Was Journalisten denken, wenn Sie „Sparpaket“ hören

Wir erleben am so genannten Sparpaket gerade ein Paradebeispiel dafür, wie sehr unser Denken von Metaphern und Verständnisrahmen bestimmt wird – und wie wenig von rationalen Gedanken. Und natürlich, wie diese Tatsache benutzt wird, um Politik durchzusetzen.

Das Wort „Sparen“ setzt bei uns eine Kette von Assoziationen in Gang, die seit der kleinsten Kindheit verankert sind. Sparen ist nötig, wenn man etwas möchte, es wird belohnt und ist oft unumgänglich. Vor allem aber ist Sparen immer verbunden mit einem persönlichen Budget: Familien sparen für den Sommerurlaub, einen neuen Fernseher oder, per Bausparvertrag, auf ein Haus. Und wenn eine Familie – gerade eine gern genutzte und kaum hinterfragte Phrase – „über ihre Verhältnisse gelebt hat“, dann muss sie sparen, um das Konto wieder auszugleichen. Das entspricht in den Augen vieler Kommentatoren der heutigen Haushaltssituation der Republik. Zumindest wird es so dargestellt. Und, wegen der tief verankerten Sparmetapher in unserem Unterbewusstsein, quasi instinktiv verstanden.

Das Problem dabei ist, dass der öffentliche Haushalt mit dem privaten Haushalt einer Familie oder eines Unternehmens sehr wenig gemein hat. Wenn wir privat Geld ausgeben, dann ist es für uns weg. Wenn wir als Allgemeinheit aus unserem Staatshaushalt Geld verteilen, dann ist es in einer anderen Tasche, kann aber trotzdem auf vielen Ebenen unserem gemeinsamen Wohlstand dienen. Um nur eine der häufigsten metaphorischen Phrasen zu erwähnen: Es wird gerne angeführt, die Schulden, die wir heute machen, lasteten auf kommenden Generationen. Das ist natürlich überhaupt kein Automatismus, vor allem nicht in einem Land mit einer Sparquote wie der deutschen. Würden die Deutschen, die heute in der Lage sind, Geld zu sparen, dieses Geld über Bundeswertpapiere dem Staat zur Verfügung stellen, dann bekämen sie oder ihre Kinder es im Gegenteil mit Zinsen zurück, während heute davon wichtige Investitionen in die Zukunft getätigt werden könnten. In jedem Fall wird jemand an den Schulden verdienen, warum also nicht wir? Abgesehen davon, dass der Staat sein Geld ja nicht einfach ausgibt, sondern investiert: In Infrastruktur, Bildung oder zumindest – im Falle der Transferleistungen – in die Binnennachfrage.

Sparen ist also nicht gleich Sparen, aber die politische Auseinandersetzung wird sehr bewusst über diese Verständnisrahmen geführt – was man schon daran sieht, dass dieses so genannte Sparpaket mit faktischem Sparen, dem Zurücklegen von Geld für schlechtere Zeiten oder große Anschaffungen, überhaupt nichts zu tun hat.

Die Metapher vom Sparen hat einen erwünschten Nebeneffekt. Wenn man den Staat unterbewusst als privaten Haushalt versteht, der weniger Geld ausgeben muss, weil er eben nicht mehr hat, der findet den Staat in einer Situation, in der er „schmerzhafte Einschnitte“ machen muss, wie eine Familie, die ihre jährliche Spende an eine wohltätige Organisation einschränken muss, weil sie das Geld dafür eben einfach nicht hat. So scheint es plötzlich unumgänglich, arbeitslosen, alleinerziehenden Müttern von Säuglingen auch noch die 300 Euro Kindergeld zu streichen, die ihnen nach ordnungspolitischen Gesichtspunkten ja nicht mehr zustehen, seitdem Frau von der Leyen aus dem Erziehungsgeld das Elterngeld und damit einen Lohnersatz gemacht hat. Analog zur Verantwotung einer Familie für ihre privaten Finanzen wird die Verantwortung des Staates (also von uns allen) für seine Finanzen über das gestellt, was eigentlich die Kernaufgabe des Staates ist: Seinen Bürgern die Möglichkeit zu bieten, in Freiheit zu prosperieren, und sie vor den Folgen der großen Lebensrisiken zu schützen.

Das große Problem ist, dass die große Erzählung vom Sparpaket schon nicht mehr diskutiert werden kann, wenn man die Begrifflichkeit und damit die Metapher akzeptiert hat. Innerhalb des Verständnisrahmens Sparpaket sind nur noch Details zu kritisieren, nicht mehr die grundsätzliche Entscheidung darüber, was wir von und mit unserem Staat gestalten wollen. Es fehlen die Worte dafür.

