Ich flattr Richard Gutjahr

Es gibt Momente, in denen kumuliert einfach alles, und während ich in den freien Minuten versuche, alles über die Lage in Ägypten zu erfahren (meine Frau ist halbe Ägypterin, hat eine Menge Familie in Bürgerwehren in Kairo), fällt mir nicht nur schmerzhaft wie nie auf, dass wir so genannte Nachrichtensender haben, die ihr Programm mit Dokumentationen über Wühlmäuse füllen, während die Welt brennt – ich nehme auch in irgendwelchen Nebensynapsen eine ewig wiederkehrende, merkwürdige Diskussion wahr, deren nächste Zotte gerade darin besteht, dem Journalisten undBlogger Richard Gutjahr vorzuwerfen, er würde aus Gründen der Selbstinszenierung nach Kairo fliegen um von dort zu berichten. Das Thema der Diskussion ist „Selbstdarstellung von Journalisten“, und wir erleben es alle paar Wochen wieder, zuletzt beim Afghanistan-Einsatz von Johannes B. Kerner und der Maschmeyer-Doku von Christoph Lütgert.

Ich bin wahrscheinlich der Falscheste, um darüber zu schreiben, aber ich habe trotzdem eine Meinung dazu, und deshalb sage ich sie auch: Ich wünschte, es gäbe mehr Journalisten, die es wagen, sich selbst zu einer Marke zu machen und mit ihrem Gesicht für die Geschichte zu stehen, die sie erzählen. Denn ich glaube, Journalismus unter dem Mäntelchen vermeintlicher Objektivität ist tot.

Ich kenne Richard Gutjahr nicht persönlich, und bisher ist er mir – wie wahrscheinlich vielen – vor allem als Apple-Fanboy aufgefallen, aber ich weiß nicht, warum er deshalb kein guter Journalist sein sollte (ich bin wahrscheinlich nicht so extrem wie er, aber ein Apple-Fan bin ich zugegebenerweise auch). Ich finde, im Gegenteil, einen Journalisten, der seine persönlichen Sympathien und Meinungen offenlegt, im Zweifel glaubwürdiger als einen, der denkt, er wäre objektiv. Denn Objektivität im Journalismus gibt es nicht, sie ist auch gar nicht nötig. Ein Journalist soll misstrauisch, kristisch und fair sein – und sein Handwerk beherrschen. Ansonsten haben wir uns mit der Berufswahl sowieso schon auf eine Seite geschlagen, wir sind Partei: Als Journalisten sind wir für Information, für Meinungsfreiheit und damit prinzipiell auch für die Demokratie.

All das liegt in Ägyten noch am Boden. Ich bin für jeden Kollegen dankbar, der hinfährt, um das zu ändern.

Das heißt nicht, dass jede Art der Selbstinszenierung jedem sympathisch sein muss. Man muss Kerner in Afghanistan nicht mögen, aber man kann ihm auch nicht absprechen, dass er im gegensatz zu vielen anderen tatsächlich hingefahren ist, und das ist keine Selbstinszenierung, sondern seine Arbeit. Christoph Lütgert mag in den Augen vieler Zuschauer zu oft im eigenen Film aufgetaucht sein, und er muss, wie jeder von uns, Kritik an seinem Werk aushalten. Aber er hat einen eigenen, eigensinnigen und engagierten Film gemacht, und das ist sein Job. Ich rede hier nicht über Geschmacks- und Stilfragen, sondern darüber, dass Selbstinszenierung für jeden, der in der Öffentlichkeit arbeitet, zum Job gehört. Und Journalismus gehört in die Öffentlichkeit, anstatt hinter die Mauern der offiziösen Institutionen, die gerne noch heute so tun, als hätten sie irgendwie ein Monopol auf die Interpretation dessen, was in der Welt passiert.

Ich fordere hiermit also alle Werbekunden von n-tv und N24 auf, die Spots bei den Versendekanälen von Wühlmaus-Dokus und krisseligen Wochenschau-Rollen zu stornieren, und stattdessen auf gutjahr.biz Anzeigen zu schalten. Die alten Zeiten sind vorbei.

Osama bin Laden hat Angst vor mir

Medien ist der Hang zum Sensationellen immanent, das Alltägliche übersehen sie gern. Das macht wahrscheinlich einen Teil ihrer Faszination aus, aber vielleicht weniger, als man denken könnte. Gerade am Beispiel der angeblich konkreten Bedrohungslage durch islamistische Terroristen wird das dieser Tage wieder einmal deutlich: Es wird auf der einen Seite gemutmaßt und behauptet, aufgeblasen und spekuliert. Es wird Angst gemacht, weil Angst angeblich verkauft. Wenn es je ein Beispiel gegeben hat, das den schwammigen Auftrag der klassischen journalistischen Medien deutlich gemacht hat, dann dieses hysterische Warnen vor Hysterie.

Es ist faszinierend, wie wenige dabei auf die Idee kommen, was in so einem Moment die Aufgabe der Medien wäre. Denn die bloße Information, also die Aufklärung über die tatsächliche Bedrohung oder Hinweise darauf, wie dieser Bedrohung zu begegnen sei, kann es nicht sein – denn das wäre nach einem Tag erledigt, es weiß ja niemand etwas wirklich Konkretes. Auf der anderen Seite kann es aber auch nicht sein, dass der Leser morgens die Zeitung aufschlägt, und das Thema, über das alle reden, kommt einfach nicht vor, weil es nichts Neues zu berichten gibt. Es passiert also das, was immer passiert, wenn die Nation ein Thema bewegt, das viel Raum für Spekulationen lässt und wenig echte Fakten bietet: Es werden Nichtigkeiten ausgebreitet – oder gleich direkt über die Angst berichtet. Gehen Sie dieses Jahr auf einen Weihnachtsmarkt?

Dabei ist die Antwort so naheliegend, dass man sie wahrscheinlich einfach nicht sehen kann: Wenn es tatsächlich eine Bedrohung durch Terroristen gibt, denen unser Lebenswandel und der Aufbau unserer Gesellschaft nicht gefällt, dann jetzt ein guter Moment, unseren Lebenswandel und unsere Gesellschaft zu feiern. Wenn es überhaupt so etwas wie eine auch nur im Ansatz durchdeklinierbare Erklärung für den Terror gibt, dann die, dass uns ein paar Fehlgeleitete davon abhalten wollen, so zu leben, wie wir leben. Und weil sie das nicht schaffen, wollen sie uns umbringen. Sie müssen wahnsinnige Angst haben, dass wir ansteckend sind.

Ich persönlich bin einigermaßen entspannt in Bezug auf die Gefahr, dass irgendwann Männer die Weltherrschaft übernehmen, die es als Paradies empfinden, 72 Jungfrauen zu ihrer Verfügung zu haben. Irgendwie kann ich Männer, die so offensichtlich Angst vor erwachsenen Frauen haben, nur begrenzt als bedrohlich empfinden. Aber Tatsache ist auch, dass sie uns vielleicht nicht alle umbringen können, aber ein paar von uns. Es wird möglicherweise auch in Zukunft nicht gelingen, jeden einzelnen von uns vor Terrorakten zu beschützen. Oder, um es klar zu sagen: Es kann sein, dass ein Terrorist meinen Tod bestimmt. Aber es darf keinem von ihnen gelingen, mein Leben zu bestimmen.

Die Londoner haben dieser Tatsache nach den verheerenden Anschlägen in der U-Bahn 2005 ein Denkmal gesetzt mit der Aktion We are not afraid. Es gibt jetzt ein deutsches Pendant, angestoßen von Mario Sixtus, dem zum Glück und ganz natürlich die Fallhöhe der englischen Aktion abgeht, weil es einen verheerenden Anschlag in Deutschland eben noch nicht gegeben hat. Aber auch hier wird die eigentliche Größe schon deutlich, die der Name noch verschweigt: Die Aktion heißt „Wir haben keine Angst“ – aber das ist eben höchstens halb richtig. Die Wahrheit ist noch viel besser: Natürlich haben wir Angst, aber wir haben eben auch den Mut, uns nicht von Menschen mit Bomben und fanatischen Ideologien unser Leben diktieren zu lassen. Wir haben Angst, aber eben auch den Mut, trotzdem nicht jedes Telefongespräch abhören zu wollen und nicht hinter jedem Moslem einen potenziellen Mörder zu vermuten. Wir haben vielleicht Angst vor dem Tod, aber es nimmt uns nicht den Mut zu leben.

