Für diesen Text bin ich aus der SPD ausgetreten

In der dunkelsten Stunde der letzten Jahrzehnte in den Beziehungen zwischen den Ländern, die ich beide Heimat nenne, konnte man das wenige, was leuchtete, besonders gut erkennen. In einem Moment im Frühjahr 2010, in dem in Griechenland die Moral der Bevölkerung am Boden lag, in dem die vielen persönlichen Katastrophen des finanziellen Bankrotts sich mit der großen, nationalen Schande des Versagens der Organe der Gesellschaft mischte, in dem sich zu dem Schaden noch die Demütigung mischte, schickte der deutsche Bundestagspräsident Norbert Lammert seinem griechischen Amtskollegen einen aufmunternden Brief, in dem er Respekt ausdrückte vor der gigantischen Anstrengung, die das Land unternahm. Respekt. Vor Menschen, die leiden. Die Schwierigkeiten zu überwinden haben. Norbert Lammert schrieb auch, dass wahrscheinlich mancher hämische Kommentar in deutschen Medien unterblieben wäre, wenn Deutschland ähnliche Herausforderungen zu meistern hätte wie das gigantische griechische Sparpaket mit seinen brachialen Einschnitten. Respekt.

Ich erinnere mich sehr gut an diesen Moment. In dem damals herrschenden Trommelfeuer der Demütigungen, die auf Griechen auch in Deutschland niederprasselten, war das ein kurzer Augenblick des Aufatmens. Wir Griechen hier haben uns selten beschwert, weil wir immer mit dem Bewusstsein beladen sind, dass es uns ja nicht wirklich schlecht geht. Schlecht geht es meiner Schwester in Athen, die mit so viel weniger auskommen muss. Meiner Tante, deren Töchter ausgewandert sind, weil es zuhause keine Arbeit gibt. Den Millionen, die nicht wissen, wie lange sie noch in ihrer Wohnung bleiben können, wo sie sonst hinsollen, was es morgen zu essen gibt. Wir Griechen in Deutschland stehen nicht wie zehntausende in Athen bei den Suppenküchen an, aber das heißt nicht, dass wir hier die Beleidigungen nicht gehört und gelesen haben, die Verzerrung der Wahrheit, die Lügen, den Hohn, den Hass. Jeder einzelne von uns mit einem griechischen Namen hat im besten Fall nur jeden Tag schlechte Witze gehört, immer und immer wieder, im schlechteren Fall auch Schlimmeres. Als leidlich öffentlicher Grieche war mein Mail-Eingangsfach da wahrscheinlich ziemlich repräsentativ. Ständiger, dauernder Hohn tut weh. Er schmerzt besonders, wenn er auf Lügen beruht, wie in diesem Fall. Auf der Kampagne der BILD-Zeitung zum Beispiel, deren Hetz-Kampagne man in dem Leitsatz zusammenfassen könnte, für die Rettung Griechenlands „sollte uns jeder Euro zu schade sein“. Wie gesagt, man könnte sie so zusammenfassen, wenn die BILD es nicht selbst schon getan hätte. Rolf Kleine hat das so in der BILD geschrieben, nur natürlich in Versalien. Für die Rettung „sollte uns JEDER EURO zu schade sein“.

Rolf Kleine ist der neue Sprecher des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück.

