Das Ende der Politik

Angela Merkel hat in den großen Fragen der jüngeren Zeit jeweils jeden Standpunkt vertreten, den man vertreten konnte: Für und gegen Atomkraft, gegen und für Hilfen für Griechenland, für und gegen die Wehrpflicht, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Dabei beschreibt das nur die jeweils extremsten Positionen, zwischen denen sie jeweils in schneller Abfolge und feiner Abstufung mal mehr und mal weniger offensiv ihre Überzeugungen angepasst. Man könnte das für einen Mangel an Orientierung halten. Aber man hätte damit unrecht. Angela Merkels Irrlichtern ist eine zielgerichtete Form der Politik – oder besser, es ist das Gegenteil davon: Die Abschaffung der Politik, wie sie gemeint ist.

Es gibt unter wahlkämpfenden Politikern eine Urangst, ein Gespenst: die dezentrale Mobilisierung. Gemeint ist damit, dass das offensive Vertreten einer bestimmten Position mehr Gegner dieser Position an die Wahlurne treibt als Unterstützer. Aufgeteilt bis hinunter in bestimmte innerstädtische Straßenzüge versuchen Politiker alles zu vermeiden, was ihnen dort mehr schaden als nutzen könnte, weil es ansonsten schläfrige potenzielle Nichtwähler zuerst auf die Palme und dann ins Wahllokal treibt – weil sie so sehr dagegen sind. Angela Merkels Strategie ist eine andere: Die der dezentralen Demobilisierung. Sie schläfert ein, in der berechtigten und 2009 bestätigten Hoffnung, in einer möglichst wenig aufgeheizten Stimmung, bei einer möglichst wenig polarisierenden Fragestellung, werde ihre unzerstörbare Wählerbasis ausreichen, zumindest bei einem uneinigen linken Lager nicht nur die CDU zur stärksten Partei sondern auch Mehrheiten gegen sie unmöglich zu machen.

Kein Grünen-Wähler wird plötzlich die CDU wählen, weil die auf einmal gegen Atomkraft ist. Aber vielleicht werden ein paar Menschen, für die Atomkraft ein wichtiges Thema war, weniger zur Wahl gehen und gegen sie stimmen, wenn sie ihnen diese Angriffsfläche nicht mehr bietet. Bei der griechischen Staatsschuldenkrise macht sie ihre Position ganz einfach undurchschaubar, indem sie jede Position mal vertritt und am Ende so wenig wie möglich tut. Ganz bizarr ist die Frage der Wehrpflicht, bei der sie es selbst noch am vergangenen Sonntagabend bei Günter Jauch schaffte, noch auf Karl Theodor zu Guttenberg als Urheber der Reform zu verweisen – so dass dessen Nach-wie-vor-Bewunderer zufrieden gestellt und etwaige Kritiker der Reform in ihrer Wut auf ein anderes Ziel umgeleitet waren. Ein genialer Zug.

Die Folge dieser Strategie der dezentralen Demobilisierung ist allerdings fatal: Sie nimmt der demokratischen Auseinandersetzung den Raum. Wenn Merkel zu recht zu jedem Argument sagen kann „das habe ich auch schon gesagt“, weil sie es tatsächlich getan hat, nämlich für und gegen alles, um dann so unbemerkt wie möglich immer nur gerade so viel wie nötig zu tun, nimmt sie der demokratischen Öffentlichkeit ein Stück weit die Teilhabe. Ein relatives Schweigen der Mehrheit ist weniger eine grundsätzliche Zustimmung zu dem, was da in Berlin gesagt und getan wird. Es ist reine Übermüdung.

