Europa, das ich meine

Ich weiß, alles unterhalb eines Manifests wirkt manchmal unentschlossen, aber weil alle inklusive mir selbst nun schon seit Jahren fordern, es müssen einmal eine Debatte darüber geführt werden, was Europa eigentlich ist, werde ich ein paar zarte, halb geschlüpfte Gedanken in die Runde werfen. Und meiner Meinung nach ist das Thema Freiheit.

Die europäische Freiheit erscheint mir mit meinem zugegeben beschränkten Horizont einzigartig. Im direkten Gegensatz zu Joachim „Liberty Joe“ Gauck glaube ich zwar nicht, dass unsere Freiheit nicht nur eine Freiheit „von etwas ist, sondern auch eine Freiheit zu etwas“ – aber ich glaube ganz im Gegenteil, dass unsere Freiheit nicht nur eine Freiheit zu etwas ist, sondern auch eine Freiheit von etwas. Die höchste Form.

Die Freiheit zu etwas ist die erste, die sich die Menschen erkämpfen. Die Freiheit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, ihr Leben zu fristen, zu lernen, zu lieben wen sie wollen und zu leben wie sie wollen. Für mich ist dies das Grundversprechen zum Beispiel des „American Way of Life“: die Freiheit, zu tun was man will, so lange es niemand anderen in seinen Rechten verletzt. Tolle Sache. Und keineswegs selbstverständlich: In weiten Teilen der Welt ist das aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen völlig undenkbar. Jeder Mensch ist immer auch ein Objekt der Umstände, unter denen er lebt, und Freiheit kann aus meiner Sicht nur dann Freiheit sein, wenn sie tatsächlich allen offen steht (wenn ein Land strukturell drei Millionen Arbeitslose hat, dann mag dem einzelnen der Weg in Erwerbsarbeit offen stehen, aber eben nicht allen gleichzeitig. In diesem Punkt ist die Gesellschaft strukturell unfrei).

Das ist die „Freiheit zu …“. In Europa leben wir den sozialdemokratischen Traum, auch frei zu sein von vielen Dingen. Wir leben relativ frei von der Angst vor Gewalt, sei es politische in Form der Diktatur oder ordinär kriminelle (wir werden nicht mehr verschleppt und als Sklaven verkauft). Wir verarmen nicht sofort, weil wir eine Zeit lang arbeitsunfähig krank sind oder den Job verlieren (wenn auch immer schneller). Wir und vor allem unsere Kinder sind durch Bildung einigermaßen sozial mobil und nicht auf ewig in die soziale Schicht ihrer Eltern gefesselt (auch wenn das für Deutschland in Europa mit am wenigsten gilt), das heißt wir leben relativ frei von ständischen Hierarchien. Aus meiner Sicht ist das die noch größere Errungenschaft, die noch größere Freiheit, die auf der ersteren aufbaut, sie aber noch eine zivilisatorische Stufe höher hebt. Ich meine aus dem Kopf, der Gedanke kommt von dem amerikanischen Anthropologen David Graeber (in seinem gigantischen Buch „Schulden – Die ersten 5000 Jahre“), dass Platon, wenn er mit einer Zeitmaschine im Heute landen würde, die meisten Erwerbsarbeiter ob ihrer Verschuldung nicht von Sklaven würde unterscheiden können.

Auf jeden Fall von Graeber kommt die Definition von Freiheit, die den freien Menschen vom Sklaven unterscheidet: die Freiheit, soziale Beziehungen eingehen zu können. Das ist es, was den freien Menschen vom unfreien unterscheidet. Es ist das Recht, das nur der König und der Sklave nicht haben. Der eine, weil er Gott gleich ist, der andere, weil er den Toten gleich ist. Beides hat keinen Platz in einer zivilisierten, demokratischen Gesellschaft (außer natürlich Prince Charles, aber nur als Folklore. God Save The Queen!). Die Beziehung eines freien Menschen zu einem Sklaven ist eine, die einzig auf Besitzverhältnissen beruht (im eigentlichen Sinne also „rational“ ist, auf Verhältnissen beruhend (ratio = Verhältnis)). Es ist außerdem das Verhältnis, mit dem Konservative von Thilo Sarrazin bis zu dem Quoten-Reaktionär auf Spiegel Online, von Hans-Werner Sinn bis zu den niederen Rängen der FDP (d.h. von Rösler abwärts, also alle Aktiven) die Verhältnisse in Europa bewerten. Wer kein Geld hat, der soll eben hungern, sein Land verkaufen oder einfach den Anstand haben zu sterben (der sich inzwischen selbst öffentlich kaum noch zivilisiert gebende stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Martin Lindner forderte tatsächlich im Bundestag, Griechenland solle doch „den Anstand haben“, die Währungsunion zu verlassen. Es ist ein Vorrecht des (eingebildeten) Adels, die Armen unanständig zu finden. Ich weiß, dass sein Spitzname im Bundestag „Eierkrauler“ ist, aber ich schlage trotzdem einen neuen vor: Marie Antoinette). Diese Art Argumentation gibt es selbstverständlich nicht innerhalb von Familien, Gruppen (eine Bundeswehr-Einheit in Afghanistan dürfte nicht deshalb eine andere im Stich lassen, weil diese sich selbst durch eigene Fehler in Gefahr gebracht hat) oder Nationen. Ein Hamburger verlangt nicht von Berlin, es möge das Brandenburger Tor verkaufen, weil es verschuldet ist, Kinder hungern lassen oder ähnliches. Die Beziehung von Hamburg zu Berlin ist keine „rationale“, keine auf berechenbaren Verhältnissen begründete, sondern auf unberechenbaren, sozialen. Es würde nicht einmal der Versuch durchgehen, den einen zum Sklaven des anderen umzudeklarieren. In Europa passiert aber gerade genau das.

Europa ist der stärkste Wirtschaftsraum der Welt. Er ist es deshalb, weil nirgendwo sonst ein derartiger kultureller Reichtum auf so engem Raum friedlich und in Freiheit zusammenlebt. In Freiheit von und zu. Wir erleben gerade die Angriffe derer, die mit Freiheit nur das Recht des Stärkeren meinen, sich das Recht zu nehmen. Ihr Trick ist, soziale Verhältnisse in berechenbare, „rationale“ Verhältnisse zu überführen. Es ist die Logik der Sklavenhalter, nach dem am Ende der Ärmste keine Rechte mehr haben kann, weil er Schulden hat (ein extrem lustiger Trick dagegen wäre übrigens, wenn jeder heiratsfähige Nordeuropäer einen heiratsfähigen Südeuropäer heiraten würde, dann wäre das komplette System ausgehebelt, weil Ehen institutionalisierte (berechenbare) unberechenbare (Liebes-)Verhältnisse sind).

Oder sagen wir es so: Nur weil die Arschlöcher es nicht berechnen können, heißt das nicht, dass Europa ein schlechtes Geschäft ist.

Piratenbeobachtung: Ich sehe da Inhalte. Ich weiß nur nicht, ob die Piraten sie auch sehen

Es wirkt ein bisschen wie ein Hobby, ich weiß das, und ich sollte vielleicht damit aufhören, aber ich guck mir gerne von Ferne die Piratenpartei an. Und das wirklich wohlwollend. Ein bisschen ist das noch wie im Zoo – man stellt sich vor, was sie wohl auf freier Wildbahn für Möglichkeiten hätten. Aber das tollste ist: Es passiert immer was. Selbstzerfleischung zum Beispiel, warum sollte das anders sein als bei allen anderen. Kleiderfragen. Irgendwas ist immer.

Zu den lachhaftesten Übungen in diesem Internet gehört für mich aber, wenn erstens irgendein gern schon leicht verkalkter Journalisten-Kollege von mir irgendwo behauptet, die Piratenpartei hätte keine Inhalte, und zweitens daraufhin mit Sicherheit irgendwelche übermotivierten Smartphone-Besitzer mit Twitter-Account und Loose Ties zur Landtagsfraktion der Piraten im Saarland darauf verweist, die Piraten in NRW hätten aber doch in einem Beschluss den permanenten Euro-Rettungsschirm abgelehnt. Aus meiner Sicht ist genau das kein Inhalt, weil es vollkommen irrelevant ist. Wer tatsächlich über den Euro-Rettungsschirm mitentscheiden will, der wird bei den Piraten noch für einige Zeit in der falschen Partei sein. Allerdings wollen sie, so wie ich das sehe, das komplette politische System ändern. Und wer behauptet, das wäre kein politischer Inhalt, der glaubt möglicherweise tatsächlich, im Internet gäbe es keinen Journalismus.

Allerdings verfestigt sich bei mir der Eindruck, die überragend dumme Einrichtung, dass Piraten sich oftmals erst wirklich zu einem Thema zu sprechen trauen, wenn ein Parteibeschluss vorliegt, fliegt der Partei in der Kommunikation gerade um die Ohren. Es bedeutet, dass sie die kommunikative Hoheit über ihre eigenen Inhalte verlieren – und Menschen wie mir überlassen, die dann hier mit dem Blick des interessierten Außenstehenden darüber reden können wie Bela Rethy über Fußball.