Plötzlich ist das Alltägliche sensationell, und es wundert mich, dass wir es nicht zum Thema machen. Jeder, der in einer deutschen Großstadt in die U-Bahn steigt, auf einen Weihnachtsmarkt geht oder einfach nur genau so weitermacht wie bisher, ist ein ein gestreckter Mittelfinger in Richtung von Osama bin Laden. Warum das nicht jeden Tag in der Boulevard-Presse steht, sondern stattdessen selbsterklärte Terrorexperten lauwarmes Garnichts erklären dürfen, ist mir ein Rätsel.

Ich erinnere mich noch an den Wirbel, den der damalige Innenminister Otto Schily mit dem eigentlich eher nichtssagenden Zitat zum Thema Selbstmordattentäter ausgelöst hat „Wer den Tod liebt, kann ihn haben“. Natürlich kann er das, und auch das liegt im Aufgabenbereich der Politik: Das Nötige für die Sicherheit zu tun. Aber worüber es sich zu reden lohnt ist das Gegenteil: Wer das Leben liebt, der soll es haben können. Und das sind wir. Jeden Tag.

We put the „Qual“ in Qualitätsjournalismus

Es mag verwundern, aber es gibt selbst nach Jahren, in denen nun schon das Aussterben des Qualitätsjournalismus beklagt wird, immer noch keine auch nur annähernd allgemeingültige Definition, was das eigentlich sein soll. Der schweizer Soziologe Kurt Imhof, der immerhin ein Buch über die abnehmende Qualität des Journalismus in unserem Nachbarland geschrieben hat, unternimmt wenigstens einen Versuch, wenn er im Interview mit Robin Meyer-Lucht von Carta die vier aus seiner Sicht maßgeblichen Qualitätskriterien „Universalität bzw. Vielfalt, Relevanz, Aktualität und Professionalität“ nennt, aber zielführend ist das in der Praxis nicht, weil die Kriterien exakt so auch gelten, wenn ich einen Turnschuh-Laden oder einen Imbiss eröffne. Es ist eine Binse, dass ich als großer, generalistischer Anbieter viele verschiedene, frische (oder auch moderne) Versionen von den Dingen anbieten sollte, die für meine Kundschaft relevant sind. Aber die echte Definition von Qualität wird hier nicht geliefert, sondern nur durch den Begriff Professionalität ersetzt. Das hat aus meiner Sicht einen einfachen Grund: Wir Journalisten wissen heute meist genauso wenig wie Soziologen, wofür das, was wir tun, eigentlich gut sein soll. Denn natürlich lässt sich in Sonntagsreden sehr schön über die Wichtigkeit des Journalismus für die Kontrolle der Mächtigen, zum Aufdecken von Missständen und für das Vertrauen der Bevölkerung in das Rechtssystem Dröhnen, aber mit der Realität im Alltag der meisten Journalisten hat das alles recht wenig zu tun. Wenn man die meisten Kollegen in der Branche über ihre Zeitungen, Magazine, Webseiten oder Sendungen reden hört, dann wirkt es, als müssten sie unglaublich erstaunt und in manchen Fällen sogar peinlich berührt sin, dass es für den Quatsch, den sie ihrer eigenen Einschätzung nach produzieren, überhaupt ein Publikum gibt. Und man bekommt den Eindruck, viele journalistische Produkte werden selbst von ihren Machern eher als Beigaben zu Abo-Geschenken und aufgeklebten DVDs gesehen. Das ist eine Katastrophe.
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Auf Kommentare antworten

Texte hat es vor „dem Internet“ gegeben. Videos hat es vorher gegeben. Radiobeiträge auch. Und bei aller Freude an echt multimedialen Inhalten glaube ich persönlich, dass die journalistischen Möglichkeiten noch nicht im Ansatz so gut genutzt werden, wie sie es könnten. Man kann eine Weile darüber diskutieren, ob das Internet ein Medium ist (ich bin der Überzeugung: nein, es ist ein Marktplatz), aber in jedem Fall bleibt meiner Meinung nach, dass das Netz dem Journalismus noch nicht besonders viel hinzugefügt hat. Wie denn auch, wenn sich die größten Häuser der Branche immer noch weit gehend darauf beschränken, entweder vorhandenen „Content“ einfach online zu stellen, oder aber zusätzliche Inhalte zu Preisen zu produzieren, über die gestandene Journalisten lachen müssten, wenn es nicht so traurig wäre. Nein, aus meiner Sicht ist im Netz eigentlich nur eine Sache wirklich neu. Aber die ist so gut, dass sie allein alle Energie wert war, die in die Entwicklung von Online-Journalismus bisher geflossen ist. Es ist die Kommentarspalte.

Natürlich liebe ich die Tatsache, dass ich zu jeder Tages- und Nachtzeit in meinem bescheidenen Rahmen alles schreiben kann, was ich will. Und selbstverständlich mag ich lieber dafür gelobt werden, als kritisiert. Aber das hat an meinem Beruf relativ wenig geändert. Erst seitdem ich die Reaktionen auf das, was ich schreibe, als organischen Teil eines Textes betrachte, und das Antworten auf Kommentare als Teil der (in diesem Fall freiwilligen, unbezahlten, aber dennoch) Arbeit, hat sich tatsächlich etwas weiterentwickelt, das unbedingt weiterentwickelt werden musste. Der direkte Austausch mit Lesern, Kritikern, Gegnern und manchmal auch Spinnern hat meiner Meinung nach das Medium Geschriebenes Wort wieder zu einem echten Teil des öffentlichen Diskurses werden lassen, an dem mehr als ein paar Auserwählte teilnehmen. Und das ist wertvoll.

Aber es ist – darum darf man nicht herumreden – unendlich mühsam. Es gibt eine Menge Menschen, mit denen zu diskutieren anstrengend ist, die manche Dinge, die aus Sicht eines Autoren glasklar sind, nicht verstehen wollen oder können, was natürlich genauso gut daran liegen kann, dass sie nicht ganz so klar sind, wie der Autor sie sieht – aber früher hätte er das gar nicht gemerkt.

Das führt aus meiner Sicht nicht unbedingt dazu, dass Autoren durch das direktere Feedback besser werden. Manche sicher, viele nicht. Es hat einen viel direkteren Effekt, der offensichtlich schwer in Worte zu fassen ist, und der deshalb meist negativ umschrieben wird als der Faktor, der macht, dass „klassische Medienhäuser das Internet nicht verstehen“. Und der Satz ist, leider, sehr wahr. Die Kommentarspalte macht deutlich, warum.

Denn die nach unten offene und von überall zugängliche Kommentarspalte zeigt einen im Netz angebotenen Text als das, was er im Print nur unsichtbar war: Als Treffpunkt für eine Vielzahl von Menschen, die sich für Momente Gedanken um das selbe Thema machen. Eben als Knotenpunkt in einem Netz. Während Texte früher nur in eine Richtung abstrahlten, vom Sender zum Empfänger, wie es die klassischen Kommunikationswissenschaften lehren, strahlen die Gedanken heute in jede Richtung, vom Autoren zu Lesern, von Lesern zu Lesern und von Lesern zum Autor. Das Medium ist aus meiner Sicht nicht das Netz, aber das Netz ist der Marktplatz, auf dem das Medium Wort in unendlich viele Richtungen verteilt und zurückgespielt werden kann. Und das wirklich Lustige daran ist: Nur dann macht es wirklich einen Sinn.