Lammerts Brief, jenes kurze Aufblitzen von Respekt gegenüber den von der BILD längst entmenschlichten „Pleite-Griechen“, für deren Rettung JEDER EURO zu schade sein sollte, kam von einem politisch ziemlich unabhängigen Geist. Denn es war einigermaßen klar, dass deutsche Mandatsträger, die nicht im Gleichschritt mit Springers Propaganda auf die Griechen eindroschen, mit schlechter Presse zu rechnen hatten. FDP-Hinterbänkler wie der im wahren Leben fast karikaturesk unwichtige Frank Schäffler wurden von BILD zu „Finanz-Experten“ aufgeblasen, wenn sie den Verkauf griechischen Territoriums forderten (arme Länder haben in der FDP-Logik offenbar kein Anrecht auf Staatsgebiete), und so hochgeschrieben, dass zum Beispiel Schäffler sich zwischenzeitlich selbst super genug vorkam, um seine ganze Partei per Mitgliederentscheid zum Massenselbstmord aufzufordern (oder so ähnlich, ich will mich da gar nicht genauer dran erinnern). Gleichzeitig waren selbst deutsche Botschafter vor dem Zorn der BILD nicht sicher und wurden niedergeschrieben, wenn sie nett zu Griechen waren.*
So traf es auch Lammert. Natürlich ist es selbst für die BILD-Zeitung schwierig, Menschen dafür zu kritisieren, dass sie andere Menschen wie solche behandeln, selbst wenn es nur Pleite-Griechen sind. Deshalb musste der mit dem Gegenangriff beauftragte Redakteur, der Leiter des Parlamentsbüros Rolf Kleine, zunächst einmal die Realität verändern und behaupten, Norbert Lammert habe sich bei den Pleite-Griechen für die Berichterstattung in deutschen Medien entschuldigt.

Ganz Europa sorgt sich über die desaströse Finanzlage Griechenlands und die Stabilität des Euro – und was macht unser Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU)?

Er entschuldigt sich in einem Brief an den griechischen Parlamentspräsidenten Philippos Petsalnikos für „manche hochmütige Aufforderung deutscher Politiker zur Kurskorrektur“ und „hämische“ Kommentare „in deutschen Medien“.

ABER WEN MEINT ER DA BLOSS?

Doch wohl nicht etwa die Forderung von Politikern in BILD-Interviews, dass Griechenland auch Staatseigentum privatisieren solle – zum Beispiel Inseln?

Und später im selben Text

Und zum Lob für die Griechen. Lammert schreibt („Sehr geehrter Herr Präsident“): „Mir imponiert der Ernst und der Mut, mit dem verantwortliche Politiker in Ihrem Land nun an jahrelang verschobene und verdrängte Probleme herangehen.“

Damit meint er wohl: Korruption, unglaublichen Schlendrian und die Verschwendung von Milliardenbeträgen…

Selbst die Anrede „Sehr geehrter Herr Präsident“ für einen griechischen Parlamentspräsidenten ist Kleine offensichtlich zuviel des Respekts für einen dieser … dieser … wie würde Kleine sie nennen? Was genau denkt man über die Menschen eines natürlich armen aber doch immerhin demokratischen europäischen Landes, wenn man der Meinung ist, der Parlamentspräsident verdiene eigentlich die Anrede „Sehr geehrter Herr Präsident“ nicht? Ich will mich nicht in einer Klammer in einem einzelnen Text verhaken, aber ehrlich: Was genau ist an dieser Haltung nicht schlicht und einfach Hetze?

Aber was genau erwarte ich von einem der Autoren des Instant-Klassikers des modernen Hetzjournalismus mit dem Titel „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen… und die Akropolis gleich mit!“ Doch, auch dieser Text ist von Kleine als einem von drei unterzeichnenden Autoren. Er enthält auch die Sätze „Ihr kriegt Kohle. Wir kriegen Korfu.“

Dieser Rolf Kleine ist jetzt Sprecher von Peer Steinbrück.

Die Botschaft seines Briefs an Lammert damals jedenfalls war klar: Wer als Politiker in Deutschland damals auch nur so viel Respekt für einen Griechen zeigt, dass er ihn mit seinem korrekten Titel anspricht anstatt mit „Pleite-Grieche“, der wird von den Meinungs-Schlägern der BILD-Kommentarspalte niedergemacht und muss mit ihrer Feindschaft rechnen. Es reichte ihnen einfach nicht, einen Hetzmob gegen die Pleite-Griechen aufzuführen, sie mussten auch noch die Ersthelfer bedrohen, die wenigstens ein bisschen Linderung bringen wollten. Jeder Hauch, jeder Anschein von Respekt für diese … diese Art Wesen, die ein Pleite-Grieche noch ist, musste unterbunden werden. Und diesen Job übernahm hier Rolf Kleine.