Aber weil ich immer noch auf die Formulierung dessen warte, was die Piraten tatsächlich ändern wollen (über den Popanz „Transparenz“ hinaus. Transparenz bedeutet doch in Wahrheit, Dinge öffentlich zu machen, damit irgendjemand sie überwacht und potenziell ändert. Das ist wichtig, aber keine politische Forderung einer Partei, sondern einer Bürgerinitiative, die nicht konkret werden muss), formuliere ich ins Vakuum hinein einmal, was ich mir an Forderung wünschen würde. Denn ich glaube, dass die Kommunikation, die politische Form, tatsächlich dringend einer revolutionären Erneuerung Bedarf.

In seinem ziemlich spannenden und einleuchtenden Buch Trial and Error: Warum nur Niederlagen zum Erfolg führen „>“Trial and Error – Warum nur Niederlagen zum Erfolg führen“ weist der englische Wirtschaftsjournalist Tim Harford nach, was wir alle heimlich immer schon geahnt haben: Hinterher ist man immer schlauer. Der klügste Weg ist also der, der einem die Möglichkeit gibt, an Erfahrungen zu wachsen.

Im modernen Management bedeutet das, man setzt nicht alle Ressourcen auf eine Lösung, sondern beginnt mit vielen und sortiert nach und nach die Wege aus, die nicht funktionieren. Denn in Wahrheit findet fast niemand auf fast kein Problem die Lösung allein im stillen Kämmerlein im Voraus. Was normalerweise nicht einmal verwerflich ist. Nur ein Spinner würde behaupten, er kenne die Antwort auf alles vorher. Oder jemand, der einer Ideologie anhängt. Also praktisch jeder Spitzenpolitiker. Denn wir haben es geschafft, unser politisches System in einer Art und Weise auszugestalten, bei der wir nur in einem einzigen Punkt sicher sein können: Lösungen für Probleme sind mit ihm praktisch unmöglich zu erreichen.

Denn Politiker – Ideologen – müssen per Definition im Voraus auf eine Lösung für ein bestimmtes Problem setzen. Demokratische Politik ist im Prinzip ein Wettstreit der Ideen. In der Theorie sollte dabei der jeweils beste Teil jeder Idee sich durchsetzen, oder zumindest für jede Klientel der wichtigste Teil. Der Kompromiss ist – im Gegensatz zur manchmal veröffentlichten Meinung –nicht das Abfallprodukt sondern das noble Ziel der demokratischen Auseinandersetzung. Theoretisch. In der Praxis sind Kompromisse in manchen modernen Demokratien kaum mehr möglich (Beispiel USA) oder das System ist pervertiert dahin, dass per Absprache jede an der Macht beteiligte Splittergruppierung ihren Unsinn durchbringen darf – und letztlich muss, wenn sie sich profilieren will. So enden wir damit, dass die übergroße Mehrheit des Landes sowohl die Mövenpick-Steuererleichterung für Hoteliers ablehnt als auch die Herdprämie, wir beides aber als Ergebnis von Kompromissen als Gesetze vorgesetzt bekommen. Der Irrsinn hat sich das System unterworfen.

Fehler zuzugeben, also einmal getroffene Entscheidungen als Probelauf zu verstehen und gegebenenfalls zu revidieren gehört zu den Übungen, die Politiker und ihre Wähler am schlechtesten können. Bis heute bringt es die CDU nicht fertig einfach zuzugeben, dass die Grünen in Bezug auf die Atomkraft schon immer recht hatten. Das gibt das System nicht her, das wir installiert haben, um unser Land zu regieren. Es dürfte schwer sein, eine Kindergarten zu finden, in dem sich albernere Strukturen manifestieren als rund um die höchste Macht in unserer Republik.

Man könnte argumentieren, im Ergebnis sei es ja noch immer gut gegangen. Die Bundesrepublik Deutschland ist mit diesem System seit Gründung gut gefahren. Bei allen systematischen Schwächen scheint sich der Wahnsinn dann doch immer irgendwie auszugleichen. Aber das ist kurz gedacht (wenn es denn stimmt, was zumindest ein Teil der Bevölkerung wahrscheinlich bestreiten könnte).

Denn die Zeiten haben sich geändert, sie sind „schneller“ geworden. Durch den rasant schnelleren Fluss von Informationen passieren Dinge in kürzerer Abfolge, und es ist keineswegs garantiert, dass unsere merkwürdige Art, zu Kompromissen zu kommen, darauf noch angemessen reagieren kann. Nehmen wir die Euro-Krise: Die Bundesregierung hat nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht einmal den Bundestag angemessen unterrichtet, von einer angemessenen Unterrichtung des deutschen Volkes samt einer notwendigen Willensbildung brauchen wir da nicht einmal zu träumen wagen – und trotzdem sind die Beschlusswege Europas noch zu langsam, um angemessen auf die Entwicklungen zu reagieren.

Als Beispiel: Die Krise ist längst in Deutschland angekommen. Die Produktion ist im Mai um mehr als zwei Prozent gesunken, Steffen Bogs von dem brillanten Wirtschaftsblog „Querschüsse“ hat gerade die Entdeckung öffentlich gemacht, dass die Rohstahlproduktion sogar um fast 10 Prozent zum Vorjahresmonat gesunken ist und entgegen dem globalen Trend überall in der EU sinkt (in Griechenland sinkt sie natürlich nicht, da kollabiert sie einfach). Aus Stahl, den wir diesen Monat nicht produzieren, bauen wir im nächsten Monat keine Autos und Maschinen, so dass man diese Zahlen als Ausblick verstehen darf auf die Größenordnung dessen, was da kommt. Sehr schnell kommt. Eigentlich ist es schon da. Haben wir aber den Eindruck, unsere Regierung hätte das bemerkt?

Noch immer fordert die deutsche Bundesregierung mit der (schwindenden) Unterstützung einiger weniger nordeuropäischer Staaten extreme „Strukturanpassungen“ in Südeuropa und setzt sie mit der „Troika“ aus EU, IWF und EZB auch durch. Die Maßnahmen erreichen erkennbar das Gegenteil dessen, das sie erreichen sollen. Die Schulden der Länder steigen, anstatt zu sinken – und das schlägt nun auch auf andere Länder wie Deutschland durch. In seinen eigenen Untersuchungen erkennt der IWF, dass pro Prozentpunkt Defizitreduktion in den Sparländern im Durchschnitt der Konsum um 0,75 und das BIP um 0,62 Prozent nachlässt. Einfach gesagt: Der Stahl, den Deutschland gerade weniger braucht, wäre bei besserer Konjunktur in Form eines Autos oder einer Maschine nach Südeuropa gegangen. So, wie es ist, schneiden wir nach einer Menge fremdem Fleisches längst auch in unser eigenes. Die Daten sind eindeutig. Aber es gibt offensichtlich in der Politik keine Möglichkeit, Daten, die der eigenen Ideologie widersprechen, so zu verarbeiten, dass sie zu verändertem Verhalten führen. Wenn Tim Harford in seinem Buch sagt, wir lernen nur durch Niederlagen, bedeutet das für unser System, ein Politiker ist nicht mehr lernfähig, sobald er einmal an der Macht ist (übrigens erklärt Wolfgang Münchau hier gewohnt gut, warum die Politiker nicht von selbst auf die vernünftige gesamteuropäische Lösung gekommen sind, sondern weiter in kleinen Ländereinheiten denken).

Ich weiß, seit Jahrzehnten träumt jede Organisation davon, eine lernfähige Organisation zu sein – und schafft es nicht. Aber Politik ist keine Organisation im Sinne eines Unternehmens. Politik ist ein Marktplatz, auf dem sich verschiedene Organisationen treffen. Wir wissen, dass die Lernfähigen unter ihnen erfolgreicher sind (Beispiel: Merkels Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Atomausstieg). Aber erstens definieren wir Erfolg in letzter Konsequenz immer noch als Wahlerfolg, als das Erreichen der Macht, und nicht als das durch die Macht erreichte – das wie wir ja gelernt haben nur durch Fehler, durch Lernen, durch regelmäßige Anpassung wirklich erreicht werden kann. Wir haben das ultimative Peter-Prinzip-System geschaffen: Wer hier an die Macht kommt, muss per Definition überfordert sein, weil er nicht mehr lernen darf.