Wir haben uns an die Phrase gewöhnt, dass der Buchdruck für die Aufklärung das entscheidende Medium war, aber in Wahrheit ändert das Medium an der Realität der Welt gar nichts. Veränderung gibt es erst, wenn zwei Menschen – in diesem Fall: zwei Aufgeklärte – sich miteinander verbinden, austauschen und so die neue Erkenntnis Realität werden lassen. Ein einzelner Aufgeklärter, der allein zuhause sitzt und liest, hat einen netten Abend. Zwei, die sich erkennen und feststellen, dass sie eine gemeinsame Überzeugung teilen, sind die Keimzelle der Entwicklung der Welt.

Der Sinn, Informationen auszutauschen, besteht darin, seinen Platz in der Welt zu finden, seine Umgebung zu verstehen und sich oder die Umgebung so anzupassen, dass ein Leben daraus wird. Einen Gedanken zu lesen, in zu verarbeiten und für sich selbst zu akzeptieren macht im Kopf des Lesers einen Unterschied. Aber nur da – in einem Paralleluniversum. Wenn Journalismus für sich in Anspruch nimmt, das Handwerk des Beschreibens der Welt zu sein, zum Zwecke der Befähigung der Menschen zum Umgang mit der Welt, dann ist der eigentliche Sinn nicht nur der, Menschen zu informieren. Die Menschen müssen sich über die Informationen erst austauschen, bis sie wirklich sinnvoll werden. Wir sind Stofflieferanten, aber damit Stoff etwas nützt, müssen die Menschen sich Kleider daraus nähen. Aber der Umgang der Häuser, die „das Internet nicht verstehen“, war eben bisher genau gegenteilig: Die Auseinandersetzung in den Kommentarspalten, die Diskussionen, das Kleidernähen aus dem Stoff Information, werden an vielen Stellen immer noch missachtet oder ganz ignoriert. Das ist einigermaßen dämlich.

Ich habe das schon einmal geschrieben, und ich werde mich daran messen lassen: Ich glaube, dass ein Stefan Niggemeier, der einen Artikel schreibt und dafür 953 Kommentare bekommt (bis selbst er ermattet die Kommentarspalte schließen muss), die bessere Medienmarke ist als eine, die 953 Artikel schreibt und dabei nur einen Kommentar bekommt, den sie wirklich liest, beachtet und der sie zum Reagieren verleitet. Und bessere Marke heißt: Den einen wird es in 20 Jahren noch geben. All die anderen nicht.

Was Journalisten denken, wenn Sie „Sparpaket“ hören

Wir erleben am so genannten Sparpaket gerade ein Paradebeispiel dafür, wie sehr unser Denken von Metaphern und Verständnisrahmen bestimmt wird – und wie wenig von rationalen Gedanken. Und natürlich, wie diese Tatsache benutzt wird, um Politik durchzusetzen.

Das Wort „Sparen“ setzt bei uns eine Kette von Assoziationen in Gang, die seit der kleinsten Kindheit verankert sind. Sparen ist nötig, wenn man etwas möchte, es wird belohnt und ist oft unumgänglich. Vor allem aber ist Sparen immer verbunden mit einem persönlichen Budget: Familien sparen für den Sommerurlaub, einen neuen Fernseher oder, per Bausparvertrag, auf ein Haus. Und wenn eine Familie – gerade eine gern genutzte und kaum hinterfragte Phrase – „über ihre Verhältnisse gelebt hat“, dann muss sie sparen, um das Konto wieder auszugleichen. Das entspricht in den Augen vieler Kommentatoren der heutigen Haushaltssituation der Republik. Zumindest wird es so dargestellt. Und, wegen der tief verankerten Sparmetapher in unserem Unterbewusstsein, quasi instinktiv verstanden.

Das Problem dabei ist, dass der öffentliche Haushalt mit dem privaten Haushalt einer Familie oder eines Unternehmens sehr wenig gemein hat. Wenn wir privat Geld ausgeben, dann ist es für uns weg. Wenn wir als Allgemeinheit aus unserem Staatshaushalt Geld verteilen, dann ist es in einer anderen Tasche, kann aber trotzdem auf vielen Ebenen unserem gemeinsamen Wohlstand dienen. Um nur eine der häufigsten metaphorischen Phrasen zu erwähnen: Es wird gerne angeführt, die Schulden, die wir heute machen, lasteten auf kommenden Generationen. Das ist natürlich überhaupt kein Automatismus, vor allem nicht in einem Land mit einer Sparquote wie der deutschen. Würden die Deutschen, die heute in der Lage sind, Geld zu sparen, dieses Geld über Bundeswertpapiere dem Staat zur Verfügung stellen, dann bekämen sie oder ihre Kinder es im Gegenteil mit Zinsen zurück, während heute davon wichtige Investitionen in die Zukunft getätigt werden könnten. In jedem Fall wird jemand an den Schulden verdienen, warum also nicht wir? Abgesehen davon, dass der Staat sein Geld ja nicht einfach ausgibt, sondern investiert: In Infrastruktur, Bildung oder zumindest – im Falle der Transferleistungen – in die Binnennachfrage.

Sparen ist also nicht gleich Sparen, aber die politische Auseinandersetzung wird sehr bewusst über diese Verständnisrahmen geführt – was man schon daran sieht, dass dieses so genannte Sparpaket mit faktischem Sparen, dem Zurücklegen von Geld für schlechtere Zeiten oder große Anschaffungen, überhaupt nichts zu tun hat.

Die Metapher vom Sparen hat einen erwünschten Nebeneffekt. Wenn man den Staat unterbewusst als privaten Haushalt versteht, der weniger Geld ausgeben muss, weil er eben nicht mehr hat, der findet den Staat in einer Situation, in der er „schmerzhafte Einschnitte“ machen muss, wie eine Familie, die ihre jährliche Spende an eine wohltätige Organisation einschränken muss, weil sie das Geld dafür eben einfach nicht hat. So scheint es plötzlich unumgänglich, arbeitslosen, alleinerziehenden Müttern von Säuglingen auch noch die 300 Euro Kindergeld zu streichen, die ihnen nach ordnungspolitischen Gesichtspunkten ja nicht mehr zustehen, seitdem Frau von der Leyen aus dem Erziehungsgeld das Elterngeld und damit einen Lohnersatz gemacht hat. Analog zur Verantwotung einer Familie für ihre privaten Finanzen wird die Verantwortung des Staates (also von uns allen) für seine Finanzen über das gestellt, was eigentlich die Kernaufgabe des Staates ist: Seinen Bürgern die Möglichkeit zu bieten, in Freiheit zu prosperieren, und sie vor den Folgen der großen Lebensrisiken zu schützen.

Das große Problem ist, dass die große Erzählung vom Sparpaket schon nicht mehr diskutiert werden kann, wenn man die Begrifflichkeit und damit die Metapher akzeptiert hat. Innerhalb des Verständnisrahmens Sparpaket sind nur noch Details zu kritisieren, nicht mehr die grundsätzliche Entscheidung darüber, was wir von und mit unserem Staat gestalten wollen. Es fehlen die Worte dafür.

Natürlich ist dieses Sparpaket nicht „gerecht“, und ich kann nicht eine Sekunde lang glauben, dass irgendjemand, der das behauptet, es wirklich denkt. Was für ein unfassbares Arschloch müsste das sein. Wenn wir es analog zu dem Beispiel von der Familie betrachten, die überlegt, welche wohltätige Spende sie in diesem Jahr einspart, dann müsste man sagen, natürlich wäre es zum Beispiel berechtigt, wenn sie weiter für die Minenopfer überweist aber nicht mehr für die missbrauchten Kinder. Aber erstens ist das zwar berechtigt, aber weit von jeder Definition von „gerecht“, und zweitens befinden wir uns schon wieder in einer falschen Metapher: Empfänger von Transferleistungen in Deutschland erhalten keine Spenden, sie bekommen das, was ihnen zusteht, was uns allen in ihrer Situation zustände.

Ihnen das wegzunehmen, weil wir eine Euro- oder was auch immer Krise haben, für die die Bürger Deutschlands am wenigsten können, ist nicht nur ungerecht. Es widerspricht dem Versprechen von dem, was dieses Land ist. Es verleugnet das, was wir von unserem Staat wollen.

