Die CSU als Naturkatastrophe

In ihrem lesenswerten Buch Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismuslegt Naomi Klein dar, wie Anhänger des Korporatismus mithilfe zum Beispiel des IWF Katastrophen nutzen, um Politik umzusetzen, die unter normalen Umständen am Widerstand der Bevölkerung scheitern müsste – nämlich einen radikalen Dreiklang von Kürzungen der Staatsausgaben, den Abbau von Arbeitnehmerrechten und der Privatisierung von Staatseigentum. All das lässt sich jeden Tag beobachten, im Moment zum Beispiel in Griechenland oder der Ukraine, die aktuell von Krediten des IWF abhängig sind.

Aber was ist mit Ländern wie Deutschland, in denen solche Katastrophenszenarien unwahrscheinlicher sind, potenzielle Gewinne aber hoch? Ich glaube, wir erleben gerade dieser Tage eine verdeckte Strategie zur schleichenden Privatisierung, ohne sie bewusst wahrzunehmen: In der absurden Einführung einer PKW-Maut für Ausländer, die deutsche Autobahnen benutzen.

Der Bundestag beschließt heute ein Gesetz, das angeblich niemand außerhalb der CSU will, das wahrscheinlich gegen europäisches Recht verstößt und von dem nicht einmal klar ist, ob der bürokratische Aufwand nicht potenzielle Gewinne sofort wieder auffrisst. Medien beschreiben das halb belustigt, halb verärgert.

Ich glaube nicht, dass der Hauptgedanke hinter dem Gesetz tatsächlich ist, dass (wie SpOn schreibt) „im bayerischen Landtagswahlkampf 2013 wohl ein paar angeheiterte Bierzelt-Bayern gejohlt haben, als die CSU ihnen versprach, endlich die Ösis abzukassieren, wenn sie die deutschen Autobahnen benutzen.“ Für so absurd halte ich deutsche Politik dann doch noch nicht. Die Maut ist zunächst einmal ein Einstieg in das „Verursacherprinzip“, also die ursprünglich grüne Forderung, dass für Autobahnen der bezahlt, der sie vornehmlich nutzt*. Verkehrsminister Dobrindt (CSU) sprach heute im Bundestag schon von einem „Systemwechsel“ hin zur „Nutzerfinanzierung“. Von hier ist der Schritt nicht mehr weit zu Straßenbau in „Private-Public-Partnerships“, wie sie zum Beispiel die CSU-Heimat Bayern vorantreibt, in denen Teile der Infrastruktur zunächst halb- und später ganz privat betrieben werden. Das ist, was folgen wird: private Straßen, die mit Profit betrieben werden.

Ich bin nicht grundsätzlich gegen Privatisierungen, auch wenn ich skeptisch bin, dass Infrastruktur dem Gemeinwohl besser dient, wenn mit ihr Gewinn erwirtschaftet werden muss. Sicher gibt es in fast jedem Einzelfall gute Argumente dafür und dagegen. Ganz eindeutig fragwürdig finde ich, wenn Privatisierungen ohne breite Diskussion durch die Hintertür eingeführt werden, wie in diesem Fall – und die Medien sich durch eine obskur argumentierende Partei wie die CSU von dem ablenken lassen, was die eigentliche Geschichte hinter dem neuen Gesetz wäre. Die Opposition scheint derweil ohnehin zu sehr damit beschäftigt, sich daran abzuarbeiten, dass dieses Gesetz eine „Niederlage für Merkel“ wäre. Es ist aber vor allem eine Niederlage für die Bürger und Steuerzahler, die ihre Infrastruktur in naher Zukunft möglicherweise überbezahlen werden müssen, um sie für Investoren profitabel zu machen. Wir werden das spätestens dann sehen, wenn der versprochene Ausgleich für deutsche Autofahrer über die verminderte KFZ-Steuer wieder kassiert wird, die Autobahn-Maut aber bestehen bleibt – wovon ich ausgehe.

Darüber sollten wir reden. Und darüber, dass Naomi Klein am Ende wahrscheinlich doch recht hat: Es braucht eine Katastrophe, um so etwas durchzusetzen, zum Beispiel die CSU.

*Ich halte das übrigens für ein dünnes Argument, weil zum Beispiel auch jeder, der im Supermarkt einkauft, die Autobahnen für die Transporte zum Supermarkt nutzen lässt, aber das ist ein anderes Thema.

Die Sache mit dem Finger: Varoufakis bei Jauch / aktualisiert

Die große Tragödie ist, dass alle nur über diesen Finger reden werden. Yanis Varoufakis hat spannende und richtige Dinge gesagt bei Günther Jauch am Sonntag, aber eben auch eine, die entweder völlig falsch oder zumindest so dämlich missverständlich war, dass der Abend am Ende seinen Gegnern möglicherweise mehr nützen wird als ihm und der Sache der neuen griechischen Regierung.

In der Sendung hielt Günther Jauch ihm vor, er würde fordern, Griechenland solle seine Schulden ganz einfach nicht bezahlen und Deutschland den Mittelfinger zeigen, und er spielte ein Video ein, auf dem Varoufakis 2013 zu sehen war, wie er genau das tat.

Sprecher: Varoufakis will den Griechen neues Selbstvertrauen geben …(kurze Einblendung: Mai 2013)

Varoufakis: Griechenland sollte einfach verkünden, dass es nicht mehr zahlen kann …

Sprecher: … und steht für klare Botschaften. Besonders an Deutschland.

