Real: Alles drin. Irreal: Was Politik behauptet, was drin ist.

Die erfolgversprechendste Art für jede Organisation, die Zukunft anzugehen ist, so viele gute Ideen wie möglich auszuprobieren und sich von den jeweils schlechtesten so schnell wie möglich wieder zu trennen. Bei Apple tut man das, indem man unzählige Prototypen baut. Die meisten anderen Unternehmen tun es, indem sie ein paar Prototypen bauen, den besten auswählen und von da an mit Kundenfeedback von Version zu Version besser werden („Done is better than perfect“). Das System ist das gleiche: Wer bereits vorher glaubt, die Antwort auf die Fragen der Zukunft zu kennen, arbeitet nicht mit Ideen sondern mit Ideologie. Und das ist eine Methode, bei der nur sicher ist, dass selbst ein nur relativ optimaler Erfolg praktisch unmöglich zu erreichen ist, d.h. nicht einmal tatsächlich umgesetzte Ideen können ihr volles Potenzial entfalten, weil ihre Beschränkung immer bereits eingebaut ist.

Willkommen in der Politik.

Nur ist die Politik daran gar nicht allein schuld. Ich möchte das an einem Beispiel erläutern, natürlich anhand der Euro-Krise, die zumindest für irgendetwas nützen soll.

Da ist einmal die real existierende Politik. Sie versagt mehr oder weniger vollständig: Allen Krisenländern geht es immer schlechter. Nehmen wir Spanien, deren Ministerpräsident Rajoy gerade in Berlin zu Gast war, und der dabei (wie nicht lange zuvor sein irischer Amtskollege) den Spagat vollbringen musste, einerseits darauf zu verweisen, wie großartig konsequent er die ihm von den europäischen institutionellen und nationalen Großmächten aufoktruierten „Reformen“ umsetzt, und andererseits um Hilfe zu bitten, weil die Realität sich nicht an die Pläne der Ideologen hält. Unter den Reformen bricht die spanische Wirtschaft genauso zusammen wie die griechische, die portugiesische und mit ein paar Abstrichen auch die irische. Die Programme funktionieren nicht, nirgendwo und unter keinen Bedingungen. Die Zahlen zeigen das.

Aber natürlich wäre diese Realität nur dann ein Baustein in der Politik zum Beispiel unserer Bundesregierung, wenn es dabei um Ideen ginge und nicht um Ideologie.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Reformbemühungen Spaniens gewürdigt. Deutschland habe „große Hochachtung und große Bewunderung“ für das, was Spanien zur Bewältigung der Schuldenkrise auf den Weg gebracht habe, sagte die CDU-Politikerin nach ihrem Treffen mit Spaniens Ministerpräsidenten Mariano Rajoy in Berlin. Sie sei überzeugt, dass die Reformen Wirkung zeigen würden.

Zeit.de

Warum soll sie sich mit der Realität beschäftigen, wo sie doch überzeugt ist? Die Wahrheit ist, dass die spanische Wirtschaft in einer Größenordnung zusammenbricht, die sich kaum noch beschreiben lässt. Das Land ist in allen wichtigen Bereichen von Produktion, Handel und Arbeit um Jahrzehnte zurückgeworfen und implodiert. Merkel lügt. Und lügt. Und lügt.

Gleichzeitig gibt es in deutschen Medien spürbar weniger Berichte aus den Krisenländern. Wie dramatisch die Lage in Europa ist, wird in Deutschland nirgendwo wirklich sichtbar. Insofern könnte ein Besuch des SPD-Kanzlerkandidaten Steinbrück in Athen ein Schlaglicht darauf werfen, denn immerhin verbrachte er einen guten Teil seiner Zeit in Einrichtungen zur Armenspeisung. Stattdessen kümmern sich die Journalisten, die ihn begleiten, um ganz andere Fragen: Obwohl Steinbrück zumindest in homöopathischen Dosen ernsthafte Ideen zur Überwindung der Krise vorgebracht hat, ist die einzige Frage, die Journalisten dabei interessiert, wie sie mit seiner Kandidatur zusammenwirken.

Als Beispiel das Leitmedium Spiegel Online:

Die Jugendarbeitslosigkeit ist auf Rekordhoch, die Investoren scheuen den Gang zurück ins Land. Daheim in Berlin würde manch einer den Hellenen gerne den Geldhahn zudrehen. Steinbrück nicht. Er will dem Misstrauen gegenüber der griechischen Regierung etwas entgegensetzen, das ist das Hauptanliegen seines Besuchs. Er sagt: „Das Land braucht mehr Zeit, um seine Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen.“ Steinbrück, der Barmherzige.

Es ist ein Kurs mit Risiko. Der SPD-Mann weiß, dass jene Frau, die er beerben will, andere Töne anschlägt. Angela Merkel gefällt sich seit Beginn der Krise als eiserne Kanzlerin. Wann immer sie sich zur Zukunft Griechenlands äußert, pocht sie auf Einhaltung der Brüsseler Bedingung, das Defizit auch über massive Sozialreformen in den Griff zu bekommen. Kein Geld ohne Gegenleistung – das ist ihr Credo. Beim Wähler fährt sie damit bislang ganz gut.