Tugenden

Inzwischen begibt sich selbst der sonst eher rational argumentierende Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in die Niederungen, in denen seine Kollegen aus der Regierungskoalition ihren billigen Stimmenfang betreiben. Die Politiker von CDU und FDP versuchen seit inzwischen fast zwei Jahren mit Unterstützung der üblichen Medien, für die Schuldenprobleme vor allem der südeuropäischen Staaten charakterliche Defizite verantwortlich zu machen. Da ist von Schulden-„Sündern“ die Rede, von „Schlendrian“ und allen möglichen Mentalitäten (erstaunlicherweise nicht, wenn es um die USA geht, aber warum sollte falsche Argumentation konsistent sein). Schäuble bedient sich nun implizit derselben argumentativen Schiene, wenn er in einem Beitrag in der Financial Times zum Beispiel behauptet

There is some concern that fiscal consolidation, a smaller public sector and more flexible labour markets could undermine demand in these countries in the short term. I am not convinced that this is a foregone conclusion, but even if it were, there is a trade-off between short-term pain and long-term gain.

Das Bild vom reinigenden „Schmerz“, der auf lange Sicht die Erlösung bringt, passt perfekt in die Ideologie derjenigen, die Länder „leiden“ sehen wollen, weil sie „Sünder“ sind (und wenn er da nicht nur einen merkwürdigen Witz machen wollte, verlangt EU-Kommissar Günther Oettinger, dass Länder mit einem Haushaltsdefizit in Zukunft dadurch gedemütigt werden sollen, dass ihre Flaggen vor den EU-Gebäuden auf Halbmast gesetzt werden sollen. Was für ein kranker Mann). Die Maßnahmen, die deutschen Regierungspolitikern zu den Problemen unserer Zeit einfallen, erinnern stark an die Maßnahmen, die der katholischen Kirche in vergangenen Jahrhunderten zu den Problemen ihrer Zeit eingefallen sind: tue Buße. Und das war dann das. Ökonomisch ergibt das selbstverständlich keinen Sinn, aber Ökonomen sind auch berühmt dafür, dass sie im Gegensatz zur BILD-Zeitung nicht in moralischen Kategorien denken. Die Wählerverarschung erfüllt inzwischen wahrscheinlich die Definition für Organisiertes Verbrechen.

Wie falsch die Rechenschieber-Inquisiteure und Sparprogrammierer dabei liegen zeigt in dieser Woche ausgerechnet eine bemerkenswerte Rede aus einer gänzlich unerwarteten Ecke. Charles Evans, Präsident der Chicagoer Zentralbank (die US-amerikanische „Federal Reserve“ besteht aus einer Reihe regionaler Zentralbanken), weist in einer Rede darauf hin, dass die Verantwortung seiner Institution nicht nur darin bestehe, die Inflation knapp unter zwei Prozent zu halten, sondern auch die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten.

Suppose we faced a very different economic environment: Imagine that inflation was running at 5% against our inflation objective of 2%. Is there a doubt that any central banker worth their salt would be reacting strongly to fight this high inflation rate? No, there isn’t any doubt. They would be acting as if their hair was on fire. We should be similarly energized about improving conditions in the labor market.

Nur noch einmal zum auf der Zunge zergehen lassen: das sagt ein Zentralbanker in den USA – nicht unbedingt ein Land, auf das der ständig von unseren Regierungsparteien implizierte Vorwurf zutrifft, Eingriffe in den „freien“ Arbeitsmarkt zu praktizieren, die angeblich schädlich sind, weil sie letztlich die Disziplin, also die Tugend, der sündigen, faulen Arbeitnehmer untergraben (Evans plädiert in der Folge dafür, mehr Geld in den Markt zu pumpen und eine mäßig steigende Inflation zugunsten von neuen Jobs zumindest zeitweise in Kauf zu nehmen).

Was für den Währungsraum USA gilt stimmt auch für den Währungsraum Euro: Gleichzeitig auf Kosten grassierender Arbeitslosigkeit – besonders unter jungen Europäern – offensichtlich nutzlose Sparprogramme durchzudrücken, und das auch noch mehr oder weniger versteckt als Tugendhaftigkeit zu verkaufen, ist verlogen und bigott. Anstatt ihrer Verantwortung für die Bevölkerung(en) gerecht zu werden, tauschen Schäuble und seine Spießgesellen die Schicksale von Millionen Menschen gegen die Rettung von Banken – und deklarieren den Schmerz der Millionen verarmenden um zu einer Art spiritueller Reinigung.