Das ist das Feld, auf dem Politik sich reformieren muss, und zwar nicht nur in der Sphäre der Berufspolitiker, sondern genauso bei Berichterstattern, Ehrenamtlichen und Wählern: Im täglichen Geschäft gilt es, lernfähig zu werden und Lernkurven zuzugestehen. Die besten und erfolgreichsten unter den Staatsmännern waren es ohnehin immer, und auch von Angela Merkel sagt man ja, dass sie Entscheidungen erst trifft, wenn sie sich sicher ist, dass sie richtig sind. Aber unter den Bedingungen der der Gegenwart hat sie dazu eben nicht mehr die Zeit. Ihr Management der Euro-Krise ist so verheerend, weil selbst ihre richtigen Entscheidungen zu spät und damit meist automatisch auch zu schwach erfolgen (das zu recht kritisierte „zu spät zu wenig“). Ein neues System muss her, in dem Antworten ständig und sofort probiert, evaluiert und im Zweifel verworfen werden können, ohne dass es automatisch als Scheitern verstanden wird (das klingt natürlich gerade heute utopisch, wo mit dem Fiskalpakt ein verfassungsändernder Vertrag vereinbart wurde, der nicht nur zum Scheitern verurteilt sondern auch unumkehrbar ist, also das Gegenteil dessen, was ich hier gerade als vernünftigen Weg skizziere. Life is a bitch).

Diese Art neuer Kultur und demokratischer Verfahren, angepasst an die Geschwindigkeit der heutigen Prozesse, die Möglichkeiten der Kommunikation (es braucht hoffentlich immer weniger die eine, einfache „Bild, BamS und Glotze“-Wahrheit) und die entsprechende Offenheit des Verfahrens ruft nach einer Partei, die diese Demokratietechnik zu ihrem Inhalt macht, und so verstehe ich die Piraten von weitem, wohl wissend, dass ich die Piraten von Ferne immer noch zur Projektion von so ungefähr allem benutzen kann, weil sie selbst sich da noch nicht so festgelegt haben. Aber genau da sind wir wieder bei dem Thema: Sich festzulegen, auf welchem Weg genau die Änderungen erfolgreich zu vollziehen sind, wäre doch auch dämlich. Niemand kann es vorhersagen. Es geht darum, Wege zu finden, alle viel versprechenden Optionen auszuprobieren und auszusieben, welche funktionieren. Die Weisheit der Masse ist letztlich immer nur die Masse der unterschiedlichen Erfahrungen, und Erfahrungen muss man machen – manche sogar selbst.

Wie also würde ein lernfähiges System auf die Euro-Krise reagieren? Zum einen würde ein lernfähiges „System Politik“ ständig auf Realitäten reagieren. Bisher geht beispielsweise jedes Troika-Programm davon aus, dass man im Haushalt eines Landes sparen kann, ohne dass das BIP betroffen ist, obwohl die eigenen Untersuchungen das widerlegen. So gingen „Sparziele“ für Griechenland ursprünglich davon aus, dass im Jahr 2012 bereits ganz leichtes Wachstum einsetzen würde, während in der Realität die Wirtschaft (wie von jedem vernünftigen, nicht ideologisch völlig verblendeten Ökonomen vorhergesagt) katastrophal schrumpft. Ein wahrhaft lernfähiges System könnte das in Echtzeit begreifen und sein Verhalten entsprechend ändern. Es könnte vielleicht gleich mehrere Wege gleichzeitig probieren. Dazu gehört aber auch – Transparenz – die Erkenntnisse der eigenen Bevölkerung zu vermitteln. Auch das verlangt eine Abkehr von der der Ideologie, weil es nach der schändlich missbrauchten Logik der „schwäbischen Hausfrau“ eben nicht intuitiv verständlich ist, dass man spart und hinterher nur noch mehr Schulden hat. Und drittens gehört dazu natürlich, als eindeutig falsch erkanntes Verhalten abzustellen. Wie Atomkraftwerke. Und es dann auch zuzugeben.

Das sind Inhalte. Ich finde, sogar ganz gute. Und sie haben nichts mit File-Sharing und dem Urheberrecht zu tun und nur sehr mittelbar etwas mit dem Internet, dafür aber viel mit der Gegenwart. Die ist überhaupt so ein Thema, das sich auch für andere Parteien durchaus mal lohnen könnte.

Wir werden von Idioten regiert. Das verlangt das Gesetz

Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger hat gerade auf SpOn erklärt, warum ein Student, der das Spar-Programm der Troika als Antwort auf die Herausforderungen der Wirtschaft in Südeuropa (einem fiktiven G-Land, was immer das sein kann …) ankreuzt, bereits in einer Einführungsveranstaltung für Makroökonomie „in allen Universitäten der Welt“ mit „falsch“ bewertet würde.

Nun ist unsere Regierung gemeinsam mit der offenbar sedierten Opposition aus SPD und Grünen dabei, einen europäischen Fiskalpakt in Verfassungsrang zu heben, der erstens dieselben Typen, deren Programme schon von Erstsemestern als falsch erkannt werden müssen zu den Oberwächtern unseres Haushaltes macht, ihnen zweitens die Macht gibt, Strafen bis zu 0,1 Prozent unseres BIP zu verhängen, wenn ihnen die Art nicht gefällt, wie wir unser drittens zu hohes Defizit abbauen (aus Gründen, die irgendetwas mit Würfeln oder einer Runde Darts mit verbundenen Augen in einer Kneipe auf Beteigeuze zu tun haben müssen gilt ja eine Grenze von 60 Prozent im Verhältnis zum BIP, die wir sehr locker um mehr als 30 Prozent überbieten).

Zu zweitens: In Deutschland beträgt das BIP etwa 2 800 000 000 000 Euro (2,8 Billionen), ein Tausendstel davon sind immerhin 2,8 Milliarden Euro. Das ist schon auch Geld.

Selbstverständlich kann Deutschland aus diesem Vertrag jederzeit aussteigen, indem es mit verfassungsändernder Mehrheit aus der EU austritt. Da das Volk vorher nicht befragt wurde, wird also zumindest hinterher eine besonders aufregende Form der demokratischen Beteiligung angeboten: Ich nenne sie „Bürgerkrieg“. Ich glaube, das ist auch der offizielle Name.

Wir lassen also nicht nur zu, dass die EU offensichtlich in Theorie und Praxis nicht funktionierende Programme anwendet, die immer nur Sozialabbau bedeuten und den betroffenen Ländern nicht helfen, sondern sie im Gegenteil ins Elend stürzen: Wir machen es zum Gesetz, dass es so sein muss.

Schamlose Werbung für mein tolles neues elektrisches Buch!

Heute ist mein eBook „Hände weg von Griechenland“ in der Reihe Campus Keynotes erschienen. Ich finde das persönlich aus vier Gründen aufregend, von denen drei statthaft sind.

Hände weg von Griechenland Cover
Hände weg von Griechenland

Erstens, zweitens und drittens: Die Situation in der Krise in Griechenland ist verfahren, und das hat Auswirkungen weit über das kleine Land hinaus. Nicht deshalb, weil irgendetwas, das in der griechischen Wirtschaft oder der Wirtschaftspolitik passiert direkt schwer wiegende Auswirkungen auf Europa hätte. Das Land macht weniger als drei Prozent der Wirtschaftsleistung der EU aus, vergleichbar mit Hessen. Wenn Griechenland sich morgen in einen Frosch verwandeln würde, fühlte sich das für den Rest Europas an wie eine Rezession (außer für Waffenproduzenten. Aber wer hat Mitleid mit Waffenproduzenten?).

Die Auswirkungen sind andere: Der Umgang Europas mit der Krise zeigt den Umgang Europas mit dem gemeinsamen Projekt. Wenn Europa sich schlecht behandelt wird es ihm gehen wie einem Menschen, der seine Vereinbarungen mit sich selbst nicht einhält: er kollabiert oder er wird ein Arschloch. Er verliert seine Gesundheit oder seine Werte.

Tatsächlich verliert Griechenland gerade die Reste seiner ohnehin suboptimalen wirtschaftlichen Gesundheit und verfällt in elendes Siechtum. Und Kerneuropa, leider unter deutscher Führung, verordnet den Ländern in Sünd-Europa das exakte Gegenteil dessen, womit Deutschland „besser als andere durch die Krise gekommen ist“, wie auch die Kanzlerin nicht müde wird zu betonen. Deutschland handelt gegen wirtschaftliche Vernunft, zumindest dann, wenn man die Vernunft auf ganz Europa anwendet. Ein Gesamteuropa aus gleichberechtigten Partnern. In Griechenland, Portugal, Spanien und einer ganzen Reihe von anderen Ländern wird das verstanden als Zeichen dafür, dass die Länder Kerneuropas kein Europa der Partner wollen. Die griechische Krise, zu der ja eine ganze Reihe von teilweise bizarren, kriminellen oder zumindest widerlichen Fehlleistungen der Elite des Landes beigetragen haben, gibt den Regierungen Kerneuropas dabei fadenscheinige Vorwände. Die „faulen, korrupten Griechen“ halt. Das ist albern, aber es verfängt. Und all diese Dinge auseinander zu klamüsern braucht ein bisschen Platz – mehr jedenfalls, als selbst ich ihn mir in meinen notorisch zu langen Blogbeiträgen hier nehme.