Rolf Kleine ist der neue Sprecher des Kanzlerkandidaten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, und damit auch einer seiner wichtigsten Berater. Ganz offensichtlich hat die Panik Peer Steinbrück in dieser Phase des Wahlkampfes ergriffen, in dem es für ihn eher schlecht läuft, und er hat sich einen – wie sagt man? Haudegen? Mann fürs Grobe? Kommunikationsexperten? – jedenfalls Rolf Kleine ins Team geholt, obwohl das, wofür Kleine zum Beispiel in Fragen der Euro-Rettung steht, in Inhalt und Form nicht mit dem übereinstimmt, was Sozialdemokraten in diesem Land sonst so tun. Für Peer Steinbrück darf man ganz offensichtlich ein Schwein sein, so lange man sein Schwein ist. Ich finde diesen Zynismus unerträglich.

Jetzt kommt der Satz, für den ich aus der SPD ausgetreten bin:

Ich möchte nicht, dass Peer Steinbrück Bundeskanzler wird – weil ich ihn wegen der zynischen, „der Zweck heiligt die Mittel“-pragmatischen, die sozialdemokratischen Tugenden verachtenden Entscheidungen, die er hier unter Druck trifft, für ungeeignet halte, das Land zu führen.

Selbstverständlich würde ich von jedem Genossen, der so etwas denkt erwarten, dass er es zumindest bis nach der Wahl bitte höchstens im kleinen Kreis äußert. Öffentlich wäre so ein Satz, von einem Genossen ausgesprochen oder wie hier öffentlich geschrieben, aus meiner Sicht parteischädigend. Das gehört sich nicht. Es ist unsolidarisch. Ich würde einen solchen Genossen zur Ordnung rufen und ihn bitten, bis nach der Wahl einfach ein bisschen still zu sein. Alle anderen Genossen arbeiten so hart an dem Erfolg, dass es unfair ist, ihn durch solche Alleingänge zu beschädigen. Das finde ich tatsächlich. Und halte mich selbst nicht dran.

Denn in diesem ganz bestimmten Fall kann ich nicht schweigen. Ich kämpfe seit Jahren öffentlich gegen Typen wie Rolf Kleine. Ich kann nicht monatelang darüber schweigen, dass ein Mann, der dann auch mit meiner Unterstützung Kanzler der Bundesrepublik werden will, sich einen Mann ins Team holt, der genau das tut, was ich bekämpfe.

Deshalb bin ich aus der Partei ausgetreten, die ich nach wie vor für das Beste halte, was diesem Land politisch in den letzten 150 Jahren passiert ist. Die SPD ist Teil des demokratischen Rückenmarks dieses Landes, mit hunderttausenden großartigen Genossen, die für ein einziges Ziel in die Partei eingetreten sind, nämlich daran zu arbeiten, dass dieses wunderbare Land immer noch besser wird. Und in 150 Jahren stand diese Partei am Ende doch immer auf der richtigen Seite, auch das ist etwas, das man erstmal schaffen muss. Die Ziele der Sozialdemokratie sind gleichzeitig visionär und an den Realitäten orientiert, und deshalb in jeder Zeit wieder aufs Neue geeignet, die Veränderung hin zum Besseren zu unterstützen. Außerdem muss man sich ja irgendwo engagieren, nur meckern hilft ja nicht, und da kann man es wirklich schlechter treffen als bei der SPD (hatte ich Frank Schäffler erwähnt?). So viel dazu.

Das ist mein Dilemma. Ich kann nicht schweigen an diesem Punkt. Seit dem öffentlichen Ausbruch der griechischen Krise arbeite ich politisch engagiert und sehr öffentlich daran, die deutsch-griechischen Beziehungen zu erhalten, zu retten und neu aufzubauen, vor allem dadurch, dass ich die Lügen, die absichtlichen und unabsichtlichen Fehler und Fehlinformationen bekämpfe, mit denen im Großen wie im Kleinen das, womit ich mich als geborener Europäer verbunden fühle, zerstört wird. Rolf Kleine ist in dieser Auseinandersetzung genau die andere Seite. Ich werde keine Sekunde lang mit ihm gemeinsam Wahlkampf für einen Mann machen, der glaubt, dass es okay ist, Rolf Kleine zu einem wichtigen Mitglied im Team zu machen. Ich könnte das vor mir selbst nicht rechtfertigen. Aus einem einzigen Grund: Es wäre falsch.