Wenn es einen Gott gibt, dann gibt das Ärger.

PS. Der von mir geliebte Economist sieht es seit heute ähnlich:

There is an angry self-righteousness to German rhetoric. Schulden, the German word for debt, is derived from Schuld, which also means guilt. In a revealing recent speech in Washington DC, Wolfgang Schäuble, the German finance minister, said that the crisis was the result of forsaking “long-term gains for short-term gratification”, by piling up debt and abandoning competitiveness. The answer is not to throw more money at the problem. “You simply cannot fight fire with fire,” he said. One could almost hear an echo of Martin Luther denouncing the sale of indulgences. Why should sinners be given an easy way out?

Die WELT hat eine Lösung für die Schuldenkrise: Lasst arme Schulen pleite gehen!

In der Welt geißelt heute eine Stellvertretende Chefredakteurin die Tatsache, dass es auf der ganzen Welt reiche Menschen gibt, die eine Reichensteuer fordern, obwohl sie die ja selbst bezahlen müssten. Nachdem sie diese Tatsache kolportiert hat („Wir leben wahrlich in ungewöhnlichen Zeiten“) steigt die Autorin steilst in ihre These ein.

Forderungen nach einem höheren Spitzensteuersatz oder einer Vermögensteuer kommen gemeinhin von der politischen Linken. Dass viele Linke die Wirkkraft „des Kapitals“, wie sie denunziatorisch Unternehmen nennen, für Wohlstand und Vorankommen unserer Volkswirtschaften verkennen, ist so traurig wie wahr.

Natürlich ist es nur ein rhetorischer Kniff, seine eigene Ausführung mal eben als wahr zu kennzeichnen, aber es hülfe der Aussage nichtsdestotrotz, wenn sie stimmte. Aber was für ein Blödsinn ist denn das?

Wer nennt ein Unternehmen denunziatorisch „Kapital“? In keiner einzigen Theorie oder Lehre der Welt werden Unternehmen als Kapital bezeichnet. Kapital ist in der Volkswirtschaftslehre ein Produktionsfaktor und bezeichnet bei Marx Geld, dass nur zur Profitgewinnung eingesetzt wird. Das Unternehmen an sich ist für die Linken im Gegenteil eine so tolle Sache, dass sie finden, möglichst alle sollten welche haben. Aber das ist nebensächlich.

Das Lustigste an dieser Passage ist nämlich die Bräsigkeit, mit der die Tatsache, dass die Forderung nach einer Reichen- oder Vermögenssteuer im beschriebenen Fall überall auf der Welt keineswegs von „Linken“ gefordert wird, zur Seite gewischt wird, weil es die Meinung der Autorin verlangt, auf Linke einzuschlagen. Wenn Reiche tatsächlich fänden, der Staat habe gerade ganz einfach zu wenig Geld, dann würde das ihr Weltbild zerstören. Also darf es nicht sein. Sie schlägt einfach dahin, wo sie offenbar immer hinschlägt. Das ist schon kein rhetorischer Kniff mehr, das ist der Versuch, eine Olympische Goldmedaille für sich zu reklamieren, weil man schließlich viel schneller gelaufen wäre, nur ganz woanders und leider ohne Zeugen. Aber echt wahr.

Ihre notorische Forderung nach Reichensteuern dient daher nicht der vielgepriesenen Gerechtigkeit, denn die läge in einer Befreiung der Mitte aus der kalten Progression. Nein, mit dem Dauergebet von der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich wird nur ein Ressentiment bedient und Neid gegen „die Reichen“ geschürt.

Ähm, ja? Mit dem „Dauergebet“ von der wachsenden Schere wird nicht die wachsende Schere kritisiert sondern nur der Neid geschürt? Also der Neid, der nicht dadurch entsteht, dass Reiche überall auf der Welt in so extremer Weise immer reicher werden, dass einige von ihnen selbst fordern, man solle sie gefälligst höher besteuern? Die wachsende Schere ist ein nachgewiesener Fakt, aber manche Meinungen mögen nicht von Tatsachen behindert werden. Aber wir reden ja hier sowieso schon anlassfrei über Linke, deshalb unterfüttern wir die Argumentation auch lieber faktenfrei.