Natürlich ist dieses Sparpaket nicht „gerecht“, und ich kann nicht eine Sekunde lang glauben, dass irgendjemand, der das behauptet, es wirklich denkt. Was für ein unfassbares Arschloch müsste das sein. Wenn wir es analog zu dem Beispiel von der Familie betrachten, die überlegt, welche wohltätige Spende sie in diesem Jahr einspart, dann müsste man sagen, natürlich wäre es zum Beispiel berechtigt, wenn sie weiter für die Minenopfer überweist aber nicht mehr für die missbrauchten Kinder. Aber erstens ist das zwar berechtigt, aber weit von jeder Definition von „gerecht“, und zweitens befinden wir uns schon wieder in einer falschen Metapher: Empfänger von Transferleistungen in Deutschland erhalten keine Spenden, sie bekommen das, was ihnen zusteht, was uns allen in ihrer Situation zustände.

Ihnen das wegzunehmen, weil wir eine Euro- oder was auch immer Krise haben, für die die Bürger Deutschlands am wenigsten können, ist nicht nur ungerecht. Es widerspricht dem Versprechen von dem, was dieses Land ist. Es verleugnet das, was wir von unserem Staat wollen.

Und da ist sie plötzlich, die große Metapher, die niemand zu benutzen wagt gegen das jämmerliche Sparen und Stutzen, gegen die Interessenpolitik der Lobbys. Die Metapher ist Deutschland. Wir alle. Es geht nicht um einzelne Familien, die sich gegen diesen Staat behaupten, sondern darum, dass wir alle gemeinsam mit der Gegenwart umgehen müssen, und das braucht die Bereitschaft von allen. Aber dann ist es nicht einmal mehr eine echte Herausforderung.

Nur so, als Beispiel: Ein Paket von gut 80 Milliarden über drei Jahre bei einer Bevölkerung von gut 80 Millionen benötigt rund 1000 Euro von jedem, also 333 Euro pro Jahr. Das bedeutet, eine Alleinerziehende, die von Hartz IV lebt und in Zukunft die 300 Euro Elterngeld nicht mehr erhält, gibt während eines Jahres für sich und ihr Kind fast doppelt so viel, wie sie innerhalb von drei Jahren müsste – und finanziert damit einen unangetasteten Millionär und sein Kind mit.

Und das kriegen wir nicht anders geregelt? Das ist das, von dem uns Medien erzählen wollen, es wäre gerecht und alternativlos? Das ist Deutschland?

Mein Deutschland ist das nicht. Da bin ich Patriot.

Das Sparpaket und die Deutungshoheit

Ich habe persönlich einige Probleme mit der journalistenschulmäßig geforderten Trennung von Nachrichten und Meinungen, weil sie letztlich für utopisch halte. Sprache transportiert nie reine Fakten, und journalistische Sprache schon gar nicht, denn sie soll ja gerade lebendig und assoziativ sein. Rein faktische, korrekte Sprache braucht es eher, wenn es darum geht, Gesetzestexte so zu formulieren, dass eine Vielzahl von verschiedenen Fällen unter ihnen subsummiert werden kann. Und Gesetzestexte sind im Regelfall nicht besonders leserfreundlich.

Insofern habe ich kein Problem damit, wenn Medien ihre Meinung in nachrichtliche Berichte einfließen lassen. Im Gegenteil, ich finde es befreiend, wenn zum Beispiel der Economist Sachverhalte in einem Satz zusammenfassen kann, weil er gar nicht versucht, alle Argumente in einem Konflikt aufzuzählen, sondern schlicht und einfach Position bezieht.

Im Fall des aktuellen, als historisch verkauften Sparpaketes der Bundesregierung müssen Medien in Deutschland Stellung beziehen, weil es tatsächlich einen Riss quer durch unsere Gesellschaft zieht. Und wie gewohnt tut das niemand mit mehr Verve als die Bild-Zeitung, die in einem Beitrag erst gar keine Zweifel aufkommen lässt: „Darum ist das Sparpaket gerecht“* heißt die Geschichte, und sie endet mit der Zusammenfassung:

Im Klartext: Es geht vor allem um Sozialleistungen, die entweder nicht das erreichen, was sie erreichen sollen, oder die Zusatzleistungen aus besseren Zeiten. Sie zu streichen, soll nicht gerecht sein? Lachhaft.

Demnach kann man Hartz-IV-Empfängern das Elterngeld ruhig streichen, weil es schließlich als Ersatz für Arbeitslohn gedacht war, genau wie Hartz IV an sich schon. Und das ist ordnungspolitisch tatsächlich ein sauberes Argument. Dazu muss man der Meinung sein, dass die Hartz-IV-Sätze auch für Kinder ausreichen, aber auch das kann man irgendwie vertreten. Darum geht es mir hier nicht. Ich bin erstaunt über die Vokabel „lachhaft“. Denn ich hatte bisher zwei nicht besonders gut durchdachte Halbüberzeugungen.