Abgesehen davon wie lustig es ist, „Brüsseler Bedingungen“ von den deutschen Bedingungen zu trennen fällt auf, dass die Realität durch die Brille von Spiegel Online nicht mehr als solche wahrgenommen wird, sondern nur noch als Leinwand, vor der sich das Spektakel des deutschen Wahlkampfes entfaltet. Dass die „Brüsseler Bedingungen“ in keinem Land positive, sehr wohl aber in jedem Krisenland katastrophale ökonomische und soziale Folgen haben ist vollkommen unerheblich angesichts der Tatsache, auf welche der Lügen und Inszenierungen der (oftmals durch eben dieselben Medien bedingt) im Ahnungslosen verharrende Wähler doller hereinfällt. Politik ist mit Inhalten hier gar nicht zu machen: Dass Politiker selbst um den Preis der Wahrheit, selbst um den Preis realen (aber unsichtbaren) Leidens erfolgreicher an Ideologien festhalten als sich um die Lösung realer Probleme zu bemühen liegt auch daran, dass Medien es so wollen. Die gute Geschichte schlägt gute Politik. Ob Merkel in Wahrheit lieber gute Politik machen würde ist zweitrangig – es lohnt sich schlicht nicht. Wenn sie die Zahlen aus den Krisenstaaten zum Anlass nähme, Fehler zu korrigieren und echte Verbesserungen herzustellen, würde ihr das von den Medien und so letztlich den Wählern negativ angerechnet. Sie wäre eine Umfallerin. Weil sie die Realität ernst genommen hätte.

Noch einmal: Würde die vorherrschende europäische Politik an Zahlen gemessen, dann müsste man Merkel ihre Worte von den spanischen Fortschritten pausenlos um die Ohren hauen. Im Vergleich zu ihrem Allzeithoch 2007 hat die spanische Industrie mehr als 30 Prozent weniger Output. Der Stand ist schlechter als der von vor 20 Jahren. Fortschritte? My ass! Wen wollt ihr hier eigentlich verarschen?

Ach ja, uns alle.

Das Schlimme dabei ist nicht nur, dass es funktioniert. Das Schlimme ist, dass es sich längst als ein System etabliert hat, welches die echte Lösung von Problemen bestraft, während es die Lügen von Ideologen belohnt.

In der Realität ist das schlecht.

9 Antworten auf „Real: Alles drin. Irreal: Was Politik behauptet, was drin ist.“

  1. Ja, das ist die Tragik dieses Systems.
    Populus vult decipi, ergo decipiatur.
    Und die (langfristige) Antwort wäre Bildung, aber die Bildung läuft ja über dasselbe System und wird von denselben Politikern gesteuert, die vom selben Volk gewählt werden, was dann wiederum …
    insgesamt suboptimale Bedingungen sind.

  2. Wenn ich einem Verein beitrete, erwarte ich mir irgendwelche Vorteile. Habe ich mich geirrt, trete ich aus.
    Ist das anders in dem Verein, der sich EU nennt?

  3. Wer erwartet denn noch einen Funken Realität in den System-Medien?

    Hat irgend jemand mal bei Spiegel-Online,Zeit,FAZ,Süddeutsch oder ARD/ZDF was über die fast 2 Millionen Bundesbürger gehört die sich mittlerweile nur noch mit Hilfe der `Tafeln`satt machen können?

    Alles was wir momentan in unseren Medien hören dient nur dazu das wir glauben das `noch alles gut wird`und wir nicht wie die Anderen auf die Strasse gehen müssen weoö es ùns ja noch gut geht`.

    Griechenland,Spanien sind in diesem Sinne bereits verloren.Da glaubt niemand mehr an irgend was wenn es ein Politiker sagt.In Irland sind am Samstag 100.000 Menschen auf die Strasse gegangen um gegen den Banken-Wahnsinn zu demonstrieren.

    Hat einer von Euch was davon mit bekommen?Nein?So viel zum Thema `Realität`.

  4. Zitat: „Das Schlimme dabei ist nicht nur, dass es funktioniert. Das Schlimme ist, dass es sich längst als ein System etabliert hat, welches die echte Lösung von Problemen bestraft, während es die Lügen von Ideologen belohnt.“
    —————-
    Schlimm ist dabei vor allem die schamlose Offenheit mit der die Verantwortlichen an die Öffentlichkeit treten. Die Qualität der Ausreden läßt stark zu „wünschen“ übrig. Je offenkundiger die fadenscheinigen Ausreden, desto sicherer fühlen die sich, die sie tätigen.

    Mir scheint, nachdem die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten die Drecksarbeit gemacht hat, dass sich nun die, die sich schon immer vor dieser Arbeit gescheut haben, das die uns alle nun Stück für Stück bestehlen. Wahrscheinlich ist dieser Vorgang schon längst abgeschlossen. Nachdem man erfolgreich Geld verdient hat, die Verantwortung von sich gewiesen hat, ist nun die Zeit reif sich auch von allen Anderen Vorwürfen zu befreien.

    Ich verfüge als „kleiner“ Bürger nicht wirklich über fundierte Informationen, aber gefühlt würde ich sagen das die Fahnenstange erreicht scheint. Man wird nicht länger umhin kommen die wirklichen Schäden zu verkünden. Natürlich in Maßen.

  5. „Zitat: In Irland sind am Samstag 100.000 Menschen auf die Strasse gegangen../ /.. Hat einer von Euch was davon mit bekommen?Nein?So viel zum Thema `Realität`.“
    ————————
    Mal Nachgefragt: am Samstag 09.02.2013 oder am 02. 12 2010? Hab leider nur Letzteres gefunden.

  6. Nochmal ich 😉

    Irgendwann, irgendwann wird es platzen das ganze System aus Lügen und Unwahrheiten. Nicht weil die Bürger ihre Rechte eingefordert hätten, nö, da sorgt die Politik leider zu gut dafür das die benötigten Rohstoffe fürs neueste Smartphone billig verfügbar sind. Nein, irgendwann wird einer dabei sein der ZU gierig wird und dann… wird alles weg sein, was alle über die Jahrzehnte aufgebaut haben. Wir fangen Neu an, aber womit?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.