Dass einzelne Unternehmer mehr Steuern zahlen wollten, sei ein bemerkenswertes Signal, fällt der Autorin auch auf, und sie möchte ihnen den Spaß auch gar nicht nehmen.

Wenn Reiche mehr für ihre Gesellschaft tun wollen, sollten sie spenden und stiften, wie dies die großen amerikanischen Unternehmer von Carnegie bis Gates immer taten. Niemals hätten sie dem Staat Aufgaben überlassen, die doch tief im Bürgersinn verankert und in Kommunen und Städten gut aufgehoben sind.

Abgesehen davon, dass Kommunen und Städte Teil unseres gemeinsamen Staates sind: Meint die Autorin tatsächlich, man solle letztlich die Qualität von Schulen davon abhängig machen, ob sich ein großzügiger Spender für sie findet? Ähm, ja, ganz genau.

Niemand hindert Otto oder Westernhagen, ihr Geld für die Sanierung von Schulen zu spenden oder andere Projekte zu fördern, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dienen. Der Staat aber muss endlich schlanker werden. Mitleid hat er nicht verdient.

Das ist so bizarr, dass man ein irres Kichern hinter den Zeilen zu hören glaubt. Wenn Herr Otto (der Versandunternehmer) oder Herr Müller-Westernhagen, die als Reiche eine Reichensteuer fordern, nun gerade die Schule meiner Tochter nicht bedenken, soll diese nicht saniert werden, um dem Staat eine Lehre zu erteilen? Und mir vielleicht auch, weil ich nicht reich bin? Immerhin gehöre ich wahrscheinlich zu der Mittelschicht, der die Welt-Vize-Chefredakteurin die Steuern gesenkt sehen will, insofern ist sie wahrscheinlich im Gegenteil dafür, dass die Schule meiner Tochter noch weniger Geld bekommt. Da soll der Staat doch mal sehen, was er davon hat! Selbst schuld!

Abgesehen davon, dass der Text historische, politische und logische Schwächen hat, zeigt er doch zumindest, dass die Autorin eine Meinung hat. Aber wenn es ihre eigene ist, warum versteht sie sie dann nicht?

Es ist ja nicht so, dass irgendjemand die Meinung vertreten würde, „der Staat“ solle Geld verprassen. Niemand will das. Natürlich muss jeder Staat seine Steuereinnahmen effizient einsetzen, und natürlich kann man ewig darüber streiten, ob er es tut und dass er es regelmäßig an vielen Stellen nicht tut. Aber genau das macht die Autorin ja nicht. Was wäre denn sinnvoller eingesetztes Steuergeld als die Sanierung einer Schule? In unserer kompletten Debatte um die Zukunft Deutschlands, die Wirtschaft, Integration, was auch immer – die zentrale Forderung ist immer: bessere Bildung. Das ist keine linke Position, das ist das Mantra quer durch die gesamte Republik. Zu recht. Und genau das sollen wir dem Goodwill von Reichen überlassen? Das ist der Punkt, an dem die Autorin findet, wir hätten zu viel Staat?

Der Staat hätte bewiesen, dass er schlecht haushaltet und die Politik suche nur Sündenböcke für die Schuldenkrise, die sie selbst verursacht habe, geht der Kern der Argumentation. Das Zweite ist zumindest insoweit Quatsch, als man alle Bankenrettungsschirme aus allen Staatsschulden herausrechnen müsste, um ein Bild von der Schuld der Politik zu haben, und dann sähe die Welt anders aus (die Welt wahrscheinlich nicht). Aber selbst wenn man das als Meinung gelten lassen wollte, ist dann die Antwort, Schulen verfallen zu lassen, damit Reiche nicht mehr Steuern zahlen müssen – und gleichzeitig einfach nicht mehr darüber zu reden, dass die Reichen immer reicher werden, um keinen Neid zu wecken?