Varoufakis: … und Deutschland den Finger zeigen und sagen: Jetzt könnt ihr das Problem alleine lösen.

Dann leitete Jauch mit der Frage zu Varoufakis über

Jauch: Der Stinkefinger für Deutschland, Herr Minister. Die Deutschen zahlen am meisten, und werden dafür mit Abstand am meisten kritisiert. Wie passt das zusammen?

Varoufakis widersprach heftig: Er habe nie jemandem den Finger gezeigt, das Video müsse falsch sein, „that video is doctored“, für mich zumindest klingt das so, als behaupte er, das Video müsse sogar gefälscht sein, der Finger quasi hineinmontiert.

Ich glaube, das Video ist authentisch. Allerdings hat Varoufakis in einem entscheidenden Punkt trotzdem recht: Er fordert in diesem Video nicht, „Deutschland den Finger zu zeigen“ und die Schulden nicht zu bezahlen, sondern er fordert im Gegenteil ganz andere Lösungen für die Euro-Krise (nämlich dieselben, die er heute auch fordert) – aber er rekapituliert im Rahmen einer Frage-und-Antwort-Session zu seinem Buch im Mai 2013 seine Position von Anfang 2010, also seine Forderung von VOR irgendwelchen Hilfskrediten. Er zeigt nicht den Finger, sondern sagt, er habe drei Jahre früher von anderen in einer anderen Situation gefordert, sie sollten den Finger zeigen. Das ist ein Unterschied, sogar ein entscheidender. „Damals hätte man sollen“ und heute fordern sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge, wenn sich in der Zwischenzeit die Fakten geändert haben – zum Beispiel durch den größten Kredit der Menschheitsgeschichte. Oder so.

So wie Jauch das Video zeigt ist es tatsächlich falsch. Wenn Varoufakis mit „doctored“ aber gemeint hat, das Video wäre gefälscht, dann liegt er ebenfalls daneben. Die Jauch-Redaktion hat das Video in einen falschen Kontext gestellt: Varoufakis hat den „griechischen Default innerhalb des Euro“ nicht 2013 gefordert, als Deutschland Hilfskredite gewährt hatte, sondern 2010, als der noch möglich war. Damit wäre „die Deutschen zahlen am meisten“ nie Realität geworden und Jauchs ganze Frage hätte keinen Sinn mehr ergeben (ja, korrekt, hat sie so dann auch nicht). Inzwischen hat der für Jauch zuständige NDR-Fernseh-Chefredakteur Andreas Cichowicz auf Twitter auch zugegeben, dass der Kontext zur Frage besser gewesen wäre. Ich würde sogar sagen, er war notwendig.

Vor diesem Hintergrund ist es inhaltlich richtig: Varoufakis hat nie Deutschland den Finger gezeigt und das Video ist seines Kontextes beraubt, also auch doctored.

Ich nehme allerdings schwer an, dass diese Tiefe der Differenzierung bei BILD-Lesern (und erst recht BILD-Mitarbeitern) eher nicht ankommen wird.

Nachtrag: Am Montagabend bestätigt Varoufakis auf Twitter, was ich vermutet hatte: Er postet das „undoctored“ Video, in dem die Szene drin ist (bei Minute 40:32). Offensichtlich meint er mit „Video“ den Einspieler und den falschen Kontext. Ich wünschte, er hätte das gleich klarer gesagt (oder es wäre nicht in der Drei-Wege-Übersetzung verschütt gegangen).

PS. Noch einen Tick schöner steht es bei Stefan Niggemeier.

Jetzt live: Abschalten

Wenn die Journalistin Danae Coulmas sich in Athen oder Thessaloniki in ein Taxi setzte, dann passierte es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder, dass der Fahrer sie an ihrer Stimme erkannte. Und sich bei ihr bedankte. Denn Danae Coulmas war während der Jahre der griechischen Obristen-Junta eine der wenigen Stimmen der echten, freien Information gewesen, die es noch gab. Sie war Radiojournalistin beim staatlichen Rundfunk, und die Menschen hörten ihre Sendung, um herauszufinden, was tatsächlich in der Welt los war. Und im diktatorisch regierten Griechenland. Denn sie sendete aus Westdeutschland: Danae Coulmas war beim griechischen Dienst der Deutschen Welle. Griechenland selbst hatte in dieser Zeit keinen unabhängigen Rundfunk. Und für viele Griechen ist bis heute die Deutsche Welle (und damit – in diesen Tagen mag das für manche unerwartet sein – auch Deutschland an sich) ein echter Freund im Kampf für die Freiheit.

Coulmas, die ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Junta 1975 in den griechischen diplomatischen Dienst eintrat und später als Dichterin und Übersetzerin viel größeren Ruhm erlangte, ist im vergangenen Jahr für ihre Verdienste um die Kultur gewürdigt worden. Die Ereignisse der vergangenen Tage zeigen hingegen, wie schnell es geht, dass „unabhängige“, zumindest unabhängig berichtende Medien ab-, aus- oder gleichgeschaltet werden. In Griechenland ist seit gestern Nacht der Staatsrundfunk ERT mit seinen Fernseh- und Radioprogrammen nicht mehr auf Sendung. Die Regierung hat ihn abgeschaltet, weil er zu teuer war.