Deshalb bin ich irre glücklich darüber, Teil dieses großen Versuchs zu sein, ob sich nicht ein neues Format findet, das ich „die spannenden drei Kapitel eines Sachbuchs“ nenne (mein Buch hat übrigens fünf Kapitel. Ich bin offensichtlich nicht gut darin, mir Namen auszudenken). Diese Form der überlangen Reportage, „für den New Yorker zu lang und für ein Buch zu kurz“ finde ich ausprobierenswert. Ich habe keine Ahnung, ob das Format jemand außer mir lesen will. Ich mache es manchmal, aber ich halte auch eine perfekte Angelstelle für eine, an der außer mir keine Angler sind – obwohl ich weiß, dass das der Grund ist, warum ich praktisch nie einen Fisch fange. Soll heißen: Ich sehe ein, dass ich manche Dinge tue, die andere so nicht tun. Wo war ich? Ach ja: Experiment. Gute Sache. Ich bin dabei.

Und drittens habe auch ich immer noch keine Lösung für diese Urheberrechtsfrage. Ich weiß, dass mein eBook wie jedes andere kopiert und weitergegeben werden kann, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Und ich fände das einerseits nicht in Ordnung, weil das Schreiben meine Arbeit ist und ich prinzipiell finde, das Arbeit bezahlt gehört. Ich bin hier in einer doppelt komfortablen Situation, weil ich erstens dieses Buch nebenbei nachts geschrieben habe (und so lang ist es ja nicht), also nicht davon leben muss, und mich zweitens ja ehrlich über die Verbreitung der Botschaft freue. Sie ist mir ungleich viel wichtiger, als Geld damit zu verdienen (ich spreche auch auf Veranstaltungen zum Thema, ohne Geld dafür zu bekommen). Da das alles für mich ohnehin ein unplanbares Experiment ist, habe ich auch nicht geplant, Geld damit zu verdienen. Ich freue mich ehrlich über jeden einzelnen Leser, wo und wie auch immer er gelesen hat.

Aber um es noch einmal deutlich zu sagen: Ich finde, wer ein Buch schreibt, sollte bezahlt werden. Ein Verlag, der in diesem Fall mit der Idee an mich herangetreten ist, das Buch wunderbar lektoriert hat und nun Vertrieb, Werbung und alles mögliche dafür übernimmt, sollte damit Geld verdienen können. Und mein Agent Alexander Simon, der dafür sorgt, dass ich mich nicht durch Verträge quälen muss, die ich nicht verstehe und mit denen ich nichts zu tun haben will, sollte Geld mit mir verdienen können. Ich bin jetzt Teil dieser Debatte und freue mich drauf, weil ich glaube, dass wir Lösungen brauchen.

Viertens – jetzt kommt etwas dummes – war ich heute morgen einigermaßen geplättet, als ich feststellte, dass ich als Gründungsmitglied der Reihe Campus Keynotes quasi zum ersten und sicher einzigen Mal in einer Reihe mit Paul Krugman stehe, den ich sehr verehre. Das ist natürlich albern, aber es macht mir genau gleich viel Angst wie Freude, und das ist ein tolles Gefühl. Es erinnert mich an den einzigen Fallschirmsprung, den ich je gemacht habe. Mannmann, ich werde echt alt.

PS. Rechts oben kann man mein Buch gleich bei Amazon bestellen, und wenn man es über diesen Knopf macht, kriege ich – wenn ich die AGBs richtig verstanden habe – nochmal ein paar Cents mehr! Hallo!

Liebe Piraten, wie mache ich das jetzt mit meinem Ebook?

Ich schleppe seit einiger Zeit eine Mischung aus Unwohlsein und Freude über die breite Diskussion um die Piraten mit mir herum, und im Moment kumuliert sie in meinem Kopf zu einem Haufen, den ich gerne abtragen würde. Das hat drei Gründe:

Zum ersten bin ich selbst politisch auf einer hyperlokalen Ebene aktiv – im SPD-Distrikt (der Hamburger Name für „Ortsverein“) Altona-Altstadt – und freue mich gleich dreifach über die Piraten. Sie schaffen es offensichtlich, Nichtwähler wieder für Politik zu interessieren, sie reißen Diskussionsfelder auf, die von vielen langjährigen Mitgliedern der anderen Parteien oft gar nicht als solche verstanden werden (nämlich den Unmut mit der Parteiendemokratie selbst) und sie haben es geschafft, dass in den Diskussionen um Netzfreiheit, Urheberrechte und andere Aspekte der neuen digitalen Öffentlichkeit eine weitere, gewichtige Stimme teilnimmt. Ich freue mich also, dass es die Piraten gibt und darüber, dass sie etwas sagen. Allerdings lässt mich das, was sie sagen und was sie nicht sagen, meist vollkommen ratlos zurück.

Das liegt daran, dass sie zu den Fragen, die sich mir aktuell stellen, entweder nichts zu sagen haben oder es gut verstecken. Dabei sind Fragen dabei, auf die sie Antworten geben können sollten.

Ich habe ein kleines Buch geschrieben, natürlich über Griechenland. Es wird als Ebook erscheinen, (übrigens unter dem Titel „Hände weg von Griechenland“) in einer Reihe von kurzen Ebooks zu Sachthemen. Ich werde dafür hier noch ausgiebig werben, aber für mich war das Besondere eben, dass es in Zukunft möglicherweise einen Markt gibt für Sachbücher, die nur ein Drittel bis die Hälfte eines „normalen“ Buches lang sind. Ich habe viel zu oft Bücher gelesen, die gut angefangen haben, und beim fünften Kapitel stellte man fest, dass die Idee des Autors nur für vier Kapitel gereicht hat. Aber bisher musste man als Autor dann eben noch so viel Zeug dazuschreiben, bis es sich gelohnt hat, das ganze Ding zwischen Buchdeckel zu packen. Ich hoffe, das ist in Zukunft anders. Aber meine Frage ist: Die Piraten fordern, ich solle das „nichtkommerzielle“ kopieren meines Werkes als natürlich betrachten und mir andere Geschäftsmodelle suchen, als das Buch einfach zu verkaufen. Ich zitiere aus den Zielen auf der Webseite der Partei:

Wir sind der Überzeugung, dass die nichtkommerzielle Vervielfältigung und Nutzung von Werken als natürlich betrachtet werden sollte und die Interessen der Urheber entgegen anders lautender Behauptungen von bestimmten Interessengruppen nicht negativ tangiert. Es konnte in der Vergangenheit kein solcher Zusammenhang schlüssig belegt werden. In der Tat existiert eine Vielzahl von innovativen Geschäftskonzepten, welche die freie Verfügbarkeit bewusst zu ihrem Vorteil nutzen und Urheber unabhängiger von bestehenden Marktstrukturen machen können.

Das lässt mich einigermaßen ratlos zurück. Nochmal, ich bin eigentlich eine Art Sympathisant. Mir liegt viel an der ständigen Weiterentwicklung der Demokratie und der gesellschaftlichen Teilhabe. Ich habe sogar den Eindruck, ich trage meinen Teil dazu bei. Ich finde die Behauptung, es herrsche „im Internet“ eine „Kostenlos-Kultur“ falsch und albern. Aber nachdem die Piraten in Deutschland und überall sonst, wo es sie gibt, seit Jahren diese Diskussion führen, ist das der Stand ihrer Forderungen? Ihre Forderung ist, ich soll mir gefälligst was Neues ausdenken?

Nicht ganz. In den Politik-FAQ findet man noch das hier:

Wie sollen die Künstler dann an ihr Geld kommen? – Die müssen ja auch irgendwie leben.

Unter anderem wird die Idee der „Kulturflatrate“ diskutiert. Zusätzlich bieten Konzerte, Fanartikel, Spenden und staatliche Kunstförderung weitere Einnahmemöglichkeiten. Auch andere Modelle werden hier diskutiert.
Die Schallplatte kostete in den 80ern 18 DM, die CD kostete in den 90ern 29,90 DM, heute kostet ein Lied 99 ct. Im gleichen Zeitraum sind die Vervielfältigungskosten hingegen exorbitant gesunken.

Das ist es, was ihnen bisher eingefallen ist? Und was mache ich jetzt? Ich hätte an diesem Punkt längst zwei Dutzend konkrete, miteinander konkurrierende Ideen in der Diskussion erwartet. Bei einem Thema, das offensichtlich ein Kernthema dieser (in Schweden) 2006 gegründeten Partei ist? Das ist echt wenig!

Ich weiß, es steht die Forderung im Raum, einen Runden Tisch mit Urhebern, Verwertern usw. einzuberufen, der Ideen entwickeln soll. Aber hier, ganz konkret in meinem Fall als Urheber bin ich schockiert, wie wenig konkret die Vorschläge bisher sind. Und das ist erst der Anfang.