Die erste ist: Bild wird im Zweifel das schreiben, was die Mehrheit der Menschen hören wollen. Und zweitens werden sie ihre Menschenverachtung immer genau so schlau verbrämen, dass man sie ihnen nicht direkt vorhalten kann. Aber offensichtlich braucht der Bild-Schützling Guido Westerwelle inzwischen direktere Unterstützung.

Eine Frau, die ein Kind bekommt und von Hartz IV abhängig ist, braucht Hilfe. Ihr diese Hilfe zu gewähren ist ein Gebot der Menschlichkeit und etwas, auf das eine Gesellschaft stolz sein kann. Ihr einen Großteil davon zu streichen kann in bestimmten Haushaltssituationen selbstverständlich unumgänglich sein, aber darauf zu bestehen, dass es „gerecht“ ist und jede Gegenposition „lachhaft“, ist nichts als menschenverachtend. Ich muss zugeben, dass mich zwar die Position der Bild in diesem Fall nicht erstaunt, wohl aber die Offenheit, mit der sie vertreten wird.

Die große Linie ist nicht geheim: Bild bezeichnet Vorschläge zur Erhöhung des Spitzensteuersatzes als „Schröpfen“ von Reichen und lässt den unerträglichen Ernst Elitz passend kommentieren:

Das ist der gute Deutsche: Er rackert, alles gelingt ihm, er hat Achtung vor seinem Nachbarn.
Auf ihn sind wir stolz!

In den Parteizentralen hingegen säßen Prototypen des „hässlichen Deutschen“, die anderen ihren Erfolg nicht gönnten.

Der gute Deutsche, der rackert. Der Arbeitslose, dem mehr zu geben als den Sozialhilfesatz, nur weil er ein Neugeborenes zu versorgen hat, nicht gerecht ist, sondern allein der Gedanke daran „lachhaft“. Ich hatte das in dieser Schärfe nicht erwartet, und ich glaube, dass diese Art der Diskussion – die nicht mehr fragt nach Notwendigkeiten der Haushaltspolitik, sondern die trennt nach guten Deutschen, auf die wir stolz sind, und schlechten Deutschen, die nur faul die Hand aufhalten – einen Keil in das Land treibt.

Allerdings auch zwischen bild.de und seine Leser: In der Abstimmung direkt unter dem eindeutigen Artikel bewerten bis jetzt 61 Prozent von angeblich 180000 Abstimmenden das Sparpaket als ungerecht.

*Dass die Überzeugung in Wahrheit nicht einmal in der Redaktion von bild.de flächendeckend vertreten ist, sieht man an der URL des Beitrages: http://www.bild.de/BILD/politik/2010/06/08/merkels-milliarden-sparpaket-wie-gerecht/ist-es-wirklich.html. Der letzte Teil deutet darauf hin, dass die Titelzeile einmal als Frage formuliert war: „Ist es wirklich ungerecht?“ Oder so.

Wer den Schaden hat, braucht für den Spot nicht zu sorgen

Es war klar, dass die Griechenland-Krise Einzug in die Popkultur halten würde, und das ist natürlich richtig. In manchen Fällen wird es sicher sogar witzig sein. Ich bin mir nicht sicher, ob der neue Spot dazu gehört, den KemperTrautmann für die Brauerei Paulaner gedreht hat, aber über Humor braucht man nicht streiten. Abgesehen davon, dass er offensichtlich nicht böse gemeint ist.

Ich habe trotzdem ein Problem mit dem Spot, auch auf die Gefahr hin, dass es mich wie einen schlechten Verlierer aussehen lässt. Denn ich bin ja nicht nur Grieche, ich bin auch ein deutscher Steuerzahler. Und in diesem Spot werde ich gleich zweimal verarscht.

Ganz kurze Zusammenfassung: Im „Paulanergarten“ sitzt der sympathische Bayer, der sonst Bier von Japanern schnorrt, und setzt dazu an, eine Gruppe Griechen zum Bier einzuladen. Doch die halten ihn davon ab: „Ihr habt schon genug bezahlt!“ Und der Bayer fügt sich und lässt sich einladen, mit dem Hinweis: „Ah, sind wir wieder flüssig?“

Wie gesagt, das ist sogar ein bisschen lustig. Und süß gemacht. Und gefährlicher Unsinn. Denn es wird zu der Legende beitragen, dass wir deutsche Steuerzahler so unglaublich viel Geld für Griechenland und andere südeuropäische „Pleitenationen“ bezahlt haben, während sich in Wahrheit die Aufwendung ziemlich genau beziffern lässt: mit null Euro.