Und da ist sie plötzlich, die große Metapher, die niemand zu benutzen wagt gegen das jämmerliche Sparen und Stutzen, gegen die Interessenpolitik der Lobbys. Die Metapher ist Deutschland. Wir alle. Es geht nicht um einzelne Familien, die sich gegen diesen Staat behaupten, sondern darum, dass wir alle gemeinsam mit der Gegenwart umgehen müssen, und das braucht die Bereitschaft von allen. Aber dann ist es nicht einmal mehr eine echte Herausforderung.

Nur so, als Beispiel: Ein Paket von gut 80 Milliarden über drei Jahre bei einer Bevölkerung von gut 80 Millionen benötigt rund 1000 Euro von jedem, also 333 Euro pro Jahr. Das bedeutet, eine Alleinerziehende, die von Hartz IV lebt und in Zukunft die 300 Euro Elterngeld nicht mehr erhält, gibt während eines Jahres für sich und ihr Kind fast doppelt so viel, wie sie innerhalb von drei Jahren müsste – und finanziert damit einen unangetasteten Millionär und sein Kind mit.

Und das kriegen wir nicht anders geregelt? Das ist das, von dem uns Medien erzählen wollen, es wäre gerecht und alternativlos? Das ist Deutschland?

Mein Deutschland ist das nicht. Da bin ich Patriot.

Bundespräsident Köhler tritt aus

Man musste schon eine Menge falsch verstehen wollen, um Horst Köhlers Ausführungen zur militärischen Notwendigkeit der Sicherung von Handelswegen auf den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr zu beziehen, aber eine Tatsache bleibt doch bestehen: Er hat Unsinn geredet. Selbstverständlich und ohne jedes Fitzelchen Relativierung dürfen deutsche Soldaten nicht in fremde Länder einmarschieren, um Handelswege zu sichern. Man kann wohl ohne Zweifel davon ausgehen, dass Köhler sich in seinen Einlassungen auf den Einsatz der Bundesmarine in den internationalen Gewässern am Horn von Afrika bezogen hat, aber gesagt hat er es nicht.

Insofern ist die Kritik darauf albern gewesen, aber sachlich nicht falsch. Auch ein Bundespräsident muss in der Lage sein, sich zu berichtigen, wenn er objektiven Stuss redet. Und darüber zurückzutreten, wehklagend über den mangelnden Respekt gegenüber seinem Amt, fordert mir nicht gerade Respekt ab. Im Gegenteil, ich finde es armselig. Der Respekt gegenüber dem Amt hätte in diesem Fall vor allem von Köhler selbst mehr verlangt.

Aber die Frage, die bleibt – nachdem von diesem Bundespräsident selbst nichts bleiben wird – ist doch, ob dieses alberne, respektlose Spielchen vom absichtlichen Falschverstehen, das Politiker und Kommentatoren quer durch die politische Farbenlehre so gerne spielen, wirklich irgendwen nach vorne bringt.

Die genau gegenläufige Option beherrschen unsere Verfassungsorgane allerdings auch: Immerhin haben wir einen Vizekanzler, der Allgemeinplätze mit der Phrase beginnt „Man wird doch wohl noch sagen dürfen.“

Interessiert eigentlich jemanden, was in Griechenland wirklich passiert?

Ich bin seit einer Woche in Griechenland (ein Nebenprodukt der Reise liest man hier), und einer Sache war ich mir sicher: Die unterirdische Qualität der Berichterstattung in Deutschland über die Krise lag aus meiner Sicht auch daran, dass die deutsche Presse in der Post-Korrespondenten-Ära einfach zu wenig oder gar keine Leute im Land hat, zu wenig Experten, zu wenig Journalisten, die ihre Geschichten nicht einfach voneinander abschreiben. Denn es gibt in Deutschland nur eine handvoll Kollegen, die von diesem komplizierten Land eine Ahnung haben (aus dem Stand fallen mir ein: Gerd Höhler, Niels Kadritzke, Eberhard Rondholz, Michael Thumann und Christiane Schlötzer). Sie berichten deshalb kein bisschen weniger kritisch, aber auf der Grundlage von Tatsachen, nicht von den Thesen, die sich manche Redaktionen mit einem eher begrenzten Blick auf die Welt ausdenken.
Wenn Journalisten vor Ort sind und sich ein Bild von der Lage machen können, selbst mit Menschen sprechen und wirklich wissen wollen, was passiert, dann – das habe ich mir vorgestellt – ist die Griechenland-Krise immer noch eine Herausforderung, aber eine für einen Journalisten beherrschbare. Aber ich habe mich getäuscht.
Heute morgen lese ich auf Spiegel Online eine Geschichte mit der Überschrift „Sanierungspaket: Griechen verzweifeln an der Schuldenkrise“. Der Reporter berichtet aus Athen. Aus dem Fünf-Sterne-Hotel Grande Bretagne schräg gegenüber dem Parlament, um genau zu sein, und er hat tatsächlich mit einem Griechen gesprochen: Einem Kellner im Restaurant auf der Dachterrasse des Hotels. Sollte er das Gebäude je verlassen haben, dann findet sich dafür kein Hinweis in seinem Text.
Eine „beispiellose Serie von Protesten“ steht seiner Recherche nach bevor, und dafür gibt es zwei Indizien in seinem Text: Zum einen die Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Politei am 1. Mai, die natürlich auch die Bebilderung des Textes hergeben, und eine repräsentative Umfrage, nach der fast 86 Prozent der Griechen sich „unsicher fühlen“. Dass gleichzeitig je nach Umfrage zwischen 70 und 80 Prozent der Griechen das Sanierungspaket für alternativlos halten bleibt unerwähnt.
Ich hätte nicht einmal erwartet, dass sich der Reporter die Demostration mit eigenen Augen aus der Nähe ansieht. Ich kann verstehen, dass eine Horde aufgebrachter Männer, deren Sprache man nicht versteht, einen Reporter Abstand halten lassen. Aber vielleicht hätte ein Blick auf die roten Fahnen der Demonstranten genügt, um sich einen zweiten Gedanken darüber zu machen, wer da demonstriert. Einen Hinweis darauf gibt er selbst: „Raus, IWF“ sei „jetzt schon auf etlichen Plakaten in Athens Stadt zu lesen“. Die Gewerkschaften hätten für Mittwoch zu einem Streik aufgerufen.
Tatsächlich heißt das Bündnis, das zu diesen Streiks aufruft und die Demonstrationen organisiert PAME (es ist eine Abkürzung, das Wort bedeutet aber auf griechisch „gehen wir“, hier in etwa im Sinne von „auf geht’s“). Und PAME bezeichnet sich selbst als „Militante Arbeiterfront“ und als „Allianz der klassenbewussten Gewerkschaften in Griechenland“. Sie gehört zu stalinistischen kommunistischen Partei KKE, die jedes Programm jeder Regierung als Angriff des Kapitals auf das Proletariat begreift. Und, muss man es sagen, sie repräsentiert nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Von ihnen auf den Seelenzustand „der Griechen“ zu schließen ist vergleichbar mit dem Versuch, aus den Mai-Krawallen in Berlin-Kreuzberg und im Hamburger Schanzenviertel Rückschlüsse auf die Meinung der deutschen Bevölkerung zu ziehen. Es ist falsch.
An der SpOn-Geschichte haben zwei Journalisten gearbeitet. Ich weiß nicht, ob einer von ihnen Griechisch spricht (der Name des zweiten, unter „Mitarbeit“ geführten Autoren ist an sich türkisch, aber es gibt sehr viele Griechen mit türkischen Namen. Lange Geschichte). Aber das wäre nicht einmal nötig gewesen: PAME veröffentlicht ihre Pressemitteiliungen regelmäßig später auch auf Deutsch. Man müsste es nur wissen wollen. Recherche auf der Dachterrasse eines Luxushotels reicht da nicht aus.

PS. Um noch ein Positiv-Beispiel zu geben (und tatsächlich ebenfalls auf SpOn): Hier beschreibt Gerd Höhler die Gründe der Krise sehr gut – und das vor anderthalb Jahren!