In meinem Buch geht es um die Frage, ob unter dem Deckmantel der Krise nicht eigentlich die europäische Demokratie abgeschafft wird. In Griechenland ist es so weit, dass die Bürger durch Wahlen keinen Einfluss mehr auf die Politik haben, weil sich die Politiker längst in Verträgen auf eine bestimmte Politik haben verpflichten lassen. Die Gründe dafür sind wirtschaftliche (d.h., Banken, die auf ihr Geld warten). Das ist die Abschaffung von Demokratie, und sie wird von den Regierungen der starken Nationen in Europa gefördert und gefordert. Eine gefährliche Entwicklung. Zu den Piraten findet sich dazu natürlich nichts, wie überhaupt zur Eurokrise, wie überhaupt zu Europa. Ich frage mich, wie lange man sich als junge Partei Zeit nehmen kann oder sogar muss, bis man eine Meinung dazu hat? Die Piraten haben immerhin zwei schwedische Abgeordnete im Europaparlament sitzen.

Und ist es nicht eigentlich so, dass man als tiefenvernetzte Piratenpartei viel schneller die Meinungen der Mitglieder zu einer Parteilinie zusammenfassen kann? Warum dauert es bei den Piraten dann so lang, bis sie mal ein konkretes politisches Ziel benennen? Würde eine politische Festlegung, was man eigentlich im Einzelnen zu Themen denkt nicht auch die unsäglichen Nazidiskussionen ein für alle Mal beenden? Ich glaube nämlich kein bisschen, dass die Partei irgendwo rechtsradikal ist, aber man müsste sich da mal drauf einigen, damit die versprengten Rechtsradikalen austreten oder rausgeworfen werden können. Auf der anderen Seite: Mein unangenehmer Eindruck ist, dass die Freiheit der Piraten bisher auch die Freiheit einschließt, sich für alles gleichzeitig oder entsprechend für gar nichts zu entscheiden. Und „alles gleichzeitig“ schließt eben auch rechtsradikales mit ein. Gar nichts schließt gar nichts aus. Jede Entscheidung für etwas ist schließlich auch eine Entscheidung gegen alles andere, vor allem in der Politik, wo die Abstimmung über einen Antrag letztlich das Werkzeug ist, und Zustimmung oder Ablehnung die einzig möglichen Antworten, auch wenn das unerträglich brutal wirkt angesichts von Diskussionen, innerlichen und äußeren, die in Wahrheit 51 zu 49 stehen und kaum guten Gewissens mit ja oder nein entschieden werden können. Am Ende muss abgestimmt werden. Willkommen im wahren Leben.

Aber das sind offensichtlich die konkreten Probleme einer Partei, die in Wahrheit in ihrer Entwicklung weit hinter ihrem Erfolg zurückbleibt (zum Teil aus meiner Sicht eben gerade auch deshalb, weil sie so unkonkret ist ist und deshalb so viel Fantasie zulässt. Die Piraten sind für jeden das, was er denkt, dass sie es sind) und noch lange nicht im Parteisein angekommen ist. Das wird sich irgendwann alles finden. Wenn wir uns also für einen Augenblick vorstellen, die Partei würde diese Phase relativ gut überstehen und irgendwann tatsächlich Grundsätzliches zur Politik des Landes und Europas beisteuern können. Den Grundsatz der Transparenz zum Beispiel. Wäre größere Transparenz nicht ein riesiger Fortschritt für Europa?

Ich bin sicher, das instinktiv erst einmal jeder zustimmen würde, dass mehr Transparenz für die Politik und für Europa eine gute Sache wäre. Und bei der ersten Nachfrage, in welchem Bereich eigentlich, kämen die meisten von uns ins Straucheln. Was genau ist eigentlich intransparent in Europa? In Deutschland? In der Politik? Wer von uns bekommt eigentlich welche Information nicht? Oder ist es nicht so, dass uns die meisten Informationen einfach gar nicht interessieren? Auf meiner hyperlokalen Ebene der Politik ist es so: Das Problem der Verwaltung eines Bezirks wie Hamburg-Altona (mit 250.000 Einwohnern) ist oft weniger, dass Informationen nicht herausgegeben werden. Es ist eher so, dass zu den allermeisten öffentlichen Veranstaltungen kaum jemand kommt, dass die öffentlichen Papiere on- wie offline praktisch niemand liest und dass es echtes Interesse erst sehr spät im Prozess gibt, wenn die wichtigsten Entscheidungen längst getroffen sind. Das ist verständlich: Wer will sich endlose Anhörungen antun zu Bauvorhaben, die erst in zehn Jahren einmal fertig sein werden? Wer will all die öffentlichen Ankündigungen lesen einfach nur deshalb, weil möglicherweise irgendwann irgendwo etwas dabei ist, mit dem man zutiefst unzufrieden wäre? Transparenz an sich ist sicher richtig, aber wertvoll wird sie ja erst, wenn sie tatsächlich jemand nutzt und all das überprüft, das da transparent gemacht wird.

Das, was die Piraten aus meiner Sicht sein könnten ist also Anstoß geben zu einer neuen Kultur des Teilnehmens an politischen Prozessen. Ein neuer Anlauf in Demokratie, der Versuch, die „etablierten Parteien“ ein Stück weit aus den eingefahrenen Bahnen zu befreien. Das ist der Teil, den ich uneingeschränkt begrüße. Bizarrerweise finde ich die aus meiner Sicht großartigsten Vertreter dieser Kultur allerdings bunt gemischt überall, bisher wegen der kurzen Biografie der Partei natürlich am wenigsten auffällig bei den Piraten. Ich erlebe Menschen, die Jahre und Jahrzehnte lang in Gremien wie dem Ausschuss für Umwelt, Gesundheit und Naturschutz der Bezirksversammlung Altona sitzen und einen guten Job machen, für den sie weder Ruhm noch Anerkennung ernten (aber für drei Stunden plus Vorbereitung gerade mal 21 Euro Aufwandsentschädigung). Es gibt sie unter der Flagge jeder etablierten Partei und auch als Parteilose. Sie sind diejenigen, die tatsächlich mitbekommen, was passiert – weil sie da sind. Sie sind diejenigen, die Transparenz erst wertvoll machen. Sie sind die, die das Versprechen der Piraten wahrmachen. Und sie sind gleichzeitig die, gegen die die Piraten ihre Erfolge einfahren und gegen die sie auch Stimmung machen, nämlich „die Politik“.

In Wahrheit glaube ich, dass die Piraten im Verlaufe ihrer Parteiwerdung ihren Appeal verlieren werden. Und angesichts der Vielfalt von politischer Meinung, die im Moment noch innerhalb der Piraten vertreten wird, angesichts der Tatsache, dass sich dort offenbar bis nach weit rechts verschiedenste Gesinnungen tummeln, bin ich mir auch nicht sicher, ob sich das Projekt als Partei tatsächlich schlau konstituiert hat. Ich glaube, in Wahrheit braucht es für die drei Kernforderungen Transparenz, Teilhabe und eine zeitgemäße Umsetzung von Rechten in der digitalen Welt wahrscheinlich nicht eine Partei, sondern alle. Piraten in allen Parteien sozusagen. Für mich sind die Piraten, wenn ich ehrlich bin, eher eine kulturelle Strömung als eine politische, und so lange sie sich politisch nicht festlegen lassen wollen, so lange sie zu Europa nichts und selbst zum Urheberrecht nichts wirklich zielführendes zu sagen haben, wird das so bleiben. Wenn von den Piraten ein formulierter Vorschlag für neue Urheberrechtsgesetze kommt, wird man sehen, wie weit die Ideen in der Realität tragen.

Ich kann nicht sagen, was danach kommt. Ich halte es nicht einmal für sicher, dass danach etwas kommt. Aber ich hoffe ehrlich, dass die Kultur bleibt und Einzug findet in die Arbeit derjenigen, die sie machen, Piraten oder nicht. Denn selbst wenn man die rechten Spinner und diejenigen abzieht, die nur mal spaßig auf der Erfolgswelle mitschwimmen wollen, sollten da immer noch tausende Piraten, die ernsthaft um eine bessere Demokratie bemüht sind. Ich hoffe, sie bleiben dabei. Auch wenn das zwangsläufig irgendwann heißt, ehrenamtlich elend lange Sitzungen in eher nicht spaßorientierten Ausschüssen hinter sich zu bringen. Wenn dem aber auch nur ansatzweise so sein sollte, dann hätten die Piraten als einzige den Trend zu immer weniger politischer Beteiligung gebrochen, und allein diese Aussicht muss es wert sein, dass die anderen Parteien sie mit offenen Armen willkommen heißen.

Ich hätte aber trotzdem gerne Geld für mein Buch. Das war echt Arbeit.

Die Worte. Der Ton.

Es gibt viele Gründe zum Heulen, wenn es um Griechenland geht. Ich habe gestern erst den ein paar Tage alten Abschiedsbrief eines Mannes von der Insel gelesen, von der die Familie meines Vaters stammt.

Ohne Arbeit, ohne Rente, ohne Zukunft für meine Kinder (unsere Kinder). […] Sie sind klein und ohne Vater. Ich habe die schönste Familie, aber mit meinen Fehlern habe ich sie zerstört.

Dann setzte er sich in ein Boot, fuhr hinüber auf eine kleine, unbewohnte Insel und machte seinem Leben ein Ende. Die Kinder müssen seine Grundstücke als Erbe ausschlagen, weil sie sich die Steuern nicht leisten können. Was soll man sagen?