Ich sehe meine Tochter schon nachhause kommen und mit großen Augen erzählen: „Papa, ich habe durch den Zaun gesehen, an der Roland-Berger-Gesamtschule regnet es gar nicht rein und alle Fenster haben Scheiben!“ Ich sag ihr dann: „Nicht neidisch sein, das ist, weil ein guter reicher Mensch ihnen hilft. Und wenn wir ganz lieb sind, dann hilft uns sicher auch irgendwann einer. Reiche sind so!“

Das muss eine ganz biestige Sache sein, diese „viel gepriesene Gerechtigkeit“. Ist die ansteckend?

Letztlich sind wir alle Trockennasenaffen

Ich habe mich vor einem Dreivierteljahr zuletzt darüber ausgelassen, was für ein schlechter Außenminister Guido Westerwelle ist, und er hat seitdem alles getan, um mich wie einen klugen Mann aussehen zu lassen. Ein Vorwurf läuft allerdings ins Leere – der Vorwurf mangelnder Selbstkritik. Gestern hat er sich auf seiner Homepage sogar einen neuen Spitznamen gegeben, der kritischer ist als alles, was ich mich über ihn zu sagen getraut hätte:

Guido Westerwelle

Ich beginne zu glauben, dass die Rechte tatsächlich langsam lernt, dass die Linke recht hatte

Wahrscheinlich braucht es selbst für die Klugen manchmal die Kraft der Krise, um den Schleier der Ideologie zu zerreißen und Denkfehler und Lebenslügen als das erkennen zu können, was sie sind: Schon vor den Londoner Krawallen hat der englische Konservative und Thatcher-Biograf Charles Moore einen viel beachteten Text geschrieben unter der Schlagzeile „Ich beginne zu glauben, dass die Linken tatsächlich recht haben könnten“. Kurz darauf folgte ihm der konservative FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher unter einer ähnlichen Headline.

Nun braucht die Linke – die hier definiert wird als die Kraft, die unregulierte Märkte von jeher als eine Art Pyramidenspiel betrachtet hat, die es den Stärkeren erlaubt, auf Kosten der schwächeren Allgemeinheit Reichtümer anzuhäufen – die Bestätigung alternder Konservativer nicht, auch wenn es manche geplagte Seele streicheln mag, wenn der politische Gegner irgendwann seine Fehler einsieht (s.a.“Atomausstieg“). Beachtenswert ist vielmehr die beginnende Umdeutung urlinker Positionen als angeblich konservativ.

In der FAS erklärt heute der Steuerrechtler Paul Kirchhoff überragend klar seine Vorschläge zu einer radikal neuen, entschlackten Steuergesetzgebung. Kirchhoff, der einmal Schattenfinanzminister der CDU war, begründet noch einmal ganz grundlegend die Berechtigung von Steuern damit, dass niemand in diesem Land ohne Zutun der Allgemeinheit in der Lage ist, wirtschaftliche Erfolge zu erzielen. Wer in Deutschland Geld verdient (übrigens auch, wenn er nicht hier wohnt), nutzt dafür die deutsche Freiheit, Rechtssicherheit, Straßen, Ausbildungssysteme und so weiter und so fort. Das ist natürlich die Grundlage von Steuern, aber es gleichzeitig eine Tatsache, die von der Rechten ungern laut diskutiert wird, weil sie den unterbewussten Mythos der konservativ-liberalen Weltanschauung untergräbt, nach der jeder seines Glückes Schmied ist und der Staat am besten gar nicht eingreift – der Mythos des Selfmade Man.

In der Realität gibt es diesen Selfmade Man nicht – auch wenn es am Selbstbild einiger Milliardäre kratzen mag, ohne die Unterstützung der Allgemeinheit in Form des Staates wären sie gar nichts. Die Straße, auf der sie zur Schule gefahren sind, die Schule selbst und die Tatsache, dass sie jeden Tag sicher hin und zurück gekommen sind haben sie nicht selbst gemacht, sondern die Gemeinschaft. Diese Wahrheit ist den Staatsgegnern instinktiv zuwider, aber sie bleibt wahr: Die Allgemeinheit – und nur die Allgemeinheit – bietet Sicherheit und Möglichkeiten. Wer sich „am Markt“ durchsetzt, der tut das immer mithilfe des Staates, der den Zugang zum Markt garantiert, die Sicherheit, und in den allermeisten Fällen sogar erst die Befähigung, überhaupt so weit gekommen zu sein. Das ist etwas Gutes.