Gleichzeitig möchte ich aber auch sagen, was dieser Text alles nicht ist: Er ist kein Hinweis auf eine Stimmungslage irgendwo innerhalb der Partei in Hinblick auf den Kandidaten Peer Steinbrück. Die einzige Stimmung, die er zeigt, ist meine.

Ich bin mir außerdem sicher, dass es viele geben wird, die mich erstens für naiv und zweitens für einen beleidigten Griechen halten werden. Das bleibt ihnen überlassen, aber meine Erfahrung sagt mir ganz persönlich, dass der weit, weit, weit überwiegende Teil von Politik in meiner ehemaligen Partei von Menschen mit klaren Werten und klaren Grenzen gemacht wird, die eben nicht alles mitmachen, nur um Macht zu erlangen oder zu erhalten. Und ja, es ist ein Zufall, dass es gerade mein politisches Thema der letzten Jahre ist, bei dem Kleine sich aus meiner Sicht zu einem in Inhalt und Form unsäglichen Hetzer aufgeschwungen hat, aber ich finde nichts falsches daran, dass ich als Deutsch-Grieche die deutschgriechischen Beziehungen zu meinem Thema gemacht habe. Ich finde es auch nicht zu viel verlangt, dass ein SPD-Kanzlerkandidat eben keinen Hetzer zum Sprecher macht. Man schränkt die Auswahl nicht unerträglich ein, wenn man verlangt, dass ein potenzieller Regierungssprecher wenigstens den Parlamentspräsidenten befreundeter Staaten nicht absprechen sollte, dass man sie mit „Sehr geehrter Herr“ anspricht (sofern sie Männer sind).

Es tut mir wahnsinnig weh, mein politisches Engagement in der SPD zu beenden. Ich habe viel Zeit und Kraft hinein investiert. Ich habe großartige Menschen aus allen Bereichen des Lebens kennengelernt, wo gibt es das denn sonst noch? Ich musste jetzt gleichzeitig als Distriktsvorsitzender des schönsten Hamburger Distriktes zurücktreten, Altona-Altstadt, einem Distrikt mit einer großen und stolzen sozialdemokratischen Tradition. Ich lasse also auch organisatorisch eine Lücke, die nun andere schließen müssen, die selbst schon genug zu tun hatten. Auch das schmerzt und tut mir leid. Aber ich habe Grenzen.

Lieber wäre mir gewesen, Peer Steinbrück hätte welche.

*Lustige Geschichte: In der Tiefgarage des Hauses, in dem der griechische Botschafter in Berlin lebt, fotografierte in der Zwischenzeit ein BILD-Mitarbeiter geparkte Luxusautos in der Hoffnung, eins davon gehöre dem Botschafter. Da könnte man doch noch eine Verschwendungsgeschichte draus machen! Leider gehörten die dann alle einem Händler, der auch im Gebäude wohnte.

Jetzt live: Abschalten

Wenn die Journalistin Danae Coulmas sich in Athen oder Thessaloniki in ein Taxi setzte, dann passierte es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder, dass der Fahrer sie an ihrer Stimme erkannte. Und sich bei ihr bedankte. Denn Danae Coulmas war während der Jahre der griechischen Obristen-Junta eine der wenigen Stimmen der echten, freien Information gewesen, die es noch gab. Sie war Radiojournalistin beim staatlichen Rundfunk, und die Menschen hörten ihre Sendung, um herauszufinden, was tatsächlich in der Welt los war. Und im diktatorisch regierten Griechenland. Denn sie sendete aus Westdeutschland: Danae Coulmas war beim griechischen Dienst der Deutschen Welle. Griechenland selbst hatte in dieser Zeit keinen unabhängigen Rundfunk. Und für viele Griechen ist bis heute die Deutsche Welle (und damit – in diesen Tagen mag das für manche unerwartet sein – auch Deutschland an sich) ein echter Freund im Kampf für die Freiheit.