Niemand will, dass das passiert. Kein Mensch, auch keiner von denen, die der Meinung sind, es sollte keine weiteren „Rettungspakete“ für Griechenland geben. Ich spreche oft und viel über diese Krise, mit Menschen, deren Solidarität mit Griechenland unerschöpflich ist genauso wie mit solchen, die glauben, „die Griechen“ wären an allem selber schuld und die Krise praktisch die Strafe für ihre Sünden. Aber selbst die wollen nicht, dass Menschen Hunger leiden; dass sie ihre Kinder weggeben müssen, weil sie sie nicht mehr ernähren können; dass sie sich umbringen vor Scham, Angst und Not. Niemand will das.

Aber die Botschaften, die über so lange Zeit gesendet wurden – die Beleidigungen in Bild, Focus, und Stern, die Bundestags-Hinterbänkler, die sich auf Kosten der Griechen wie der Wahrheit zu „Finanzexperten“ ihrer Parteien hinaufgespielt haben, bis hin zu den manchmal bizarr unreflektierten Aussagen von Regierungsmitgliedern (und das alles übrigens lange, lange Zeit bevor in Griechenland irgendein Demonstrant ein Hakenkreuz auf irgendetwas gemalt hat, es ist kein Wechselspiel, es hatte einen Anfang) – all diese Signale, das diplomatische Versagen, führt heute dazu, dass selbst echte Hilfe und echte Solidarität nicht ankommen.

Populisten in Griechenland bekommen heute Beifall für Sätze wie „Merkel ist es egal, wenn in Griechenland drei Millionen Rentner verhungern“. Und natürlich ist das unangemessen und infam, und das muss ich auch als Verteidiger Griechenlands feststellen. Aber schlimmer ist, dass selbst vernünftige Vorschläge wie eine deutsche Hilfe beim Aufbau einer funktionierenden Steuerverwaltung allein deshalb auf Widerstand stoßen, weil sie bedeuten würden, dass deutsche Beamte in Griechenland Dienst tun würden – als Berater selbstverständlich, aber eben als deutsche Beamte.

In Deutschland ständen 160 Beamte bereit, die freiwillig beim Aufbau in Griechenland helfen wollen. In Griechenland protestiert dagegen die Gewerkschaft der Steuerbeamten. Aus ihrer Sicht sicher zu recht, denn ihren Mitgliedern drohen Lohneinbußen (sie verdienen heute sehr gut) und Jobverlust, sie müssen sich deutlich fortbilden und einige, wenn nicht viele von ihnen, verlieren Geld, das sie noch irgendwie nebenbei machen, durch Korruption oder dadurch, dass sie schwarz nebenbei Leuten die Steuererklärung machen. Diese Reform ist sicher schwieriger als die bereits weit und auch erfolgreich umgesetzten z.B. bei Rente und Arbeitsmarkt, aber ohne jeden Zweifel ist sie notwendig. Sie ist ein wichtiger Teil des Weges zu einem neuen Griechenland. Und jede Hilfe sollte willkommen sein.

Wie schön wäre es, wenn die deutsche Solidarität in Griechenland glaubwürdig wäre. Wenn man den Worten glaubt, dann will die deutsche Regierung genau das, was die Demonstranten vor dem griechischen Parlament auch wollen: einen funktionierenden, transparenten, tragfähigen Staat. Deutschland könnte hier auf der richtigen Seite stehen. Aber in der Mischung aus BILD und Frank Schäffler, in der allgemeinen Hetzkampagne ist nicht nur die Fähigkeit verloren gegangen, Richtiges und Falsches, Wichtiges und Nichtiges zu unterscheiden, sondern überhaupt die Fähigkeit, so zu reden, dass man verstanden werden kann.

„Greek statistics & german diplomacy“, griechische Statistiken und deutsche Diplomatie sind zwei geflügelte Worte in der EU-Kommission in Brüssel. Beides gibt es nach Meinung der Diplomaten dort eigentlich nicht. Wenn sie zusammentreffen, muss das in der Katastrophe enden.

Ohne Zukunft für meine Kinder (unsere Kinder).

Wie gesagt, keiner in Deutschland will das. Ich glaube, es würde einen gewaltigen Unterschied bedeuten, wenn Deutschland auch noch einen Weg fände, das so zu sagen, dass es verstanden werden kann.

The (Chicago) Boys Are Back In Town

Das Haushaltsrecht wird auch das „Königsrecht“ des Parlaments genannt. Wer fordert, es abzuschaffen, der fordert im Prinzip die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie. Aber wer würde das tun? Nun ja, unsere Regierungskoalition zum Beispiel. Nicht hier, aber in Griechenland, und damit in der Folge wohl in jedem Euro-Staat der Peripherie, der sich nicht an Spardiktate halten will oder kann. Die deutsche Bundesregierung fordert, dass die Einnahmen des griechischen Staates auf ein Sonderkonto eingezahlt werden, damit griechische Politiker nicht mehr darüber verfügen können, sondern EU-Beamte, die nie ein Grieche (oder sonst ein Europäer) gewählt hat. Dieser Vorschlag löst nicht einmal einen Aufschrei des Entsetzens unter den Demokraten in diesem Land aus. Und das ist ein Fehler, der sich rächen wird.

Nur, um es einmal nüchtern festzuhalten: Die griechische Bevölkerung schultert seit mehr als einem Jahr das härteste Sparprogramm, das je eine westliche Nation stemmen musste – für große Teile der Bevölkerung bedeutet es schlicht und einfach eine rapide Verarmung. Ich saß vor einiger Zeit in einer Diskussionsrunde mit der deutschen Arbeitsministerin, die zur Größenordnung des Pakets sagte, wenn man es in Deutschland durchsetzen wollte würde „die Straße brennen“. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung vor allem in Deutschland schultert die griechische Bevölkerung diese „Pakete“ bisher allein – die „Rettungsschirme“ sind durch Kredite und Bürgschaften unterlegt, deren Zinsen und Gebühren bisher alle pünktlich bedient wurden (im Moment ist der Saldo so, dass Griechenland einige hundert Millionen Euro an Deutschland bezahlt hat). Gleichzeitig funktioniert dieses Sparpaket nicht: die griechische Staatsverschuldung ist dadurch im Gegenteil so weit gestiegen, dass ein Stand von 120 Prozent im Verhältnis zum griechischen BIP im Jahr 2020 als wünschenswertes aber unrealistisches Ziel gilt – also ziemlich exakt der Schuldenstand, den Griechenland vor dieser Krise hatte. Das Sparpaket wird durchgesetzt von einer Regierung, die so nie vom griechischen Volk gewählt worden ist und das angeleitet wird von Mächten wie der Troika, die erst recht niemand in Griechenland oder im Rest von Europa gewählt hat. Der neueste Vorschlag dieser Mächte ist eben jenes durch „Sonderkonto“ das Haushaltsrecht. Ein griechischer Bürger hat also im Moment de facto keinerlei Einflussmöglichkeit mehr auf die Politik, die in seinem Land gemacht wird. Egal wie man es dreht und wendet, auch unabhängig von jeder Begründung – über die wir gleich noch reden werden – ist das die Abschaffung der Demokratie.

Die europäische Politik – und hier wieder hervorgehoben die deutsche bei besonderer Hervorhebung der Regierungs-Randparteien FDP und CSU – begleitet dabei alle Geschehnisse in Griechenland mit ständigen Hinweisen auf den „mangelnden Reformwillen“ der griechischen Politiker. Noch einmal: begleitend zu den härtesten Einsparungen, die je eine westliche Nation gestemmt hat. Aussagekräftiger als diese Aussagen ist dabei wahrscheinlich, was diese Politiker nicht sagen: nämlich, was sie damit meinen.

Die Reformen sind im Kern Liberalisierung und Privatisierung von öffentlichen Betrieben und Staatseigentum, hinzu kommen Entflechtung und Entbürokratisierung, die auch von der griechischen Bevölkerung schon lange gefordert werden. Aber gucken wir uns das an einem Beispiel an.