Die Erfahrung zeigt, dass wenig auf der Welt wertvoller ist als eine funktionierende Demokratie, und für eine funktionierende Demokratie ist der freie Fluss der Information konstituierend. Nur ein informierter Bürger kann eine sinnvolle Entscheidung treffen. Insofern ist das Argument schwierig anzuwenden: zu teuer. Demokratie ist keine Frage des Preises. Ob speziell die Leistung des ERT unter demokratischen Bedingungen billiger zu haben wäre mag ich nicht beurteilen, es mag durchaus erstrebenswert sein. Ihn aber einfach abzustellen ist ein Akt der Diktatur – eben unabhängig davon, ob mir oder irgendwem das Programm passen oder nicht. Das eigentlich Schlimme daran ist aber: Dieser Akt der Diktatur passt genau in die Logik der sogenannten Euro-Rettung, nach der jede Art von staatlicher oder gar demokratischer Aktivität teurer Luxus ist, der zugunsten privater Gewinne zu unterbleiben hat. Über die Handlungen der Euro-Retter hat noch nie in Europa jemand abgestimmt. Bezahlen mussten die Bürger sie trotzdem.

Dabei sind alle gestiegenen Staatsschulden überall – inklusive der deutschen – direkt auf die Rettung privater Banken zurückzuführen. Es sind eben haargenau „die Privaten“, die diese Krise verursacht haben. Die Bürger zum Beispiel in Griechenland bezahlen dafür nicht nur bitterlich in Geld, sondern auch mit dem Verlust der Möglichkeit demokratischer Einflussnahme. Es gab kein Euro-Referendum, stattdessen eine massive Einflussnahme auch des Auslands auf die Parlamentswahl und nun offensichtlich eine Beschneidung der freien Information. Griechenlands alte Garde ist immer noch an der Macht, die niemand prägnanter verkörpert als der amtierende Ministerpräsident Samaras, der auch noch als politischer Hütchenspieler jahrelang jede Bemühung um eine Lösung der griechischen Staatskrise blockiert hat. Jetzt schließt er Rundfunksender. Demokratie ist ihm offenbar zu teuer.

Was bleibt ist der fatale Eindruck, dass Demokratie in Europa nur noch für solche Staaten vorgesehen ist, die sie sich leisten können. „Wir müssen aufpassen, dass die Demokratie auch marktkonform ist“, hatte Angela Merkel einmal ihr Verhältnis zur Staatsquote beschrieben. Bizarrer Weise schafft Europa unter ihrer Führung, diesen Satz auch noch so auszulegen, dass von jeder der möglichen Welten das Schlimmste übrig bleibt: Die Demokratie ordnet sich dem Markt unter und verabschiedet sich da, wo sie „zu teuer“ wird. Und gleichzeitig verabschiedet sich der Markt und man rettet private Pleitebanken mit Steuergeld, ohne dem Steuerzahler dafür eine Gegenleistung zu bieten – ganz besonders nicht in Form von demokratischen Mitspracherechten.

Ich habe eingangs die kulturelle Leistung von Danae Coulmas erwähnt, und das ist es, worauf ich eigentlich hinauswollte: Der Markt ist selbstverständlich nur ein Werkzeug, um eine demokratische Gesellschaft zu ernähren und zu informieren. Er ist kein Selbstzweck. Es ist schlimm, das überhaupt sagen zu müssen. Vor allem, weil auch die demokratische Gesellschaft kein Selbstzweck ist: Sie ist nur die für uns beste Möglichkeit, dem Menschen als kulturellem Wesen ein bisschen Raum zu geben. Wir überwinden den Hunger und die Unterdrückung, um Raum zu haben für etwas besseres. Wir lösen die dringenden Probleme zuerst, um zu den wichtigen Aufgaben zu gelangen. Freiheit ist ja nicht das Ende der Entwicklung, sondern eigentlich erst ihr wahrer Anfang. Danae Coulmas hat es richtig gemacht: Natürlich müssen Faschisten abtreten, überall – und die Freiheit, die folgt, füllen wir mit Kultur.

Das ist es, was diese Krise Europas uns vor Augen führt: Dass wir Schritt für Schritt jedes Gefühl verlieren und offenbar auch verlieren sollen für das Wichtige, das Richtige. Da sind die Kosten eines Rundfunks plötzlich als Frage so dringend, dass die wichtige Aufgabe des Rundfunks hintanstehen muss. Da schmerzen die drückenden Schuldzinsen eines Landes so akut, dass demokratische Beteiligung warten muss. Kultur? Wenn wir es uns leisten können. Dann ganz bestimmt.

Nur, dass sie bis dahin nicht mehr da ist. Denn wer es ständig verschiebt, das Richtige zu tun, weil er es sich gerade nicht leisten kann, der wird an dem Tag, an dem er es sich leisten könnte, verlernt haben, was es ist.

Warum mag eigentlich niemand Erpresser?

Die Welt muss verwirrend sein, wenn die Realität die eigenen Überzeugungen nicht verändern darf. Dann muss man zum Beispiel wie Paul Ronzheimer, Südeuropa-Hetzbeauftragter der BILD, erstaunt feststellen:

Immer auf die Deutschen!

Wir zahlen am meisten und sind trotzdem die Buhmänner

Ronzheimer tut ehrlich überrascht. Nachdem zuletzt auch in Italien eine Mehrheit der Wähler Politiker gewählt hat, die zumindest einen Anti-Merkel-Kurs fahren (im Fall von Berlusconi einen offen antideutschen), wie vorher schon in Frankreich und Griechenland, heuchelt er Empörung über eine Situation, die Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman so zusammenfasst:

The Germans don’t want a Cyprus collapse / exit from the euro, but they also don’t want the spectacle of German taxpayers bailing out Russian money-launderers. So what they did instead was blackmail Cyprus into having Cypriot depositors bail out Russian money-launderers. That way Germany’s hands are clean.
Am I missing something?