Die Inoffizielle BILD-Kampagne

Ich musste, ehrlich gesagt, lachen, als ich zum ersten Mal gesehen habe, dass die Bild-Zeitung ihre Kampagnenberichterstattung gegen den DSDS-Kombattanten Menowin Fröhlich in großen Lettern zur „Offiziellen Bild-Kampagne“ deklarierte – unter dem Motto: „So ein Typ darf nicht Superstar werden.“ Bild sagt: nein. Auch wenn das dem einen oder anderen „solchen Typ“ schon gelungen sein soll.
Die lustige Implikation ist natürlich, dass es möglicherweise auch schon inoffizielle Bild-Kampagnen gegeben hat. Aber ich komme immer mehr zu dem Eindruck, dass es wahrscheinlich sehr viel weniger sind, als man denkt. Denn bewusste Kampagnen sind gar nicht nötig, wenn man es schafft, bei jedem Thema das richtige Mind-Set zu vertreten.
Deutschland sucht den Superstar ist zum äußeren Symbol eines scharfen Sozial-Darwinismus geworden: Das Format feiert das Sich-durchsetzen-wollen-um-jeden-Preis, das Gewinnerprinzip, und das in einer nie gesehenen Härte. Man kann so etwas gut finden oder schlecht, aber schon die Terminologie, die in der Sendung benutzt wird, zeigt, dass es um mehr geht als den Sieg in einem Gesangswettbewerb.

Stefan Niggemeier hat sich die Arbeit gemacht, den Schlussmonolog von Marco Schreyl im Finale von DSDS zu transkribieren. Und Schreyl sagt unter anderem das:

Wenn sich der Sieger dieses Kampfes nicht dumm anstellt, wird er für lange Zeit ausgesorgt haben. Der Sieger bei DSDS bekommt: all das! Der Verlierer: nichts! Der Sieger steht im Licht. Der Verlierer steht für immer in seinem Schatten. Und das ist ein Schicksal, mit dem sich der Verlierer wahrscheinlich niemals versöhnen wird.

Prägnanter kann man es wohl nicht in Worte fassen.

Dabei tritt ein Effekt ein, den man oft an sich selber beobachten kann, unter anderem dann, wenn man „die Bild ironisch liest“: Man fragt sich, ob es tatsächlich Menschen gibt, die das alles ernst nehmen. Und wie dämlich sie dafür sein müssen. Glaubt irgendjemand dieses aufgeblasene, pathetische DSDS-Getöse?

Es wirkt wie ein Rätsel, aber die Antwort ist erstaunlich eindeutig. Das Problem ist: Die Antwort ist für exakt die Menschen, die sich diese Frage stellen, nicht nachvollziehbar. Denn die Bild genau wie DSDS zielen auf einen völlig anderen Verständnisrahmen.

Wir haben gelernt zu glauben, dass Aufklärung funktioniert. Unser Verständnisrahmen funktioniert so: Wenn jemand alle Informationen zur Verfügung hat, und diese Informationen eindeutig sind, dann wird der Mensch auch richtig entscheiden. Aber die Realität überrennt uns pausenlos mit dem Beweis des Gegenteils. Als Beispiel: Mitten in der schwersten Krise der unregulierten Marktwirtschaft erzielt die FDP, die Partei des unregulierten Marktes, ein Rekordergebnis. Die Frage ist: Wie kann das sein? Kann es sein, dass Menschen gegen ihre eigenen Interessen wählen? Die Antwort ist: absolut. Und es lohnt sich, die Gründe zu untersuchen. Denn die Aufklärung, wie wir sie verstehen, funktioniert viel zu oft nicht.

Der Linguist und (doofes Wort) Kognitionswissenschaftler George Lakoff weist in seinem Buch The Political Mind nach, dass wir bestimmten Fragestellungen mit bestimmten Denkarten begegnen – und dass diese viel weniger auf bewusstem Nachdenken oder dem Abwägen von Informationen beruhen, als wir es gerne hätten. Sie sind unterbewusst und so lange angelernt, dass sie quasi miteinander verlötet sind. Denn wir denken einerseits in Metaphern und verbinden andererseits Dinge miteinander. Und wir belegen jede Metapher mit einem Wert – sie ist gut oder schlecht. Es braucht ein paar Schritte, um das zu erklären, aber ich verspreche, es lohnt sich.

Zum Beispiel: Wir halten jemanden mit einer „warmen Persönlichkeit“ für gut. Ein kühler Mensch ist schlecht. Das ist eine Metapher, und sie ist gelernt: Wenn unsere Mutter uns in den Arm genommen hat, dann war es warm. Und treten Dinge oft genug gleichzeitig auf, dann verlöten wir sie unbewusst miteinander. Unser Verständnisrahmen ist: warm ist gut, kalt ist schlecht.

Nun sind nicht alle Dinge für jeden gleich: Lakoff erklärt das Verständnis für konservative und progressive Verständnisrahmen letztlich mit unserem Verständnis für die erste und am tiefsten gelernte Form von Regierung, die wir erleben: unsere Familie (und dabei entscheidet nicht unsere eigene Familie unser politisches Verständnis, sondern unser Verhältnis dazu. Man kann die Art, wie man erzogen wurde, auch mehr oder weniger konsequent ablehnen). Wir verstehen unsere Gemeinschaft in Familienmetaphern, und das Regierungsoberhaupt als Vaterfigur (selbst Merkel, aber dazu kommen wir noch). Und es gibt ganz unterschiedliche Familienbilder.

Das konservative Familienbild ist das des strengen Vaters. Er entscheidet, ihm ist zu gehorchen, und das Gehorchen zahlt sich aus. Disziplin, Fleiß und Leistung führen zum Erfolg. Ungehorsam und Widerspruch führen ins Verderben. Im konservativen Veständnisrahmen ist Disziplin also moralisch gut, Widerspruch schlecht. Die Kinder sind dem Vater gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet.

Das progressive Familienbild ist das der unterstützenden Familien, in der gleichberechtigte Partner gemeinsam entscheiden und in der die Verantwortung geteilt wird. Hier sind auch die Eltern (Geschlechterrollen lösen sich auf) gegenüber den Kindern in der Verantwortung stehen. Es ist im Prinzip ein Modell der innerfamiliären Demokratie, in der jeder eine Stimme hat. Gemeinsamkeit ist gut, Empathie ist gut, Egoismus dagegen schlecht.

Wir alle haben verschiedene Verständnisrahmen, kaum jemand ist nur konservativ oder nur progressiv, aber wir können jede Frage nur mit jeweils innerhalb eines Rahmens verstehen und moralisch beantworten. Noch einmal: Was wir in welcher Frage gut finden, was wir für moralisch richtig halten, hängt nicht von den Informationen ab, die wir bekommen – sondern damit, welchen Rahmen wir mit der Frage verbinden. Die Frage ist, welchen Wert wir mit welchem Rahmen verlötet haben.

In diesem Sinne ist DSDS, wie Marco Schreyl es beschreibt, ein zutiefst konservatives Format: Leistung, Disziplin und Fleiß, unter den Augen des strengen Dieter Bohlen, führen zum Erfolg. Wenn Bild entgegen all unserer Erfahrung mit Popkultur schreibt, dass ein lügender, gewalttätiger oder möglicherweise gar Drogen konsumierender Halbsympath, der lieber feiert als etwas Vernünftiges zu tun, kein Star werden darf (sorry, Keith Richards!), dann entspricht das exakt dem konservativen Verständnisrahmen. Wer in der Gruppe der ursprünglich angetretenen Sänger der beste Teamplayer war, wer am meisten für die Gruppe getan hat, spielt überhaupt keine Rolle. Es gilt: Disziplinlosigkeit + Faulheit = kein Erfolg = schlecht.