Es gibt in Griechenland das Relikt der „geschützten Berufe“, zum Beispiel die Lastwagenfahrer. Wer ein Transportunternehmen betreiben wollte, musste zu seinem Lastwagen auch eine Lizenz erwerben, und die Zahl dieser Lizenzen ist seit 1971 unverändert. Das hat denjenigen, die so eine Lizenz haben, ein sicheres Einkommen beschert, aber auch innergriechische Transporte aufgrund der mangelnden Konkurrenz extrem verteuert. Mit anderen Worten: diese Lizenzen sind wertvoll. Sie werden vererbt oder weiterverkauft und kosten offenbar bis zu 300.000 Euro. Im Zuge der geforderten Reformen soll und muss diese Praxis geändert werden, sie ist nicht tragfähig. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ein Mensch, der eine solche Lizenz erworben hat, in ihr in der Regel seine komplette Altersversorgung hat. Sie ist sein Vermögen, und sie ihm wegzunehmen ist eine Enteignung. Es erscheint unausweichlich, dass diese Enteignungen stattfinden müssen – aber in einem demokratischen Rechtsstaat steht ihm trotz allem der Weg durch die Gerichte zu, und er hat möglicherweise Anrecht auf eine Entschädigung. Das bedeutet nicht, dass die Reform nicht stattfinden kann. Aber es schließt aus, dass diese Reform so schnell geht, wie ein Herr Söder von der CSU (und diesen Namen kann man durch eine bald unendlich große Zahl an weiteren politischen Sprücheklopfern ersetzen) sich das vorstellt. Auch hier gilt: Was die Lautsprecher fordern ist nicht weniger als die Abschaffung des Rechtsstaates in einem anderen Land, ohne dass dessen Volk dabei ein Mitspracherecht zugestanden wird. Es ist die Abschaffung der Demokratie.

Bei der Wahl zum „Unwort des Jahres“ – zu dem zu recht „Döner-Morde“ gewählt wurde – erhielt ein Satz von Angela Merkel eine besondere Erwähnung, die gefordert hatte, unsere Demokratie müsse „marktkonform“ sein. Unser Grundgesetz regelt eher das Gegenteil, nämlich dass die Märkte demokratiekonform und dem Primat der Politik unterworfen sind, aber Merkels wie auch immer gewonnene Überzeugung ist offensichtlich eine andere. Und mit jedem Tag verfestigt sich der Eindruck, Griechenland – das sie am liebsten von einem externen Sparkommissar regiert sehen würde anstelle einer demokratisch gewählten Regierung – solle zu einer Art Testlauf für die marktkonforme Neuorganisation schwächerer Volkswirtschaften dienen. Man muss sich heute schon Mühe geben, um noch Unterschiede zwischen den aktuellen Ereignissen in Griechenland und der „Schockbehandlung“ Chiles durch die so genannten „Chicago Boys“ in den Siebzigerjahren zu erkennen. Beiden gemeinsam ist: Ihr Programm ist nicht demokratiekonform.

Gegen die Krise des Euro wirkt das Programm ohnehin nicht, weil es die Wurzel des Problems verleugnet. Dass der griechische Staat eindeutig reformbedürftig ist dient als einfache Projektionsfläche für das Märchen, überbordende Staatsverschuldung hätte die Krise verursacht. Das hat sie nicht, und nicht einmal Banker behaupten das. Dass Griechenland so in den Fokus gerutscht ist, ist der glückliche Zufall, den die Banken brauchten, um die Politik so lange vor sich her treiben zu können, bis alle Verluste auf Steuerzahler abgewälzt sind – auch in Ländern wie Spanien und Irland, deren Staaten vorbildlich gewirtschaftet haben und nur durch Spekulationsblasen unter die „Rettungsschirme“ getrieben wurden – die ja keinen anderen Inhalt haben, als Banken ihre Gewinne notfalls durch Steuergelder zu garantieren. Die Probleme im griechischen Staatswesen werden also erstens nicht so schnell zu lösen sein, wie die Söders sich das vorstellen (oder es sich wenigstens vorzustellen behaupten, um mal auf den Pudding hauen zu können), sondern viele Jahre brauchen – und haben ohnehin mit der aktuellen Krise wenig bis nichts zu tun. Aber das schlimmste ist: Selbst wenn sie allein Schuld wären, rechtfertigte das nicht die Abschaffung der Demokratie, wie wir sie hier erleben. So weichgeklopft durch die Fabelgeschichten der Presse, dass nicht einmal mehr ein Aufschrei durch das Land geht, wenn unsere Politiker die Abschaffung von Grundrechten fordern – das ist nicht nur eine Schande, es ist auch gefährlich. Für uns alle.

Ich krieg die (Rechnung für die) Krise

Im Prinzip ist die Vorstellung nur folgerichtig, dass Griechenland unter die Aufsicht verantwortungsbewussterer Völker gestellt werden sollte – jedenfalls dann, wenn man die Berichterstattung zum Thema glauben wollte. Und Angela Merkel hat sich sehenden Auges in die Situation gebracht, dass sie ihrem Wahlvolk eine Politik verkaufen muss, die mit der Realität wenig gemein hat, weil sie bis heute die Aufgabe scheut, die Probleme der Euro-Zone richtig zu erklären. Das hat absurde Folgen: Weil die wahren Hintergründe – die Konstruktionsfehler des Euro – nicht erklärt wurden, kann die wahre Krise auch nicht bekämpft werden, und gleichzeitig müssen die Staatschefs, die sich zu immer neuen Gipfeln treffen, jedesmal vorspielen, sie glaubten tatsächlich an die erreichten Kompromisse, bis sie ein paar Tage später wieder zerrieben sind.

Dabei sprechen die Fachleute die Wahrheit ganz gelassen aus. In der FAZ antwortet der Chefvolkswirt von Goldman Sachs Jan Hatzius trocken auf die Frage:

Was haben wir aus Ihrer Sicht für eine Krise?

Eine der Zahlungsbilanz, die wesentlich aus dem Aufbau privater Schulden resultierte und die über private Kapitalzuflüsse in die Euro-Peripherie finanziert wurde.

Denn das ist der Kern. In einer Währungsunion mit großen Produktivitätsunterschieden, wo beispielsweise Deutschland bei 125 des Mittelwertes liegt und Griechenland bei 85 Prozent – und das sind noch nicht einmal die extremsten Werte nach oben und unten – verschieben sich die Leistungsbilanzen. Das Geld, das aus den weniger produktiven ab- und in die produktiveren fließt muss irgendwo hin, und wie wir wissen ist es zum Beispiel in Deutschland nicht in Löhne geflossen, sondern als Investition wieder zurück in die europäische Peripherie – in Immobilien in Spanien oder in griechische Staatsanleihen. In Finanzprodukte. Hans-Werner Sinn, der mich so sehr nervt, dass ich gerade keine Lust habe das genaue Zitat rauszusuchen, nennt das sinngemäß „Porsche Cayenne gegen Schuldverschreibungen verkaufen“ – und es funktioniert nur, weil die Institute, die all diese „Finanzprodukte“ verkaufen, das Risiko auf die Steuerzahler abwälzen. Die Arbeitnehmer bezahlen, wenn etwas schiefgeht, im Moment in Spanien, Griechenland, Irland und Portugal, aber spätestens mit der unausweichlichen griechischen Umschuldung auch in Deutschland. Die Politik baut Rettungspakete für die Banken, während die griechischen Staatsschulden trotz aller so genannten „Hilfen“ nur weiter steigen. Wenn diese Krise durch Staatsverschuldung ausgelöst wäre, müsste Spanien besser dastehen als Deutschland, weil der spanische Staat besser gewirtschaftet hat als der deutsche. Aber darum geht es eben nicht. Deshalb ist die Krise auch durch Konsolidierung nicht zu lösen (unbenommen der Tatsache, dass im griechischen Staatswesen sehr viel schief gelaufen ist und noch läuft, aber das ist eben ein anderes Problem).

Die bizarre Leistung der Kanzlerin ist, dass sie es geschafft hat zu verschweigen, dass die Grenzen dabei nicht zwischen Ländern verlaufen, wie es in der Diskussion um „die Griechen“ (aber letztlich genauso um Spanien und Italien) glauben macht. Sie verlaufen zwischen oben und unten, zwischen Zinszahlern und Zinsempfängern – und die Nationalstaaten samt ihrer Regierungen sind vor allem willfährige Helfer beim Sichern der Gewinne.

An der Fehlkonstruktion des Euro ändert all das nichts. Kein Rettungspaket macht auch nur kleine Schritte in die richtige Richtung. Aber um die Illusion aufrecht zu erhalten, werden Sparpakete installiert, die dazu führen, dass mitten in Europa Menschen ohne Heizung der Winterkälte trotzen müssen, weil das Heizöl so teuer geworden ist. Es ist eine Schande. Und ein „Sparkommissar“ ist das letzte, was es in dieser Situation noch braucht.

Bleibt alles anders

Nun ist das Referendum wieder abgesagt. Es waren ziemlich irre Tage in Athen, und ich habe ja meine persönliche Präferenz ziemlich deutlich gemacht: Ich hätte es richtig, wichtig und gut gefunden, wenn endlich die einmal hätten abstimmen dürfen, die die Last tatsächlich tragen. Denn bisher haben unter anderem wir deutschen Steuerzahler zwar großzügig gebürgt und geliehen, tatsächlich bezahlt haben aber bis zu diesem Moment nur die griechischen Arbeitnehmer – darunter auch hunderte Millionen Euro an Deutschland –, und das bitterlich. Die Bevölkerung verarmt, während es den Reichen, den Banken und jenen in der politischen Elite, die das Chaos angerichtet haben, nicht wirklich schlechter geht.