Denn das ist die Situation: Aus regierungsdeutscher Sicht wird etwas Falsches dann richtig, wenn man es nicht selbst tut, sondern einen anderen zwingt, es zu tun. Das ist deutsche Außen- und Wirtschaftspolitik unter der schwarzgelben Koalition. Und dabei zählt schon lange nicht mehr das Argument, irgendjemand hätte sich irgendetwas selbst eingebrockt: Wie ausgerechnet ein zypriotischer Sparer an der Krise der Banken oder Schwarzgeld aus Russland schuld sein soll ist nicht argumentierbar. Den Versuch unternimmt ja auch keiner – außer Paul Ronzheimer in der BILD.

Das Ergebnis ist erschütternd: Wenn es der Bundeskanzlerin dieser schlechtesten aller deutschen Nachkriegsregierungen gelingen sollte, die nächste Wahl zu gewinnen, dann auch wegen der Vorstellung vieler Wähler, sie wäre auch eine ganz erfolgreiche Krisenmanagerin. Nichts könnte weiter entfernt sein von der Wahrheit. Na gut, Ronzheimer vielleicht. Aber sonst wirklich nichts.

Real: Alles drin. Irreal: Was Politik behauptet, was drin ist.

Die erfolgversprechendste Art für jede Organisation, die Zukunft anzugehen ist, so viele gute Ideen wie möglich auszuprobieren und sich von den jeweils schlechtesten so schnell wie möglich wieder zu trennen. Bei Apple tut man das, indem man unzählige Prototypen baut. Die meisten anderen Unternehmen tun es, indem sie ein paar Prototypen bauen, den besten auswählen und von da an mit Kundenfeedback von Version zu Version besser werden („Done is better than perfect“). Das System ist das gleiche: Wer bereits vorher glaubt, die Antwort auf die Fragen der Zukunft zu kennen, arbeitet nicht mit Ideen sondern mit Ideologie. Und das ist eine Methode, bei der nur sicher ist, dass selbst ein nur relativ optimaler Erfolg praktisch unmöglich zu erreichen ist, d.h. nicht einmal tatsächlich umgesetzte Ideen können ihr volles Potenzial entfalten, weil ihre Beschränkung immer bereits eingebaut ist.

Willkommen in der Politik.

Nur ist die Politik daran gar nicht allein schuld. Ich möchte das an einem Beispiel erläutern, natürlich anhand der Euro-Krise, die zumindest für irgendetwas nützen soll.

Da ist einmal die real existierende Politik. Sie versagt mehr oder weniger vollständig: Allen Krisenländern geht es immer schlechter. Nehmen wir Spanien, deren Ministerpräsident Rajoy gerade in Berlin zu Gast war, und der dabei (wie nicht lange zuvor sein irischer Amtskollege) den Spagat vollbringen musste, einerseits darauf zu verweisen, wie großartig konsequent er die ihm von den europäischen institutionellen und nationalen Großmächten aufoktruierten „Reformen“ umsetzt, und andererseits um Hilfe zu bitten, weil die Realität sich nicht an die Pläne der Ideologen hält. Unter den Reformen bricht die spanische Wirtschaft genauso zusammen wie die griechische, die portugiesische und mit ein paar Abstrichen auch die irische. Die Programme funktionieren nicht, nirgendwo und unter keinen Bedingungen. Die Zahlen zeigen das.

Aber natürlich wäre diese Realität nur dann ein Baustein in der Politik zum Beispiel unserer Bundesregierung, wenn es dabei um Ideen ginge und nicht um Ideologie.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Reformbemühungen Spaniens gewürdigt. Deutschland habe „große Hochachtung und große Bewunderung“ für das, was Spanien zur Bewältigung der Schuldenkrise auf den Weg gebracht habe, sagte die CDU-Politikerin nach ihrem Treffen mit Spaniens Ministerpräsidenten Mariano Rajoy in Berlin. Sie sei überzeugt, dass die Reformen Wirkung zeigen würden.

Zeit.de

Warum soll sie sich mit der Realität beschäftigen, wo sie doch überzeugt ist? Die Wahrheit ist, dass die spanische Wirtschaft in einer Größenordnung zusammenbricht, die sich kaum noch beschreiben lässt. Das Land ist in allen wichtigen Bereichen von Produktion, Handel und Arbeit um Jahrzehnte zurückgeworfen und implodiert. Merkel lügt. Und lügt. Und lügt.

Gleichzeitig gibt es in deutschen Medien spürbar weniger Berichte aus den Krisenländern. Wie dramatisch die Lage in Europa ist, wird in Deutschland nirgendwo wirklich sichtbar. Insofern könnte ein Besuch des SPD-Kanzlerkandidaten Steinbrück in Athen ein Schlaglicht darauf werfen, denn immerhin verbrachte er einen guten Teil seiner Zeit in Einrichtungen zur Armenspeisung. Stattdessen kümmern sich die Journalisten, die ihn begleiten, um ganz andere Fragen: Obwohl Steinbrück zumindest in homöopathischen Dosen ernsthafte Ideen zur Überwindung der Krise vorgebracht hat, ist die einzige Frage, die Journalisten dabei interessiert, wie sie mit seiner Kandidatur zusammenwirken.