Coulmas, die ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Junta 1975 in den griechischen diplomatischen Dienst eintrat und später als Dichterin und Übersetzerin viel größeren Ruhm erlangte, ist im vergangenen Jahr für ihre Verdienste um die Kultur gewürdigt worden. Die Ereignisse der vergangenen Tage zeigen hingegen, wie schnell es geht, dass „unabhängige“, zumindest unabhängig berichtende Medien ab-, aus- oder gleichgeschaltet werden. In Griechenland ist seit gestern Nacht der Staatsrundfunk ERT mit seinen Fernseh- und Radioprogrammen nicht mehr auf Sendung. Die Regierung hat ihn abgeschaltet, weil er zu teuer war.

Die Erfahrung zeigt, dass wenig auf der Welt wertvoller ist als eine funktionierende Demokratie, und für eine funktionierende Demokratie ist der freie Fluss der Information konstituierend. Nur ein informierter Bürger kann eine sinnvolle Entscheidung treffen. Insofern ist das Argument schwierig anzuwenden: zu teuer. Demokratie ist keine Frage des Preises. Ob speziell die Leistung des ERT unter demokratischen Bedingungen billiger zu haben wäre mag ich nicht beurteilen, es mag durchaus erstrebenswert sein. Ihn aber einfach abzustellen ist ein Akt der Diktatur – eben unabhängig davon, ob mir oder irgendwem das Programm passen oder nicht. Das eigentlich Schlimme daran ist aber: Dieser Akt der Diktatur passt genau in die Logik der sogenannten Euro-Rettung, nach der jede Art von staatlicher oder gar demokratischer Aktivität teurer Luxus ist, der zugunsten privater Gewinne zu unterbleiben hat. Über die Handlungen der Euro-Retter hat noch nie in Europa jemand abgestimmt. Bezahlen mussten die Bürger sie trotzdem.

Dabei sind alle gestiegenen Staatsschulden überall – inklusive der deutschen – direkt auf die Rettung privater Banken zurückzuführen. Es sind eben haargenau „die Privaten“, die diese Krise verursacht haben. Die Bürger zum Beispiel in Griechenland bezahlen dafür nicht nur bitterlich in Geld, sondern auch mit dem Verlust der Möglichkeit demokratischer Einflussnahme. Es gab kein Euro-Referendum, stattdessen eine massive Einflussnahme auch des Auslands auf die Parlamentswahl und nun offensichtlich eine Beschneidung der freien Information. Griechenlands alte Garde ist immer noch an der Macht, die niemand prägnanter verkörpert als der amtierende Ministerpräsident Samaras, der auch noch als politischer Hütchenspieler jahrelang jede Bemühung um eine Lösung der griechischen Staatskrise blockiert hat. Jetzt schließt er Rundfunksender. Demokratie ist ihm offenbar zu teuer.

Was bleibt ist der fatale Eindruck, dass Demokratie in Europa nur noch für solche Staaten vorgesehen ist, die sie sich leisten können. „Wir müssen aufpassen, dass die Demokratie auch marktkonform ist“, hatte Angela Merkel einmal ihr Verhältnis zur Staatsquote beschrieben. Bizarrer Weise schafft Europa unter ihrer Führung, diesen Satz auch noch so auszulegen, dass von jeder der möglichen Welten das Schlimmste übrig bleibt: Die Demokratie ordnet sich dem Markt unter und verabschiedet sich da, wo sie „zu teuer“ wird. Und gleichzeitig verabschiedet sich der Markt und man rettet private Pleitebanken mit Steuergeld, ohne dem Steuerzahler dafür eine Gegenleistung zu bieten – ganz besonders nicht in Form von demokratischen Mitspracherechten.