Womit wir allerdings bei den Londoner und weiteren englischen Krawallen wären und den bizarren Behauptungen konservativer englischer Parlamentarier, sie hätten nichts mit Protesten oder Politik zu tun, als würde die Demografie der Plünderer nur zufällig so viele Gemeinsamkeiten aufweisen: Sie waren in der übergroßen Mehrzahl männlich und jung, viele von ihnen schwarz – aber praktisch alle arm. Wenn die Armen über das Land hinweg Geschäfte plündern – und dabei mit großer Zielsicherheit die Geschäfte der Statussymbole ansteuern, nämlich Geschäfte für Kleidung, Elektrogeräte und Schmuck –, dann mag es beim Einzelnen der Impuls gewesen sein, die Gunst des Augenblicks zu nutzen um an Statussymbole zu gelangen – also im eigentlichen Sinne selfmade zu sein. In der Summe bleibt trotzdem ein politischer Aufstand, wenn man Politik als die Kunst versteht, die menschliche Gesellschaft zu organisieren.

Premierminister David Cameron hat in seiner Antwort darauf bemerkenswert schlechte Worte und Antworten gefunden, aber am bezeichnendsten ist wahrscheinlich sein Versuch, den ehemaligen Polizeichef von New York, Boston und Los Angeles, Bill Bratton, als Polizei-Kommissionär oder zumindest als unbezahlten Berater zu gewinnen. Bratton hat einige Erfolge im Kampf gegen die „Gang Violence“ in den USA aufzuweisen, und das Schlagwort, unter dem auch deutsche Medien ihn zu verschubladen versuchen, ist „Zero Tolerance“ – Null Toleranz.

Die Online-Mediensimulation stern.de nennt Bratton denn auch schon in Dachzeile, Headline und Vorspann ihres Artikels zum Thema sowohl „Superbullen“ als auch „Aufräumer“ und „Null-Toleranz-Cop“. Was sie nicht erwähnen, ist dass der Teil des Erfolges, der eindeutig der Polizeiarbeit zuzurechnen ist (Malcolm Gladwell erklärt in seinem Buch „The Tipping Point“, warum es wahrscheinlich sehr viel weniger ist als angenommen), in Teilen gar nicht der Art von Polizeiarbeit entspringt, die wir gemeinhin unter „Null Toleranz“ verstehen wollen. Ein wichtiger Teil ist zum Beispiel eine enge Zusammenarbeit mit allen denkbaren Stellen in der Gemeinde, eine direkte, präventive und eindeutige Gefährderansprache, verbunden mit dem Hinweis, was die Alternativen sind – und der Unterstützung dabei, diese Alternativen auch tatsächlich nutzen zu können. Ein Gang-Mitglied in Boston kann so durchaus über den Bezirk Hilfe dabei bekommen, einen Job bei einer der Firmen zu kriegen, die von den Beteiligten selbstverständlich mit in die Pflicht genommen werden. Es ist in Wahrheit ein Musterbeispiel des starken Staates in Aktion – das Gegenteil dessen, von dem Cameron und andere Konservative behaupten, dass sie es wollen. Denn so wie es den Selfmade Man nicht gibt, gibt es auch nicht den gefährdeten oder längst notorisch kriminellen Jugendlichen, der sich selbst – „selfmade“ – aus seiner Drift befreien kann. Und ohne den Eingriff des Staates, im Zweifel auch in Gestalt des Policing-Konzeptes des „Superbullen“, gibt es wenig Erfolg versprechende Modelle, Jugendarbeitslosigkeit, Jugendkriminalität und Gang-Gewalt Herr zu werden. Wer sollte es denn sonst tun? Der Markt? Dass eine englische Unterschichtfamilie, deren Sohn sich an den Plünderungen beteiligt hat, zu besseren Bürgern wird, weil Premier David Cameron sie aus ihrer Sozialwohnung werfen lässt, scheint neben der merkwürdigen Sippenhaft auch ganz generell zweifelhaft, weil ihm eben der Entweder-oder-Ansatz von Brattons Anti-Gang-Strategie fehlt: Der Staat, der Sicherheit und Möglichkeiten für seine Bürger garantiert, muss beide Teile mit vergleichbarem Nachdruck vertreten. Ohne Zweifel muss Plünderungen wie jeder anderen Art von Gewalt und Kriminalität entschieden, ausnahmslos und unverzüglich entgegengetreten werden. Aber es ist keine Erfindung, dass ein großer Teil der Jugend in England, wie in allen europäischen Ländern, ohne Arbeit und letztlich ohne Chance auf Teilhabe ist. Dieses Problem muss der Staat mit der gleichen Entschiedenheit angehen, um zu funktionieren. Zu glauben, Jugendkrawalle hätten nichts mit Protest zu tun, wenn jeder vierte Jugendliche arbeitslos ist, und zu behaupten, es habe nichts mit Politik zu tun, wenn die Kultur eines Landes so weit bröckelt, dass so viele Menschen bereit sind, unter dem Mantel des Augenblicks Verbrechen bis hin zum Mord zu begehen, ist ein Zeichen für ideologischen Aberwitz.