Als Beispiel das Leitmedium Spiegel Online:

Die Jugendarbeitslosigkeit ist auf Rekordhoch, die Investoren scheuen den Gang zurück ins Land. Daheim in Berlin würde manch einer den Hellenen gerne den Geldhahn zudrehen. Steinbrück nicht. Er will dem Misstrauen gegenüber der griechischen Regierung etwas entgegensetzen, das ist das Hauptanliegen seines Besuchs. Er sagt: „Das Land braucht mehr Zeit, um seine Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen.“ Steinbrück, der Barmherzige.

Es ist ein Kurs mit Risiko. Der SPD-Mann weiß, dass jene Frau, die er beerben will, andere Töne anschlägt. Angela Merkel gefällt sich seit Beginn der Krise als eiserne Kanzlerin. Wann immer sie sich zur Zukunft Griechenlands äußert, pocht sie auf Einhaltung der Brüsseler Bedingung, das Defizit auch über massive Sozialreformen in den Griff zu bekommen. Kein Geld ohne Gegenleistung – das ist ihr Credo. Beim Wähler fährt sie damit bislang ganz gut.

Abgesehen davon wie lustig es ist, „Brüsseler Bedingungen“ von den deutschen Bedingungen zu trennen fällt auf, dass die Realität durch die Brille von Spiegel Online nicht mehr als solche wahrgenommen wird, sondern nur noch als Leinwand, vor der sich das Spektakel des deutschen Wahlkampfes entfaltet. Dass die „Brüsseler Bedingungen“ in keinem Land positive, sehr wohl aber in jedem Krisenland katastrophale ökonomische und soziale Folgen haben ist vollkommen unerheblich angesichts der Tatsache, auf welche der Lügen und Inszenierungen der (oftmals durch eben dieselben Medien bedingt) im Ahnungslosen verharrende Wähler doller hereinfällt. Politik ist mit Inhalten hier gar nicht zu machen: Dass Politiker selbst um den Preis der Wahrheit, selbst um den Preis realen (aber unsichtbaren) Leidens erfolgreicher an Ideologien festhalten als sich um die Lösung realer Probleme zu bemühen liegt auch daran, dass Medien es so wollen. Die gute Geschichte schlägt gute Politik. Ob Merkel in Wahrheit lieber gute Politik machen würde ist zweitrangig – es lohnt sich schlicht nicht. Wenn sie die Zahlen aus den Krisenstaaten zum Anlass nähme, Fehler zu korrigieren und echte Verbesserungen herzustellen, würde ihr das von den Medien und so letztlich den Wählern negativ angerechnet. Sie wäre eine Umfallerin. Weil sie die Realität ernst genommen hätte.

Noch einmal: Würde die vorherrschende europäische Politik an Zahlen gemessen, dann müsste man Merkel ihre Worte von den spanischen Fortschritten pausenlos um die Ohren hauen. Im Vergleich zu ihrem Allzeithoch 2007 hat die spanische Industrie mehr als 30 Prozent weniger Output. Der Stand ist schlechter als der von vor 20 Jahren. Fortschritte? My ass! Wen wollt ihr hier eigentlich verarschen?

Ach ja, uns alle.

Das Schlimme dabei ist nicht nur, dass es funktioniert. Das Schlimme ist, dass es sich längst als ein System etabliert hat, welches die echte Lösung von Problemen bestraft, während es die Lügen von Ideologen belohnt.

In der Realität ist das schlecht.

Mein letzter Text zu den Piraten

Die Piraten haben also den Beweis angetreten, dass sie inhaltlich arbeiten können und sich mit den „Bochumer Beschlüssen“ eine Art Grundsatzprogramm vervollständigt.

Partei-Grundsatzprogramme bestehen rein rhetorisch oft aus viel heißer Luft, nicht nur bei den Piraten, wirklich füllen kann sie eine Partei nur durch konkrete politische Arbeit, das kann man den Piraten kaum anlasten. Aber ich würde mich gern ein bisschen mit dem beschäftigen, was da konkret beschlossen wurde.

Als oller Sozi nehme ich einmal stellvertretend den Bereich „Arbeit und Mensch“ aus den Bochumer Beschlüssen. Und ich kann vorweg schonmal sagen, dass ich schockiert bin, richtig tief schockiert, nicht allein ob der bizarren handwerklichen Qualität der Beschlüsse, sondern auch wegen der Inhalte. Aber gucken wir uns den Abschnitt kurz in seiner Gesamtheit an.

Arbeit und Mensch

Arbeit ist für uns nicht nur eine handelbare Ware, sondern immer auch die persönliche Leistung eines Menschen. Es ist daher ein Gebot der Menschenwürde, dass jeder Mensch frei entscheiden kann, welchen Beruf er ausüben will und welche Arbeit er an- nehmen will, aber auch, dass diese Leistung entsprechend gewürdigt wird.

Die technologische Entwicklung ermöglicht es, dass nicht mehr jede monotone, wenig sinnstiftende oder sogar gefährliche Aufgabe von Menschenhand erledigt werden muss. Wir sehen dies als großen Fortschritt, den wir begrüßen und weiter vorantreiben wollen. Daher betrachten wir das Streben nach absoluter Vollbeschäftigung als weder zeitgemäß noch sozial wünschenswert. Stattdessen wollen wir uns dafür einsetzen, dass alle Menschen gerecht am Gesamtwohlstand beteiligt werden und werden dazu die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens prüfen.

Und nun der Reihe nach:

Arbeit ist für uns nicht nur eine handelbare Ware, sondern immer auch die persönliche Leistung eines Menschen.

Fasse ich das richtig zusammen als „Arbeit ist mehr wert als nur das Geld, das man dafür bekommt“? Merken wir uns das kurz.