Verblüffend bei dieser an Verblüffungen reichen Woche bleibt allerdings das Ergebnis: Offenbar wird es in Athen eine Regierung der nationalen Einheit geben, die das Rettungspaket ratifizieren und dann Neuwahlen ausrichten wird. Während vor einer Woche noch ein Ministerpräsident mit einer wackligen, dünnen Mehrheit einer vollständig und schändlich blockierenden Opposition gegenüberstand und das Volk vor dem Parlament demonstrierte, ist das Land plötzlich tatsächlich einen Schritt weiter in Richtung Neuanfang. Papandreou hat einen Gordischen Knoten durchschlagen – und wenn er dieses Ergebnis vorausgesehen hat, dann ist er das größte politische Talent der Gegenwart. Ich kann mir das ehrlich gesagt nicht vorstellen, ich glaube eher, dass er in einem Moment tiefer Verzweiflung die entscheidende Auseinandersetzung gesucht hat, ohne wirklich ein Ergebnis im Blick zu haben. Aber unabhängig davon glaube ich, es braucht einen Arsch in der Hose, um das zu tun. Mut beweist man ja nicht dadurch, dass man etwas anfängt, von dem man sicher weiß, wie es ausgeht.

Es sind aus meiner Sicht zwei Dinge, die ein Volk braucht, um eine Krise durchzustehen: Einheit und eine Aussicht auf das Ziel. Beides war in Griechenland zu Beginn dieser Krise vorhanden, als es erstens hieß „wenigstens trifft es diesmal alle“ und das Ausmaß der durch die Sparvorgaben verschärften Rezession noch nicht absehbar war. Mit einer Regierung der Einheit, Neuwahlen (die ja nicht weniger wert sind als ein Referendum) und einem endlich zumindest halbwegs entschlossen agierenden EU-Europa könnte hier ein echter Schritt getan sein, ein erster nach langer Zeit, und es ist dem Ministerpräsidenten zu verdanken, dass er die Opposition in die Verantwortung gezwungen und die Konsequenzen der zur Verfügung stehenden Optionen spürbar gemacht hat.

Es gibt keinen Weg, Griechenland zu verstehen, ohne zuerst zu lernen, dass in diesem Land schon immer alles erkämpft werden musste. Der offizielle Wahlspruch der Republik Griechenland ist „Freiheit oder Tod“. Vielen Griechen, die ja in der allergrößten Mehrheit so wenig Schuld an der Krise tragen wie ich als deutscher Steuerzahler an den Zuständen bei der Hypo Real Estate, kommt das fesselnde Spardiktat der Troika vor wie eine Besatzung – als Verlust der Freiheit. In seinem erratisch wirkenden Ausbruch hat Papandreou, ob nun bewusst oder nicht, zumindest einmal den schon halb erschlafften Muskel der Freiheit angespannt und gezeigt, dass es eine Wahl gibt. Vielleicht nur eine noch schlechtere, aber es gibt sie. Ich mag das immer noch.

Dem Volk vertrauen

Der griechische Ministerpräsident Georgios Papandreou hat überraschend angekündigt, sein Volk über die EU-Entscheidung abstimmen zu lassen, die zu dem gefühlten Durchbruch am letzten Wochenende geführt hat – und wieder einmal sind Journalisten so irritiert, dass ihnen wie bei SpOn nicht viel mehr dazu einfällt, als zu Titeln: „Papandreou irritiert Griechen mit Abstimmungsplan“. Kronzeugen dafür sind ausgerechnet Abgeordnete jener „Neue Demokratie“ genannten Karikatur einer konservativen Partei, deren verrotteter Umgang mit dem eigenen Staat den schlimmsten Teil der Staatsverschuldung überhaupt erst verursacht hat.

„Wir Vertrauen dem Volk“, sagt Papandreou. Und meiner Meinung nach steigt er spätestens mit dieser Entscheidung in den Olymp derjenigen Politiker auf, die ein Volk tatsächlich führen können in Zeiten unvorstellbarer Not.

Denn natürlich ist das eine Entscheidung, die dem griechischen Volk zusteht. Selbst wenn wir für einen Moment – und nur für dieses Argument – annähmen, das griechische Volk oder zumindest die griechische Politik wären allein verantwortlich für die Krise, in der der Staat steckt (was sie trotz ihrer tausenden Fehler nicht sind), dann bleibt doch die Tatsache, dass diese Lösung nicht getroffen wurde, um Griechenland einen Ausweg zu bieten, sondern vor allem, um den Banken einen zu bieten. Der 50-prozentige „freiwillige Verzicht“ der Banken ist ein gigantischer Hoax. Die griechischen Staatsanleihen werden gehandelt, und sie wurden zuletzt zu Werten unterhalb von 40 Prozent ihres Nennwertes gehandelt. Gehandelt heißt: Von Banken verkauft und gekauft. Wer sie für 40 Prozent kauft und nun 50 Prozent durch unser Steuergeld garantiert bekommt, hat nicht freiwillig verzichtet, er bekommt vom Steuerzahler Geschenke. Darum geht es hier: Ein gigantisches Geschenk der Steuerzahler an die Banken. Das als „freiwilligen Verzicht“ der Banken zu deklarieren ist Betrug am Steuerzahler. Es ging bei all dem nur darum, einen Weg zu finden, der nicht dazu führt, dass die Banken untereinander ihre in unbekannten Wahnsinnshöhen gehandelten Kreditausfallversicherungen (CDS) fällig werden lassen. Sie sind die große Gefahr für das System, nicht Griechenland, das wie oft gesagt für die europäische Wirtschaft so wenig wichtig ist wie Hessen.

Die griechische Bevölkerung bekommt für diesen Schritt die nächste Runde eines Sparprogrammes aufgedrückt, das schon heute weite Teile der Bevölkerung in Armut gedrückt und für die Wirtschaft nichts positives bewirkt hat. Die Staatsverschuldung ist weiter gestiegen, woran weiter Banken verdienen. Das ist die Situation, vor der Papandreou steht. Was tut der Führer eines Landes in so einer Situation?

Die wirtschaftliche Lage ist so verfahren, dass niemand mehr vernünftige Prognosen abgeben kann. Aber Wirtschaft ist, nach Ludwig Erhard, zur Hälfte Psychologie. Politik, meiner Meinung nach, zu achtzig Prozent. Papandreou wählt den einzigen Weg, seine Nation zu einen: Ob sie zustimmen oder nicht, sie werden am Ende eine Entscheidung getroffen haben, was ein Wert an sich ist, und sie werden die Verantwortung tragen müssen, was eine Motivation an sich ist. Gegen die Hinterzimmergespräche von Brüssel steht ein Akt der Demokratie.

Zwei Argumente stehen dagegen. Zum einen ist in der repräsentativen Demokratie der Abgeordnete – und mehr noch der Regierungschef – in der Verantwortung, schwierige, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Aber wer wollte behaupten, dass Papandreou das nicht längst in einem Maße getan hat, von dem die gesamte Reihe der Mittelmäßigen zum Beispiel in Deutschland schon beim ersten Anblick abgedreht hätte? Im Verhältnis zum Kabinett Merkel Zwei ist Papandreou längst ein Leuchtturm zwischen lauter Pappkartons. Beweisen muss er nichts mehr, aber er muss den Moment finden, in dem Repräsentation nicht mehr reicht. Bevor es in den Straßen brennt und Leichen auf den Plätzen liegen wie in Syrien. Der Souverän bleibt auch in der repräsentativen Demokratie das Volk.

Der zweite Einwand ist formal: Es tut einer Demokratie in der Regel nicht besonders gut, wenn Bürger über wirtschaftliche Belange abstimmen. In dem US-Bundesstaat Kalifornien haben des die Bürger geschafft, gleichzeitig eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften mit einem der bankrottesten Staatswesen zu verbinden, indem sie per Volksabstimmung regelmäßig Steuern und Abgaben verringert und die Aufgaben des Staates vergrößert haben. In der Regel – zum Beispiel in meiner Heimatstadt Hamburg – dürfen Volksabstimmungen keine Steuern und Abgaben zum Inhalt haben. In Griechenland sind Volksabstimmungen überhaupt nur bei Fragen von überragendem nationalen Interesse erlaubt. Aber meiner Meinung nach ist das hier mehr als gegeben. Was sollte denn von größerem nationalen Interesse sein, als die Möglichkeit, selbst über das eigene Schicksal zu bestimmen?

Es bleibt also, das Papandreou den Ablauf der internationalen Geldpolitik aufhält. Und ich kann das nicht so schlimm finden. Ich gehe davon aus, dass auch dieses Kapitel mit einem weiteren Geschenk an die Banken enden wird. Auf die eine oder andere Art endet es so immer. Die große Volksverdummungsmaschine wird, angeführt von der BILD-Zeitung, wieder einmal verbreiten, die Griechen wären undankbar oder was auch immer sie inzwischen an absurden Begründungen finden müssen, damit die Realität noch zu den Märchen passt, die sie jeden Tag erzählen.

Dem Volk vertrauen – vielleicht wäre das sogar irgendwann mal ein Konzept für uns.