Wenn nun also Cameron unter dem Schlagwort „Null Toleranz“ anfangen sollte, klassisch sozialdemokratische Politik zu machen, wenn nun also die CDU unter dem Schlagwort „Kirchhoff“ anfangen sollte, klassisch sozialdemokratische Positionen einzunehmen, dann hielte ich das im Prinzip für richtig. Allerdings sollte man trotzdem darauf hinweisen, dass sie zwar möglicherweise in der Krise so etwas wie Vernunft gefunden haben, aber man darf sie hin und wieder daran erinnern, dass es andere gab, die tatsächlich schon lange recht hatten.

Die gescheiterte Assimilation des Thilo Sarrazin

Die Generalsekretärin der SPD, Andrea Nahles, stört es nach eigener Aussage, dass Thilo Sarrazin weiterhin SPD-Mitglied – und es darf unterstellt werden, dass ihre Meinung in diesem Punkt auch der ihres Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel entspricht. Das ist keine ganz kleine Aussage, denn es gehört schon Größe dazu, als Führungsfigur einer Partei zuzugeben, dass die Dinge selbst im eigenen Laden eben nicht unbedingt so laufen, wie man sich das gewünscht hätte. Für die Demokratie an sich ist die Tatsache großartig, dass zwei Menschen mit in einzelnen Punkten stark widerstreitenden Ansichten Mitglieder ein und der selben Partei sein können – und dass selbst Parteivorsitzende Mitglieder mit widerstreitenden Ansichten nicht einfach hinauswerfen können.

Es ist an sich müßig, darüber zu streiten, ob Sarrazins (auch aus meiner Sicht) teilweise abstrusen Thesen Platz in der Sozialdemokratie haben. Neben vielen Stärken und klaren Analysen enthält sein Buch eben durchaus Passagen, die ich so verstanden – nach Sarrazins Erklärung im Parteischiedsverfahren missverstanden – habe, dass eben nicht alle Kinder gleich viel wert und vor allem nicht gleich wünschenswert sind. Aber so, wie die Dinge nach dem Mahlen der Mühlen der Parteijustiz sind, bleibt in jedem Fall die Ironie, dass Sarrazin und seine parteiinternen Anhänger nun das geworden sind, was sie Migranten in Deutschland im- oder auch explizit vorwerfen: eine Parallelgesellschaft. Sarrazin nimmt für sich in Anspruch, ertragen zu werden in seiner Eigenheit, mit dem Gefühl, er sei schließlich im Recht – was wohl ziemlich genau dem Gefühl jeder religiösen und kulturellen Minderheit entspricht, wobei die meist nicht mit dem Sarrazin’schen Sendungsbewusstsein mithalten können.