Das ist die Offizielle Bild-Kampagne. Und sie ist aus meiner Sicht nicht angreifbar. Das kann man alles finden. Und trotzdem offenbaren sich darin die Probleme, über die Menschen grübeln, wenn ihnen ein Medium das unbestimmte Gefühl gibt, nicht die Wahrheit zu sagen, obwohl die dargestellten Fakten im Prinzip alle stimmen (und das bezieht sich keineswegs nur auf die Bild, sie ist nur so groß, dass sie sich als Beispiel am besten eignet). Das ungute Gefühl kommt daher, dass sich der Leser im für ihn falschen Rahmen bewegt. Es wäre zum Beispiel kaum denkbar, dass die Bild-Zeitung eine Kampagne zugunsten des verurteilten Schlägers gestartet hätte (vielleicht unter dem Motto „Resozialisierung“?) – sie wäre aus dem Rahmen gefallen.

Die Probleme sind erstens, dass die Wertung „schlecht“ eine moralische ist, und dass zweitens diese Rahmen – wenn sie einmal etabliert sind – auch in die andere Richtung funktionieren. Wer einmal akzeptiert hat, dass Disziplin und Fleiß zum Erfolg führen und der Erfolgreiche (weil er auf den „strengen Vater“ gehört hat) moralisch gut ist, der wird nicht umhin kommen, dem Erfolglosen unterbewusst Faulheit und Disziplinlosigkeit zu unterstellen und das moralisch verwerflich zu finden.

Wir erleben es pausenlos: Guido Westerwelle hat es (wenn nicht bewusst dann fahrlässig) geschafft, Hartz-IV-Empfänger zu faulen und damit moralisch schlechten Menschen abzustempeln. Das gleiche Schicksal traf gleich die gesamte griechische Bevölkerung im Zuge der drohenden Staatspleite. Und ohne Bushs Metapher vom „Krieg gegen den Terror“ wäre es wahrscheinlich unmöglich gewesen, Soldaten nach Afghanistan zu schicken, denn Terrorismusbekämpfung war bis dahin im Verständnisrahmen als Aufgabe für die Polizei und die Geheimdienste fest verankert. Das ist also die Inoffizielle Kampagne: Durch packende Metaphern den Verständnisrahmen so zu verschieben, das plötzlich die Ausnahme zur Regel wird, und der konservative Denkrahmen zur Grundlage der öffentlichen Diskussion. Wenn DSDS zur Metapher für das Leben wird, dann wird das Gemeinwesen von der Metapher des Gewinnens und Verlierens bestimmt – und jeder ist selbst schuld, wenn er es nicht packt.

In letzter Konsequenz ist es auch das, was Westerwelle offenbar versucht hat: Den Staat aus der Verantwortung für den Bürger zu nehmen, und im Gegenteil den Bürger verantwortlich zu machen für das Wohlergehen des Staates. So lange der Mythos aufrecht erhalten wird, dass jeder es aus eigener Kraft schaffen kann, ist auch jeder dafür verantwortlich, wenn er es nicht schafft. Im Zuge so einer Debatte wirkt jemand, der die ihm gesetzlich zustehenden Leistungen in Anspruch nimmt schon fast als als unverschämt. Es soll Hartz-IV-Empfänger gegeben haben, die Westerwelles Thesen zugestimmt haben. Und das ist verständlich: Er hat es praktisch geschafft, den Bezug von ALG II als moralisch falsch hinzustellen – und niemand ist gern schlecht. Da stimmt man lieber gegen seine eigenen Interessen.

Nun glaube ich nicht an objektive oder neutrale Medien und ich finde es nicht verwerflich, wenn ein Medium wie die Bild innerhalb eines konservativen Verständnisrahmens agiert. Man kann höchstens der progressiven Konkurrenz vorwerfen, dass sie zu doof ist, ihre Sicht der Dinge ähnlich effektiv zu vertreten. Worum es mir geht ist vor allem zu erklären, woher das Gefühl kommt, Geschichten in bestimmten Medien wären falsch oder tendenziös, obwohl die dargestellten Fakten richtig sind. Es geht dabei um eine Botschaft, die für Watchblogs wie den erfolgreichen Bildblog meist ungreifbar bleibt, weil sie sich nicht auf der Ebene von Fehlern oder bewusst einseitiger Berichterstattung abspielt, sondern unterbewusst.

Es hat aus meiner Sicht keinen Sinn, sich darüber zu ereifern, wie doof wohl viele Menschen sein müssen, um bestimmte Fernsehformate oder Zeitungen zu sehen und zu lesen. Sie sind es nicht. Sie werden nur innerhalb eines unterbewussten Verständnisrahmens abgeholt und (handwerklich gut) bedient. Diese Formate funktionieren, weil sie sich an dem orientieren, wie Menschen Informationen tatsächlich aufnehmen – und nicht an dem, von dem wir uns wünschen, dass es funktioniert. Meiner Meinung nach muss inzwischen, wo wir diese Zusammenhänge verstehen, verantwortungsvolles Medienmachen auch beinhalten, mit diesen Erkenntnissen umzugehen – und sie nicht nur denen zu überlassen, die behaupten, Erfolg in unserer Gesellschaft beruhe auf dem unerbittlichen Kampf Mann gegen Mann.

Journalist vs. Journalist. Alle verlieren.

So, jetzt reicht es aber wirklich: Auf der Webseite des Journalist, der Publikation des Deutschen Journalistenverbandes (Disclosure: dessen Mitglied ich bin), wurde, wie inzwischen wahrscheinlich alle wissen, über einen jungen Kollegen geschrieben, der offenbar in mehreren Texten Zitate zumindest eines, möglicherweise aber mehrerer nicht existenter Experten benutzt hat. Das ist selbstverständlich eine Geschichte, die man schreiben muss.

Nun haben die Journalisten des Journalist das so versemmelt, wie man es nicht versemmeln darf. Zur Anschauung habe ich den Artikel zumindest mal oberflächlich kommentiert (in eckigen Klammern). Here we go:

Erfundene Zitate [Schon die Dachzeile ist falsch. Noch weiß man nicht, ob die Zitate erfunden sind oder der Zitatgeber ein Betrüger war, aber die Zitate abgegeben hat. Hier hätte zumindest ein Fragezeichen hin gehört. Richtig wäre gewesen „Falsche Experten-Zitate“. Oder so.]

Welt-Gruppe und Südkurier trennen sich von freiem Autor

Der freie Autor Sebastian W–––––––– [Unkenntlichmachung von mir, hier steht im Original der volle Name des Kollegen, der hier nicht hätte genannt werden dürfen] hat offenbar [der Fairness halber hätte hier entweder ein „möglicherweise“ hin gehört, oder ein angeblich, falls es jemand behauptet] Zitate frei erfunden [Sebastian W. behauptet dagegen, er hätte nie Zitate erfunden, sondern wäre einem Hochstapler aufgesessen. Das hätte Der Journalist wissen können, wenn er die Einlassung des Betroffenen eingeholt hätte, was selbstverständlich hätte geschehen müssen. Offenbar hat der aber nach Ansicht der Journalist-Redaktion auf Anfragen nicht schnell genug reagiert (zwischen der Anfrage und dem Erscheinen des Artikels lagen 26 Stunden – angesichts der tatsache, dass die Geschichte Monate alt ist, ist das nicht unbedingt viel Zeit. Ich halte es für zu wenig Zeit)] – und die entsprechenden Texte an Spiegel Online, Welt Online und Südkurier verkauft. Springer erstattete Strafanzeige [allerdings erstattete Springer Strafanzeige gegen Unbekannt, nicht gegen Sebastian W. – Bis hier geht der Vorspann der Geschichte, deshalb wiederholt sich gleich ein Teil beim Beginn des Lauftextes].

Mindestens drei Redaktionen in Deutschland haben offenbar Artikel veröffentlicht, in denen Zitate frei erfunden waren [Natürlich ist der Satz, wie er hier steht, immer noch journalistisch falsch]. Nach Recherchen des Medienmagazins journalist und von MDR Sputnik hat der freie Autor Sebastian W–––––– [wieder die volle Namensnennung, wie im Folgenden noch mehrmals] unter anderem an Spiegel Online, den Südkurier und an Welt Online Texte verkauft, in denen sich ein Experte äußert, der womöglich gar nicht existiert. Die Redaktionen selbst haben von dem Verdacht unter anderem durch den Deutschen Presserat erfahren [übrigens im Dezember. Insofern war die Geschichte nicht so dringend, dass man auf die Antwort von Sebastian W. auf die Anfragen nicht noch ein bisschen hätte warten können].