Es ist daher ein Gebot der Menschenwürde, dass jeder Mensch frei entscheiden kann, welchen Beruf er ausüben will und welche Arbeit er annehmen will, aber auch, dass diese Leistung entsprechend gewürdigt wird.

Ich meine, das kann man im Gesamtkontext nur so verstehen: Menschen sollten keine Arbeit annehmen müssen, die sie nicht ausführen wollen. Der falsche Bezug bei der Leistung (gemeint ist wohl „ihre Leistung“ nicht „diese Leistung“, die im Annehmen der Arbeit bestände, die man annehmen will) überdeckt wahrscheinlich die Forderung, dass Arbeit leistungsgerecht entlohnt werden soll? Da sich die Piraten nicht grundsätzlich vom Kapitalismus verabschieden nehme ich an, sie meinen auch hier vor allem, dass Menschen nicht durch materiellen Druck zu unangenehmen Arbeiten gezwungen werden sollen? Sondern dass diejenigen wenig sinnstiftenden, monotonen und gefährlichen Arbeiten, die noch keine Maschine übernehmen kann, dann wenigstens besonders gut bezahlt werden sollen? Das wäre eine kongruente Haltung – irgendwie gefühlt jedenfalls –, aber es steht da nicht. Da steht, dass jeder arbeiten soll, was er will, und das soll „entsprechend“ gewürdigt werden. Zusammen mit dem ersten Satz, der klarstellt, dass Arbeit mehr ist als eine bezahlte Ware, könnte die entsprechende Würdigung dann auch sein zu sagen: „Du machst das doch eh so gerne, das bezahlen wir nicht?“ Oder eine staatliche Stelle, die morgens einen Abgesandten an die S-Bahn stellt, der sich bei den zur Arbeit eilenden für ihr Engagement bedankt? Ich weiß es nicht.

Die technologische Entwicklung ermöglicht es, dass nicht mehr jede monotone, wenig sinnstiftende oder sogar gefährliche Aufgabe von Menschenhand erledigt werden muss. Wir sehen dies als großen Fortschritt, den wir begrüßen und weiter vorantreiben wollen.

Das gilt spätestens seit der Erfindung des Rasenmähers. Oder so. Mehr heiße Luft geht nicht, aber richtig böse wird es erst jetzt.

Daher betrachten wir das Streben nach absoluter Vollbeschäftigung als weder zeitgemäß noch sozial wünschenswert.

Wie bitte? Das Streben nach Vollbeschäftigung ist sozial nicht wünschenswert? Das Streben? Das ist ja nun totaler Unfug. Wahrscheinlich ist gemeint, der Zustand der Vollbeschäftigung selbst wäre nicht wünschenswert (was auch immer an „absoluter Vollbeschäftigung“ noch absolut voller als voll sein soll).

Ich nehme an, hier ist mit Vollbeschäftigung nur die landläufige, engere Definition gemeint, nämlich der Produktionsfaktor Arbeit – also der Zustand, in dem jeder Arbeitswillige auch Arbeit hat. Das finden Piraten sozial nicht wünschenswert? Oder missverstehen sie die Definition von Vollbeschäftigung und meinen eigentlich, es solle nicht jeder arbeiten müssen, weil das … was auch immer? Weil manche eben was Besseres zu tun haben? Ich entferne mich hier vom Text der nur sagt, „das Streben nach Vollbeschäftigung“ sei unzeitgemäß und nicht sozial wünschenswert, aber ergibt das einen Sinn? Ich kann die Partei in beiden Fällen nicht wählen, denn ich finde sowohl das Streben nach Vollbeschäftigung als auch die Vollbeschäftigung als solche sehr wünschenswert, gerade auch sozial, aber wer formuliert denn diesen Quatsch? Der Schwarm? Arbeitsgruppen? Der Parteitag? Und das wird dann so verabschiedet? Puh.

Stattdessen wollen wir uns dafür einsetzen, dass alle Menschen gerecht am Gesamtwohlstand beteiligt werden und werden dazu die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens prüfen.

Statt Arbeit lieber ein ordentliches Bedingungsloses Grundeinkommen. Steht da wirklich: Stattdessen. Es ist das Streben danach, strukturelle Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sozial nicht wünschenswert, stattdessen soll lieber jeder „gerecht am Gesamtwohlstand beteiligt werden“ – nicht dadurch, dass er die gerechte Chance erhält, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern offensichtlich einfach durch Geld. Die Arbeit des Menschen ist – wir haben uns das oben gemerkt – mehr als nur handelbare Ware, offensichtlich deshalb, weil es nach Ansicht der Piraten sowieso nicht genug davon gibt, und deshalb wird sie rationiert: Es ist nicht zeitgemäß und wünschenswert, dass alle arbeiten, deshalb werden einige fürs Nichtstun bezahlt.

Das ganz Merkwürdige bei den Piraten ist für mich, dass bei mir das Gefühl bleibt, das können sie gar nicht gemeint haben. Das muss ihnen so durchgerutscht sein, sie wollten etwas ganz anderes sagen. Sie können vielleicht einfach nicht so gut Beschlüsse formulieren. Aber dafür steckt da zu viel Arbeit drin, zu viele Stunden und Augenpaare und Gedanken und was auch sonst noch. Das ist so verabschiedet und veröffentlicht – das gilt. Und für mich sind die Piraten damit nicht nur unwählbar, sondern ein echter politischer Feind. Ich bin dieser Partei von Ferne mit einiger manchmal schmunzelnder Sympathie begegnet. Ich fand sogar das Chaos eine ganze Weile lang okay. Aber wer behauptet, Arbeit sei mehr als nur das Geld, das man dabei verdient, um gleichzeitig zu sagen, Vollbeschäftigung sei nicht zeitgemäß und sozial erwünscht, weil die Leute schließlich auch ein irgendwie benamstes Arbeitslosengeld bekommen und dann machen können, was sie wollen – der hat mit der Realität von Menschen keinen Kontakt mehr. Ich empfinde es als zynisch, einem Langzeit-Arbeitslosen mitzuteilen, er solle doch einfach ein bisschen mehr Lebenskünstler sein, ein bisschen mehr wie Johannes Ponader, das sei jetzt sozial so erwünscht und zeitgemäß.

