Am Freitag nachmittag veröffentlichte Spiegel-Online die Nachricht, dass die griechische Regierung erwäge, aus dem Euro auszutreten. Zunächst stand die Geschichte dort als kleinere Meldung, dann fiel offenbar jemandem auf, was für eine Sprengkraft die Geschichte hat: Der Euro-Austritt eines kleinen Landes, ganz besonders in der schwierigen aktuellen Lage Griechenlands, wäre wirtschaftlicher Selbstmord. Er würde außerdem den gesamten Euro-Raum in unvorhersehbarer Weise erschüttern, aber vorhersehbar katastrophal. Also machte man aus der Geschichte einen Aufmacher, der weltweit zitiert wurde und, auch nach eigener Einschätzung von Spiegel-Online, zu Kursverlusten des Euro führte.
Das Problem: Bis heute ist Spiegel-Online das einzige Medium, das diese Information verbreitet. Ohne Angabe einer Quelle. Da steht nur „nach Informationen von Spiegel-Online“. Jeder Teilnehmer eine Treffens von Euro-Finanzpolitikern, das Spiegel-Online als Indiz für die Pläne Griechenlands deutet, sagt, dass über dieses Thema nie geredet worden sei. Die griechische Regierung bestreitet jeden Gedanken in die Richtung vehement und impliziert dabei, die Berichterstattung von Spiegel-Online sei durch interessierte Kreise gelenkt.
Das ist die Situation: Spiegel-Online hat offenbar Informationen, die extrem unwahrscheinlich sind (und sich im Nachhinein entsprechend auch als unzutreffend herausstellen). Diese Informationen hat Spiegel-Online exklusiv. Es ist offensichtlich, dass die Redaktion nicht einmal einen Hinweis darauf geben kann, was ihre Quelle ist, ob sie in deutschen oder griechischen Regierungskreisen beheimatet ist zum Beispiel, weil sonst die Enttarnung der Quelle droht (das ist die positivste Auslegung, warum es keinen Hinweis auf die Quelle gibt).
Die Verantwortung, die in so einem Moment auf dem Redakteur und seinem Chefredakteur liegt, ist immens. Im Zuge der Veröffentlichung ist der Wert des Euro abgesackt, verängstigte Griechen haben Geld ins Ausland geschafft und die Anstrengungen des Landes, seinen Staatshaushalt zu konsolidieren, sind noch ein Stückchen schwieriger geworden. Alles aufgrund von, wie sich später herausgestellt, falschen Informationen, deren Quelle der Redakteur nicht preisgeben kann oder will.
Die Pressefreiheit ist ein heiliges Gut. Und ich bin fest der Überzeugung, Spiegel-Online muss irgendjemanden gehabt haben, der ihnen gegenüber tatsächlich behauptet hat, Griechenland erwäge, den Euro-Raum zu verlassen. Aber angesichts der Absurdität der Behauptung, der Tragweite der Konsequenzen der Veröffentlichung und der Tatsache, dass die Redaktion keine Quelle benennen kann, anhand derer sich ein Leser einen Eindruck von deren Seriosität machen kann, halte ich die Veröffentlichung für unvertretbar.
Es gibt eine Vielzahl von mehr oder weniger wahrscheinlichen Szenarien, wie der Autor Christian Reiermann exklusiv an die falsche Information gekommen sein könnte, in jedem Fall ist er entweder auf eine rein theoretische Floskel hereingefallen („dann müssten wir/dann müssten die aus dem Euro austreten“), oder er hat die durchgesteckte Fehlinformation von jemandem weiterverbreitet, der ein Interesse an der Destabilisierung der griechischen Regierung oder des Euro hat, aus politischen Gründen oder zugunsten gelenkter Spekulation (der Euro Kurssturz war ja vorhersehbar, wenn man diese Informationen hatte). Politisch interessierte Kreise gäbe es sowohl in Griechenland als auch in Deutschland.
Erstaunlicherweise veröffentlichte Reiermann seine Geschichte auch noch, ohne eine einzige Stimme aus der griechischen Regierung zu zitieren. Er zitiert stattdessen aus einem Papier des deutschen Finanzministeriums, das selbstverständlich zu dem gleichen Schluss kommt wie alle Ökonomen außer Hans-Werner Sinn (der daraufhin folgerichtig zum einzigen Ökonomen wird, den Spiegel-Online im Verlauf der Folgegeschichten zitiert). Die Tatsache, dass auch das Finanzministerium einen Euro-Austritt Griechenlands für geradezu bizarr halten würde, interpretiert der Autor, der wie gesagt keine offizielle griechische Stelle zitiert, so:
Schäuble will die Griechen unter allen Umständen vom Euro-Austritt abhalten.