„Recherchen der Welt-Gruppe haben den Verdacht bestätigt und darüber hinaus Zweifel an der Existenz weiterer von Herrn W–––––– zitierten Experten aufkommen lassen“, so Christian Garrels vom Axel Springer Verlag. Über die Zahl der betroffenen Texte machte Garrels keine Angaben. Offenbar hat der Autor aber nur vereinzelt Zitate erfunden, so dass der Betrug lange unentdeckt blieb [Das ist ein ungeheuerlicher Satz. Wenn der zitierte Springer-Vertreter keine Angaben macht, woher stammt dann die Einschätzung „offenbar“? So, wie es da steht, muss es eine Einschätzung der Redaktion sein, was sich ja auch manifestiert in der Feststellung, der Kollege „hat“ erfunden statt „hat möglicherweise“ oder „habe erfunden“. Und ganz schlimm wird es bei der Feststellung „so dass der Betrug lange unentdeckt blieb“ – das ist eine Vorverurteilung für eine konkrete Straftat. Nach Ansicht der Journalist-Redaktion hat Sebastian W. betrogen, und das ist nun wirklich eine Feststellung, die in diesem Land nicht Reporter treffen sondern Richter in einem Urteil]. Die Artikel – so heißt es aus einer der betroffenen Redaktionen – wären auch ohne die beanstandeten Passagen ausgekommen. Es handle sich also nicht um einen weiteren Fall Tom Kummer [hier fehlt der Hinweis, was ein „Fall Tom Kummer“ ist. Nur nebenbei]. Trotzdem haben die drei Medienunternehmen Konsequenzen gezogen.

„Da aus unserer Sicht ein schweres Fehlverhalten gegen Vertragsverpflichtungen und journalistische Grundsätze, insbesondere den Pressekodex, vorliegt, haben wir die Zusammenarbeit mit dem Autor sofort beendet, die von ihm erstellten Artikel vorsorglich offline gestellt und Strafanzeige erstattet“, so Garrels [Strafanzeige gegen Unbekannt, wohlgemerkt]. Auch im Archiv von Spiegel Online findet man nur noch einen Bruchteil der Veröffentlichungen des Autors. Die stellvertretende Redaktionsleiterin wollte sich zu dem Fall aufgrund eines „schwebenden Verfahrens“ nicht äußern [warum klingelt es bei einem Autoren nicht, wenn er das schreibt, nur ein paar Zeilen unter der eigenen Vorverurteilung?]. Der Südkurier hat die Zusammenarbeit mit W––––––– ebenfalls eingestellt.

Gegen alle drei Unternehmen hat der Presserat eine Rüge geprüft, aber verworfen. Nach Informationen des Medienmagazins journalist und von MDR Sputnik konnte das Gremium kein Fehlverhalten der Redaktionen selbst feststellen.

Der Autor Sebastian W–––––––– ist erst 25 Jahre alt und studiert an der Katholischen Universität Eichstätt Journalistik [was genau diese Identifizierung noch soll ist mir schleierhaft]. Trotzdem ist er kein Anfänger [da habe ich Einwände zur Definition von Anfänger, aber gut, was solls]. Auf seiner Internetseite listet er etwa 400 selbstverfasste [Ach so?] Artikel auf – unter anderem im Tagesspiegel, bei Stern Online, in der Zeit, in der Saarbrücker Zeitung und im Flensburger Tageblatt. Allein im Dezember 2007 brachte W–––––––– es laut seiner Webseite auf 25 Veröffentlichungen. Im vergangenen Oktober erhielt er den mit 1.500 Euro dotierten Kulturpreis des Rotary-Clubs Mittelholstein. Außerdem belegte er 2004 den dritten Platz beim Schülerzeitungswettbewerb des Spiegels in der Kategorie Reportage.

Sebastian W––––––––– war trotz mehrerer Anfragen per E-Mail und Telefon für eine Stellungnahme nicht zu erreichen [das finde ich ein bisschen perfide, denn die mehreren Anfragen kamen offenbar alle an einem einzigen Tag, und freie Journalisten sind auch manchmal einen Tag nicht zu erreichen. Sie sind auch keine Pressestelle, die erreichbar sein müsste. Aus meiner Sicht spielt dieser Satz eine Fairness vor, die es so nicht gegeben hat].

Update 26.3.2010, 17.50 Uhr: Kurz nach Veröffentlichung hat sich Sebastian W–––––––– beim journalist mit folgendem Hinweis gemeldet: „Ich darf bereits jetzt klarstellen, dass gegen mich nicht strafrechtlich ermittelt wird.“ [Ich kann nicht sagen, warum man beim Journalist diesen Hinweis nicht zum Anlass genommen hat, sich zu berichtigen. Aber es wäre nötig gewesen]

Um das klarzustellen: Ich habe keine Ahnung, was sich Sebastian W. hat zuschulden kommen lassen. Aber es reicht auch, ihm sein Fehler um die Ohren zu hauen, wenn man weiß, welche es sind. Und dass ausgerechnet das Organ des Verbandes, der die Rechte von Journalisten schützen soll, die Rechte eines Kollegen verletzt, ist furchtbar.

Nun hatte der Verband ein paar Tage Zeit, darüber nachzudenken und sich durchzulesen, wie zum Beispiel bei Stefan Niggemeier zu dem Fall diskutiert wird (hier und hier). Und dann haben sie darauf reagiert, in einer Stellungnahme (weil ich schon wieder an meinem laubsägegearbeiteten Blog scheitere nur der Hinweis, dass sie von den Kommentaren bei Niggemeier aus als PDF herunterladbar ist). Die entscheidenden Sätze in der Stellungnahme des DJV-Vorstandes sind:

Der BJV-Vorstand hat sich als Herausgeber des journalist die Rechchercheunterlage [sic!] vorlegen lassen. Er hat nach Prüfung der Unterlagen und der daraus resultierenden Fakten keinen Grund, an dem Kern des Beitrages „Welt-Gruppe und Südkurier trennen sich von freiem Autor“ (www.journalist.de) zu zweifeln.

Und ein paar Absätze später:

Der DJV-Bundesvorstand bedauert, dass die Frist zwischen Bitte um Stellungnahme an Sebastian W–––––– [Unkenntlichmachung von mir] (25. März) und Veröffentlichung des Online-Beitrages (26. März) den Eindruck erweckt, als habe Sebastian W––––––– keine Stellungnahme mehr abgeben können. Dieser Eindruck schadet dem Beitrag und bietet Kritikern Gelegenheit, die Inhalte insgesamt zu relativieren.

Meinen ersten Gedanken, nachdem ich das gelesen habe, darf man wahrscheinlich nicht schreiben, aber es war ein Zitat von Rahm Emanuel. Hier ist der zweite Gedanke, zur Sache:

Lieber DJV-Bundesvorstand, ich hoffe, ich habe oben deutlich gemacht, dass es genug Gründe gegeben hat, an diesem Artikel zu zweifeln. Und ich verstehe den Hinweis, dass die Fakten keinen Grund geben, „am Kern des Artikels zu zweifeln“ doch richtig wenn ich meine, dass der Artikel durchaus Raum für einige Zweifel in den Randbereichen zulässt? Das wäre aus meiner Sicht richtig, denn was auch immer Sebastian W. getan hat, gelten doch für den Umgang mit ihm die Regeln unseres Gewerbes. Und, verdammt, ausgerechnet der DJV-Bundesvorstand ist dafür da, für die Einhaltung dieser Regeln in jedem einzelnen Fall zu kämpfen. Gerade dann, wenn Journalisten unter Druck geraten, ob selbstverschuldet oder nicht.

Der Satz, der mir von Ihnen fehlt ist: Wir haben Fehler gemacht und dafür möchten wir uns entschuldigen.

Das wäre auch der Satz, der mir ein wenig Vertrauen in meinen eigenen Verband zurückgeben würde. Leute, Ihr seid für uns da. Also dafür, dass wir ordentlich arbeiten können. Nicht dafür, dass Ihr uns als erste schlachtet, wenn wir Fehler machen.