Ich glaube, dass sich die Würde eines Menschen auch über seine Arbeit definiert, darüber, dass er sein Leben mit seiner Arbeit fristen kann. Ich halte Vollbeschäftigung für ein extrem soziales und legitimes Ziel. Aber was weiß ich schon, ich halte es ja auch für vernünftig, dass ein Bundesparteitag in der Lage ist, ordentliche Beschlüsse zu Problemen zu fassen, die dieses Land wirklich hat, die seine Bewohner wirklich haben – und sich nicht mit Zeitreisen abzukaspern.

Das sieht Johannes Ponader anders, der auf Twitter wieder die Medien dafür verantwortlich macht, dass nicht jeder bejubelt, was die Piraten da beschlossen haben.

Medien, die uns für Zeitreisen schelten und gleichzeitig Machtpolitik & Hierarchisierung als Professionalisierung loben. Finde den Fehler.

Ich sag mal so: Ich finde den Fehler.

Wenn Obama Europäer wäre

Die Rede, mit der Barack Obama seine Wiederwahl als US-Präsident akzeptierte, steigert sich in den letzten anderthalb Minuten in einem Crescendo über dem Applaus seiner Anhänger in eine Ode an die Stärke Amerikas, an die Großartigkeit der Union, die Vielfalt, die Einzigartigkeit jedes Einzelnen.

I believe we can keep the promise of our founders, the idea that if you’re willing to work hard, it doesn’t matter who you are or where you come from or what you look like or where you love. It doesn’t matter whether you’re black or white or Hispanic or Asian or Native American or young or old or rich or poor, able, disabled, gay or straight, you can make it here in America if you’re willing to try.
I believe we can seize this future together because we are not as divided as our politics suggests. We’re not as cynical as the pundits believe. We are greater than the sum of our individual ambitions, and we remain more than a collection of red states and blue states. We are and forever will be the United States of America.

Es fällt schwer, diese Rede zu hören und nicht einfach auf der Stelle in diese Vereinigten Staaten auswandern zu wollen. Der Mann ist wahrscheinlich der größte Rhetoriker unserer Zeit. So fällt erst auf den zweiten Blick auf, dass alles das, was er anspricht, um uns herum, in Europa, besser ist – abgesehen von diesem einzigartigen Spirit, diesem amerikanischen Geist, der aus jeder seiner Zeilen aufsteigt und den Zuhörer unwiderstehlich in die Höhe zieht. Diese Rede ist auch deshalb so bemerkenswert, weil wir sonst eben keine Führungspersönlichkeiten erleben – politisch oder sonstwo – die derart virtuos Emotionen auslösen und mit ihnen umgehen können, ohne dabei negativ zu werden. Obama hält eine Bierzelt-Rede, ohne dabei einen Gegner zu benötigen. Er macht niemanden nieder. Alle Emotion, alle Kraft kommt aus ihm selbst. Es ist eine durch und durch positive Rede. Es wird nicht geschimpft, sich nicht empört, sie zieht keine vermeintliche Größe aus dem Sich-erheben über andere. Sie ist ganz allein groß, weil sie auf einer großen Idee basiert.

Es fällt manchmal auch chwer zu glauben, dass diese Idee bescheiden ausfällt im Verhältnis zur europäischen Idee. Verschiedene Völker und Lebensentwürfe, die friedlich zusammenleben? In Wohlstand? Wenn wir uns vor Augen führen, dass wir dabei in jüngerer Vergangenheit Weltkriege und den Zusammenbruch des Kommunismus überstanden haben, nebenbei viele Flüchtlinge aus aller Welt aufgenommen, verschiedene (Staats-)Religionen miteinander versöhnt und auch noch David Hasselhoff durchgefüttert haben, trotzdem in der Regel medizinische Versorgung und Bildungseinrichtungen geschaffen und eine einmalige kulturelle Vielfalt bewahrt haben, dann fragt man sich, was ein begnadeter Rhetoriker wie Obama im Dienst der Vereinigten Staaten von Europa wohl auslösen könnte. Was wäre, wenn dieser in jeder Hinsicht reiche, unvorstellbar schöne Kontinent eine echte Einheit bilden würde?

Vielleicht ist der amerikanische Traum, wie Obama ihn formuliert, nicht besonders anspruchsvoll:

We want our kids to grow up in a country where they have access to the best schools and the best teachers.
A country that lives up to its legacy as the global leader in technology and discovery and innovation, with all the good jobs and new businesses that follow.
We want our children to live in an America that isn’t burdened by debt, that isn’t weakened by inequality, that isn’t threatened by the destructive power of a warming planet.