Von einem Euro-Austritt, der, wie jeder einzelne griechische Regierungsvertreter mit Vehemenz erklärt, niemals seriös in Erwägung gezogen wurde. Das ist von Seiten Spiegel-Onlines dann schon bewusste Irreführung. Schäuble muss niemanden von etwas abhalten, das er nicht tun will. Als sich im Nachhinein die Geschichte als unhaltbar darstellt, versteckt Spiegel-Online das aber gekonnt:
Ein möglicher Austritt des südeuropäischen Landes aus der Euro-Zone sei bei der Zusammenkunft, an der auch der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Jean-Claude Trichet, und EU-Währungskommissar Olli Rehn teilgenommen hätten, gar nicht diskutiert worden. Das behauptete zumindest Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker.
Das „behauptet“ er? Es ist das, was übereinstimmend alle Teilnehmer des Treffens sagen, und es ist auch das mit Abstand wahrscheinlichste Szenario. Spiegel-Online bezichtigt lieber implizit den „Eurogruppen-Chef“ der Lüge, als zuzugeben, dass sie falschen Informationen aufgesessen sind. Wenn hier jemand etwas „behauptet“, dann vor allem Spiegel-Online. Herr Juncker „behauptet“, aber der oder die ominösen Quellen von Spiegel-Online, die etwas sagen, das extrem unwahrscheinlich und gleichzeitig weltexklusiv ist, sagen die unbestreitbare Wahrheit? Das ist Humbug. Das hätte man nicht schreiben dürfen. Das widerspricht Grundregeln der fairen Berichterstattung. Das ist eine Schande.
Ich nehme an, wir werden die Quellen für diese Geschichte nie erfahren. Wir werden nicht einmal erfahren, ob es welche gab, die man hätte ernst nehmen dürfen. Es ist in jedem Fall seit langem das schlechteste Stück Journalismus, das ich gesehen habe.
PS. In den Kommentaren weist Bastian Brinkmann auf die Theorie des griechischen Ökonomen Yanis Varoufakis hin, der schreibt, die Quellen lägen seiner Meinung nach vor allem im deutschen Finanzministerium – gestützt unter anderem auf die englische Version der Geschichte auf Spiegel Online, in der es heißt:
SPIEGEL ONLINE has obtained information from German government sources knowledgeable of the situation in Athens indicating that Papandreou’s government is considering abandoning the euro and reintroducing its own currency.
Nach Varoufakis‘ Meinung beziehen sich die Spiegel-Online-Infomanten auf mehrere Wochen zurückliegende Berechnungen des griechischen Finanzministeriums, das (selbstverständlich) all denkbaren Szenarien zur Konsolidierung der griechischen Staatsfinanzen hat berechnen lassen. Wenn das so ist (und Varoufakis nennt seine Einschätzung nur eine „considered opinion“ – sie ist auch plausibel, aber nicht belegt), dann hat Spiegel Online sich schlicht von deutschen Ministerialbeamten einspannen lassen, um Druck auf Griechenland auszuüben und ggf. einen Schuldenschnitt als weniger schmerzhaftes Szenario erscheinen zu lassen. Auf einen derart simplen Propaganda-Plot hereinzufallen wäre für das Nachrichtenmagazin mehr als peinlich und sollte weit unter deren professionellen Standards sein, aber ehrlich gesagt fällt mir an Varoufakis‘ Argumentation beim ersten und zweiten Lesen keine Schwachstelle auf. Warum die Redaktion den deutschen Lesern vorenthält, dass die Quelle in Deutschland und nicht in Griechenland sitzt, ist mir ein Rätsel, handwerklich falsch ist es sowieso. Es würde sich allerdings, böswillig betrachtet, mit der Vermutung decken, dass man bei Speigel-Online von vornherein ahnte, dass man sich zu einem willfährigen Werkzeug politischer Propaganda machen lässt. Allerdings verweist Varoufakis auf eine Zusammenstellung der Financial Times, die darauf hindeutet, dass der Spiegel das schon eine ganze Weile macht – und das Freitag nur der vorläufige Höhepunkt dieser Kampagne ist.
PPS. Und irgendwie wird es immer nur noch bizarrer: Laut Nachfrage der SZ hatte die SpOn-Redaktion offenbar in Athen nachgefragt, aber das Dementi dann einfach nicht im Text erwähnt:
Griechenlands Vize-Finanzminister Filippos Sachinidis dementierte umgehend. Sein Land wolle die Euro-Zone keinesfalls verlassen. Sein Ministerium erklärte, der Bericht sei wider besseres Wissen veröffentlicht worden. Die Regierung in Athen habe eine entsprechende Anfrage ausdrücklich verneint.
Ich weiß nicht, wie man das sonst nennen soll, wenn nicht eine gezielte Kampagne. Informationen zurückzuhalten, um einseitiger berichten zu können, ist schlicht und ergreifen lügen.