komplette System ausgehebelt, weil Ehen institutionalisierte (berechenbare) unberechenbare (Liebes-)Verhältnisse sind).

Oder sagen wir es so: Nur weil die Arschlöcher es nicht berechnen können, heißt das nicht, dass Europa ein schlechtes Geschäft ist.