Diese Ziele sind wahrscheinlich für den durchschnittlichen Europäer näher als für Amerikaner – jedenfalls in Nicht-Krisen-Zeiten. Wir sind reicher, besser gebildet, haben weniger Schulden, bessere Infrastruktur und spielen die interessantere Version von Fußball. Aber wenn es uns besser geht als ihnen, dann sollte doch die europäische Idee, die unter widrigeren Umständen so viel mehr Fortschritt, Wohlstand und Frieden gebracht hat, doch eigentlich noch mehr Begeisterung auslösen. Stattdessen scheint es, als würden mehr und mehr Menschen dieses Europa für überholt und die Rückkehr zum Nationalstaat für wünschenswert oder zumindest für unausweichlich halten.

This country has more wealth than any nation, but that’s not what makes us rich. We have the most powerful military in history, but that’s not what makes us strong. Our university, our culture are all the envy of the world, but that’s not what keeps the world coming to our shores.
What makes America exceptional are the bonds that hold together the most diverse nation on earth.
The belief that our destiny is shared; that this country only works when we accept certain obligations to one another and to future generations. The freedom which so many Americans have fought for and died for come with responsibilities as well as rights. And among those are love and charity and duty and patriotism. That’s what makes America great.

Der Gedanke ist so messerscharf wie schön: Es ist nicht, wie man es sonst hört, die Vielfalt als solche, die Amerikas Kraft ausmacht. Es ist das Band, das die Vielfalt zusammenhält. Der Glaube an ein geteiltes Schicksal. Ich glaube, das zeigt im Umkehrschluss die Schwäche unseres heutigen Europas: Der Glaube, man könne das alles letztlich besser allein, als Nation, ohne diese und jene gerade schwache Nation, ohne diese oder jene drückend starke.

Henry Kissinger hat einmal gesagt, er weiß nicht, wen er anrufen soll, wenn er Europa sprechen möchte. Das ist ein Problem, natürlich, aber es wäre lösbar – wenn Europa wüsste, was es überhaupt sagen will.

Endspiel

In einem interessanten Interview mit den Tagesthemen erklärt Paul Krugman anschaulich das Dilemma der Politik, vor allem der deutschen.

Entweder wird Deutschland zustimmen müssen, alle Mittel zu ergreifen, um den Euro zu retten. Oder aber man lässt den Euro scheitern. Beide Szenarien sind unrealistisch, und doch wird eines von beiden eintreten.

Er beneide Merkel nicht um ihre Rolle. Dass das erste Szenario – „alle Mittel“ – unrealistisch ist, liegt in der deutschen Innenpolitik. Der deutschen Bevölkerung ist immer wieder versprochen worden, es gehe nur bis hierher und nicht weiter, es werde nicht mehr Geld benötigt und so weiter. In der üblich bizarren Krisenlogik ist das immer wieder ein Grund, warum die Rettungsmaßnahmen nicht reichen: Weil sie endlich sind, wird ihr Ende auch für möglich gehalten und eingepreist.

Ich glaube aber, es gibt einen dritte Möglichkeit, und sie wird seit einem knappen Jahr aktiv vorbereitet. Ich glaube, dass Griechenlands Ausscheiden aus dem Euro – der Grexit –, zwar als wirtschaftlich bedeutend teurere Variante erkannt aber als politische Notwendigkeit betrachtet wird. Merkel muss einen Schwenk zu wie auch immer benannten Euro-Bonds vollziehen, und das kann sie innenpolitisch nur überleben, wenn sie glaubhaft machen kann, wie nah Europa dem Abgrund ist. Das geht nur, wenn Spanien oder gar Italien offensichtlich zu fallen drohen. Und die Spekulation gegen diese Staaten erreicht man am dramatischsten mit dem Grexit (und dem dann wohl zwingend folgenden Ausscheiden Portugals). Um den Euro zu retten muss Merkel ihn sehr viel stärker aufs Spiel setzen. Ich finde diese Überlegungen riskant, finde es überflüssig und bedauerlich – weil es einfacher und viel effektiver gewesen wäre, der Bevölkerung von Anfang an die Wahrheit zum Beispiel über gemeinschaftliche Schulden zu sagen – aber verständlich. Es ist für mich darüber hinaus die einzige Erklärung dafür, dass in Griechenland, aber auch in Spanien, Programme durchgesetzt wurden, von denen jeder zu jeder Zeit wusste und auch gesagt hat, dass sie niemals ausreichen würden.

Anders als vor diesem Hintergrund sind für mich auch die unsäglichen Äußerungen des bayrischen Finanzministers Markus Söder im Gespräch in der BamS nicht zu verstehen.

Ich verteidige ja nicht nur „die Griechen“ in Deutschland, sondern immer wieder sowohl öffentlich als auch privat „die Deutschen“ in Griechenland. Ich tue beides gleich ungern, weil es regelmäßig dazu führt, dass ich Politiker verteidigen muss, deren Politik ich für falsch halte. Aber das ändert ja zum Beispiel nichts daran, dass Wolfgang Schäuble natürlich ein überzeugter Europäer und Demokrat ist, selbst wenn er sich manchmal wünscht, in Griechenland würde zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade keine Wahl anstehen. Wie dem auch sei.

An Athen muss ein Exempel statuiert werden, dass diese Eurozone auch Zähne zeigen kann.

Selbst ein provinziell veranlagter Politiker im Landtagswahlkampf weiß, was er damit provoziert. Die Terminologie ist völlig überflüssig, und sie wird in Griechenland natürlich die erwünschte Reaktion hervorrufen: Den Hinweis auf die Namen der Orte, an denen zuletzt Deutsche Exempel statuiert haben. Söder will das offensichtlich. Ich glaube nicht, dass man dazu etwas sagen muss.