Ich weiß nicht, ob Sebastian W. Mitglied im DJV ist, aber wenn, dann könnte er vielleicht mithilfe des Verbandes juristisch gegen die Berichterstattung über ihn vorgehen?

Was wir schreiben, wenn wir vermuten, Jörg K. wäre unschuldig

Die Unschuldsvermutung ist eine großartige Errungenschaft: Bis zum Beweis des Gegenteils muss das Rechtssystem jeden Verdächtigen behandeln, als wäre er unschuldig. Das System, wie gesagt. Menschen können das praktisch nicht. Unser Gehirn ist nicht dafür gebaut, jemanden zu verdächtigen und gleichzeitig für unschuldig zu halten. Wer deshalb liest, dass ein bekannter Fernsehmoderator wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung in Untersuchungshaft genommen wurde, der wird ihn verdächtigen. Das heißt: Er wird ihm eine Schuld unterstellen. Vielleicht zu recht. Aber noch müssen wir der Fairness halber davon ausgehen, dass sich diese Geschichte ganz anders drehen kann. Dass K. unschuldig ist. Aber natürlich zeigt die Geschichte des zu unrecht wegen Vergewaltigung angeklagten TV-Moderators Andreas Türck, dass auch eine widerlegte Anschuldigung die Karriere eines Fernsehmannes zerstören kann.
Das also war die Situation der beteiligten Kollegen gestern: Sie hatten die Meldung vorliegen, dass K. wegen des Vorwurfs in Haft genommen wurde – in Haft in diesem Fall, weil er keinen festen Wohnsitz in Deutschland hat (was aus Sicht eines Haftrichters automatisch die Fluchtgefahr erhöht). Denn noch ist Jörg K. unschuldig. Die Untersuchungshaft bedeutet auch nicht, dass der Tatverdacht besonders dringend ist, wie manche Leser glauben. Nach dem Motto: „Sonst würden die ihn doch nicht einsperren!“ Doch, würden sie. Flucht- oder Verdunklungsgefahr sind Haftgründe. Mehr heißt das nicht.

Das ist die Situation, in der die Kollegen gestern quasi kollektiv entschieden haben, dass man diese Meldung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dann das Ende der Karriere von Jörg K. bedeutet, wenn er unschuldig sein sollte, unbedingt drucken und senden muss. Widersetzt haben sich dem praktisch nur die Kollegen der Tagesschau, und die müssen dafür heute zum Beispiel auf Meedia anhören, sie pflegten eine „Vogel-Strauß-Taktik“. Wörtlich wird dort argumentiert:

„Die Alternative wäre eine Absprache zum kollektiven Nicht-Berichten. Aber dies geht an der Realität vorbei. Ein bekannter Fernsehmann, der in U-Haft sitzt, ist eine Geschichte, die zu gut ist, als dass sie irgendein Medium, eine Boulevardzeitung zumal, liegen lassen würde.“

Kurz gesagt: Wenn sich alle wie Schweine verhalten, muss man sich eben auch wie ein Schwein verhalten. Und wenn die Tagesschau es nicht tut, dann macht sie ihren Job nicht richtig. Dieser Vorwurf ist so unvorstellbar abstrus, dass es mir schwer fällt, den Gedanken überhaupt nachzuvollziehen.
Der Meedia-Artikel von Stefan Winterbauer endet mit folgendem Absatz:

Ein Kommentator im Tagesschau Blog bringt es auf den Punkt: „Als Tagesschau und Tagesthemen genießen Sie höchste Glaubwürdigkeit, Sie sind Vorbild für seriöse Berichterstattung. K. ist durch seine Beiträge ein Gesicht Ihrer Nachrichtensendungen. Dazu nicht irgendeines, sondern eines der bekanntesten. Wenn dieses Gesicht nun überraschend aufgrund von K.s Inhaftierung nicht mehr auf dem Bildschirm zu sehen ist, haben die Zuschauer ein Recht, aus erster Hand zu erfahren, warum. Dazu hätte ich mir eine kurze, präzise, seriöse, zurückhaltende Meldung gewünscht. Eine, die dem Boulevard zeigt, wie es auch geht. Die einen Maßstab setzt.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Wenn das eine ernst gemeinte Argumentation sein sollte, ist es atemberaubend. Der Reihe nach wird hier also als wahr hingestellt, dass

– ausgerechnet die Tagesschau – eben weil sie so seriös ist – die Geschichten, die man anständigerweise nicht bringt, bringen soll.
– der Zuschauer ein Recht darauf hat, zu erfahren, warum eines der bekanntesten Gesichter vom Bildschirm verschwindet, und zwar offenbar an dem Tag, an dem das mögliche „Verschwinden“ sich in irgendeiner Art materialisiert.

Wenn also eines der bekanntesten Tagesschau-Gesichter krank wird und deshalb möglicherweise für einige Zeit oder für immer vom Bildschirm verschwindet, dann soll die Tagesschau bitte darüber berichten. Wenn die Gesichter Urlaub machen bitte auch. Und das alles bitte zwischen den sauber abgestimmten Berichten über all das, worüber die Boulevard-Medien in Bezug zumindest auf ARD-Moderatoren gerade herziehen. Hat nicht Jens Riewa mal gesagt, diese oder jene Schlagersängerin wäre eine „Granate im Bett“? Das zum Beispiel hätte man doch in der Tagesschau aufgreifen und in eine viel seriösere Nachricht umformulieren müssen, oder nicht?

Wenig überraschend ist die Antwort: nein, hätte man nicht.

In diesem Fall hat eine Medienmeute zu Ungunsten eines Kollegen ziemlich schändlich versagt. Wenn sich herausstellt, dass Jörg K. schuldig ist, dann gäbe es noch eine Menge Möglichkeiten, über den Fall zu berichten. Aber wenn sich der Fall Türck wiederholen sollte, dann hätte die Branche einmal mehr einem Kollegen aus einem niedrigen Reflex heraus das Leben zerstört. Weil man eben dabei sein wollte, als es alle gemacht haben. Das ist die eine Sache. Sie ist tatsächlich Realität, aber richtig ist sie deshalb noch lange nicht.

Dafür auch noch zu argumentieren und den wenigen redlichen Kollegen, die den Schmutz nicht mitmachen, Versagen vorzuwerfen, ist abenteuerlich. Winterbauer argumentiert

Aber spätestens, als K.s Anwalt sich öffentlich zur Sache geäußert hat, war der Fall ein Thema für jedes Medium.

Die „öffentliche“ Einlassung von K.s Anwalt war die Aussage, dass die Vorwürfe gegen seinen Mandanten frei erfunden sind. Nach Winterbauers Logik würde es in Zukunft also reichen, dass irgendein Mensch aus welchen Gründen auch immer einen juristisch relevanten Vorwurf gegen einen Prominenten erhebt. Dann ruft man dessen Anwalt an, und sobald er das dementiert hat man eine Geschichte. Das wäre natürlich für großartige Headlines gut: „Bundeskanzlerin bestreitet, den Eisbären Knut entführt zu haben!“ Aber journalistischen Grundsätzen entspricht es deshalb noch lange nicht.

Was auch immer in der Beziehung von Jörg K. schiefgelaufen ist, natürlich hat niemand von uns „ein Recht darauf“, es zu erfahren. Im Gegenteil: Jörg K. und seine Freundin haben zunächst einmal ein Recht darauf, dass es ihre Sache bleibt. Und wenn ihnen dieses Recht von den Medien genommen wird, wäre es die Aufgabe von Medienjournalisten, das anzuprangern. Oder, sagen wir es so: Dem wäre viel hinzuzufügen gewesen.

Nachtrag: Und was ich hier kompliziert und weitschweifig zu erklären versucht habe, bringt Stefan Niggemeier in klaren, geraden Sätzen aufs, na, Dings, nicht Papier halt. Deshalb empfehle ich es erst ganz am Ende meines Textes: Von Unschulds- und anderen Vermutungen.