Ich habe eingangs die kulturelle Leistung von Danae Coulmas erwähnt, und das ist es, worauf ich eigentlich hinauswollte: Der Markt ist selbstverständlich nur ein Werkzeug, um eine demokratische Gesellschaft zu ernähren und zu informieren. Er ist kein Selbstzweck. Es ist schlimm, das überhaupt sagen zu müssen. Vor allem, weil auch die demokratische Gesellschaft kein Selbstzweck ist: Sie ist nur die für uns beste Möglichkeit, dem Menschen als kulturellem Wesen ein bisschen Raum zu geben. Wir überwinden den Hunger und die Unterdrückung, um Raum zu haben für etwas besseres. Wir lösen die dringenden Probleme zuerst, um zu den wichtigen Aufgaben zu gelangen. Freiheit ist ja nicht das Ende der Entwicklung, sondern eigentlich erst ihr wahrer Anfang. Danae Coulmas hat es richtig gemacht: Natürlich müssen Faschisten abtreten, überall – und die Freiheit, die folgt, füllen wir mit Kultur.

Das ist es, was diese Krise Europas uns vor Augen führt: Dass wir Schritt für Schritt jedes Gefühl verlieren und offenbar auch verlieren sollen für das Wichtige, das Richtige. Da sind die Kosten eines Rundfunks plötzlich als Frage so dringend, dass die wichtige Aufgabe des Rundfunks hintanstehen muss. Da schmerzen die drückenden Schuldzinsen eines Landes so akut, dass demokratische Beteiligung warten muss. Kultur? Wenn wir es uns leisten können. Dann ganz bestimmt.

Nur, dass sie bis dahin nicht mehr da ist. Denn wer es ständig verschiebt, das Richtige zu tun, weil er es sich gerade nicht leisten kann, der wird an dem Tag, an dem er es sich leisten könnte, verlernt haben, was es ist.

Extrem überdimensionierte Vorurteile

Nur, damit ich das einmal öffentlich klargestellt habe: Es bleiben viel zu oft Behauptungen wie diese unwidersprochen, wie sie gerade wieder (offensichtlich basierend auf einer dpa-Meldung*) Bild.de verbreitet:

Griechenland ist mit mehr als 760 000 Staatsdienern bei lediglich rund elf Millionen Einwohnern extrem überdimensioniert.

Mit „Griechenland“ ist hier der Öffentliche Dienst gemeint. Deshalb einmal zum Vergleich: Deutschland hat bei einer etwa 7,27fachen Größe 4,6 Millionen Angestellte im Öffentlichen Dienst (Griechenland hätte im Verhältnis 5,52 Millionen), aber das liegt nicht unwesentlich daran, dass in Deutschland zwischen 1991 und 1995 gut eine Million in den Statistiken gern als „Sonstige“ geführte Beschäftigte verschwunden sind, nämlich bei

Zweckverbände, Bundeseisenbahnvermögen/Deutsche Bundesbahn, Deutsche Bundespost

herausgefallen sind, weil sehr privatisiert wurde, was in Griechenland nicht passiert ist. Ansonsten wäre das „extreme“ Verhältnis heute wohl annähernd eins zu eins. Nun kann man ja gerne argumentieren, die Infrastruktur eines Landes solle privat sein (finde ich nebenbei bemerkt in der Regel nicht), aber dann sollte man kennzeichnen, dass es sich bei dem „extremen“ Verhältnis eher um das Verhältnis zur eigenen Ideologie davon handelt, wie ein Staat organisiert sein soll als – wie suggeriert wird – um eine Art objektiver Berechnung, bei der Deutschland auch noch „extrem“ viel „besser“ abschneiden würde.

Es ist ja nicht so, dass ich an der Effizienz des griechischen Staatswesens nicht viel zu kritisieren hätte, aber dieses Nachplappern von schwachsinnigen, pseudoobjektiven Kennzahlen geht mir jeden Tag mehr auf den Geist. Es ist Ideologie, schlicht und ergreifend.

Ausatmen.

*Danke Stefan für den Hinweis!