Nach der Einigung vor der Partei-Schiedskommission in Berlin steht nun also fest, dass Sarrazin nicht ausgewiesen wird. Eine Assimilation in die offizielle Parteilinie steht – siehe Nahles – gar nicht zur Debatte, er wird sich nicht mehr in den Rahmen der klassisch sozialdemokratischen Werte begeben. Wir sprechen also bei der Randgruppe Sarrazin in der SPD über die Möglichkeit einer Integration im Sinne von Lord Ralf Dahrendorf: Parallelgesellschaften sind – jenseits des öffentlichen Raumes, für den klare Regeln gelten – zu ertragen. Das ist die einzige Form der Integration, die bisher irgendwo funktioniert hat. Für den Genossen Thilo Sarrazin wird die Zurückhaltung im öffentlichen Raum eine schwierige, wenn nicht letztlich unlösbare Aufgabe sein, weil er in dem Gefühl, recht zu haben, jedes Gefühl dafür verloren hat, was eine angemessene Äußerung ist.

Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.

Die Wahrheit ist: Thilo Sarrazin muss überhaupt niemanden anerkennen. Er muss aber, wie jeder von uns – und als exponierter Vertreter einer politischen Partei und staatlicher Institutionen sogar in besonderem Maße –, im öffentlichen Raum zum Beispiel die Regeln des gegenseitigen Respekts beachten. Ich kann nicht erkennen, warum er das plötzlich verstanden haben sollte, und ich traue es ihm vor allem deshalb nicht zu, weil er offenbar sicher glaubt, auf der Wahrheit zu sitzen. Er unterliegt dabei dem gleichen Missverständnis wie viele Populisten: Nicht alles, was „unbequem“ ist, ist deshalb gleich eine Wahrheit. Er hat außerdem die Grundzumutung des demokratischen Systems ausgeblendet: Selbst wenn er mit allem, was er sagt, recht hätte (und er hat es in einem eher kleinen aber entscheidenden Teil seiner Thesen aus meiner Sicht nicht), wäre seine Stimme nicht mehr wert als jede andere im Kanon der politischen Willensbildung.

All das zusammen macht Sarrazin unangenehm. Ich möchte nicht ausblenden, dass sein Buch mehr Stärken hat als Schwächen. Aber in diesem Fall, im Zuge dieser Diskussion und nicht zuletzt auch in der von ihm fachmännisch und mit der Erfahrung eines politischen Lebens gesteuerten Kampagne rund um das Erscheinen des Buches samt Vorabdrucken in Spiegel und Bild, die in breiten Teilen der Bevölkerung zu einem Ventil rassistischer Ressentiments geworden ist, wiegen die Schwächen am Ende schwerer. Das Buch ist, wie die Kanzlerin es korrekt zusammengefasst hat, „nicht hilfreich.“ Nicht mehr und nicht weniger.

Und trotzdem muss man Thilo Sarrazin ertragen. Das ist Demokratie. Er ist in der SPD nicht assimiliert und ein produktiver Beitrag zur Parteipolitik ist für die Zukunft eher nicht zu erwarten, es werden sich im Gegenteil wahrscheinlich die meisten freuen, wenn er in Zukunft einfach nur still ist (ich weiß, hier kommt gleich das Argument, dass viele Wähler Sarrazin doch zustimmen. Aber, bitte: Niemand wählt die SPD, weil er findet, es gäbe zu viele schlecht integrierte Ausländer in Deutschland. Für wen Sarrazin der entscheidende Grund wäre, SPD zu wählen, der wählt gleich die NPD). Der Genosse Sarrazin ist in seiner Partei vom produktiven Mitglied zur Belastung geworden, zum Äquivalent eines Transferleistungs-Empfängers. Und trotzdem hat er die exakt gleiche Berechtigung, in der Partei zu sein, wie Andrea Nahles. So geil ist Demokratie. Schade, dass er das nicht verstehen wird.