Im Gegensatz zur Hilfe für die Banken in der Finanzkrise haben wir für die Griechen noch gar nichts bezahlt, und bei allem Respekt für Josef Ackermanns Zweifel halte ich ausgerechnet die Prognosen von Bankern in letzter Zeit für einen riesigen Haufen von Eigeninteressen getriebenen Scheißdreck.

Aber ich habe schon geschrieben, dass ich glaube, die Verbindung von der „Rettung Griechenlands“ oder wahlweise der „Euro-Rettung“ wird benutzt werden, um den Umschwung unserer Regierung von unsinnigerweise versprochenen Steuersenkungen zu Steuer- oder Gebührenerhöhungen zu erklären, ohne sich als die Lügner darstellen zu müssen, die sie nun einmal sind. Und wenn sich die „wir haben viel bezahlt“-Einstellung weiter durchsetzt, machen wir es ihnen unnötig einfach.

In der Realität freut sich das Manager-Magazin für die deutschen Unternehmen längst über die Schnäppchen, die gerade in Griechenland zu machen sind. Und das Ausschlachten von südeuropäischen Euroländern wird weiter gehen. Das ist traurig, aber es lohnt sich auch, nachzusehen, wer von der Situation tatsächlich profitiert. Und ich kann sagen: Die griechische Bevölkerung ist es nicht. Die ist noch lange nicht „wieder flüssig“

PS. Und weil das Schicksal mir offenbar beweisen will, dass ich doch noch nicht alles erlebt habe, bemitleidet die Bild jetzt die Griechen, die in dem Spot zum „Gespött“ werden.

Flattr!

In eigener Sache: Ich experimentiere jetzt mit Flattr. Was bedeutet, ich werde per Micropayment für Artikel bezahlen, die mir gut gefallen, und werde Lesern anbieten, das bei meinen Artikeln auch zu tun. Die letzten vier oder fünf haben jetzt schon so einen Button.

Ich weiß nicht, was dabei rauskommt, aber im schlimmsten Fall halt nix. Das ist dann wenigstens was zum Weitererzählen.

„Warum machen Sie Propaganda, Herr Diekmann?“

Eine ganze Zeit lang bin ich davon ausgegangen, dass die Hetzkampagne gegen Griechenland aus einer Mischung aus Vereinfachung, Faulheit und mangelndem Wissen in vielen Redaktionen entstanden ist. Aber das erklärt nicht mehr, was alles geschrieben wird. Es muss noch andere Gründe geben.
Die Bild-Zeitung druckt heute auf der Seite 2 ein Interview mit Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Stefan Mappus. Darin geht es um die Euro-Krise, und die drei Autoren von Bild fragen unter anderem:

Was kostet uns die Euro-Rettung?

Mappus erklärt, warum er hofft, dass die Euro-Rettung den deutschen Steuerzahler gar nichts kostet. Dann fragt die Bild-Runde:

Müssen wir jetzt sparen, weil die Griechen über ihre Verhältnisse gelebt haben?

Und Mappus antwortet:

Wir müssen Griechenland helfen und den Euro retten, um letztlich auch das Vermögen der kleinen Leute in Deutschland zu schützen. Sparen müssen wir, weil auch unsere eigenen Schulden zu hoch sind.

Als Überschrift für das Interview wählt Bild dann eine Frage, die gar nicht gestellt worden ist: „Warum müssen wir für die Griechen sparen, Herr Mappus?“

Das ist schlicht und einfach eine perfide Lüge, versteckt in einer Frage. Denn diese Headline impliziert natürlich schon die Tatsache, Deutschland müsste für „die Griechen“ sparen, was Stefan Mappus eindeutig gerade nicht sagt, und was nicht einmal die Bild-Runde in ihren Fragen zu behaupten gewagt hat – wahrscheinlich deshalb, weil sie wussten, dass es nicht stimmt. Aber spätestens nach dem Interview, beim Texten der Headline, wussten sie es natürlich. Ich kann nicht glauben, dass es ein zufälliger Fehler ist, wenn sie es trotzdem so darstellen.

Aber was ist der Grund, dass diese Kampagne selbst auf so abseitigen Wegen weitergeführt wird, jetzt, wo langsam jedem klar geworden ist, dass die Gefahr für die europäische Währung nicht von griechischen Rentnern ausgeht?

Die einzige Antwort, die mir einfällt, ist die, die ich lange nicht wahrhaben wollte: Griechenland soll und wird in den nächsten Wochen dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Steuern steigen werden anstatt zu sinken, wie es vor allem die FDP versprochen hat. Griechenland soll verantwortlich gemacht werden für den anstehenden Sparkurs, der lange vor der Wahl absehbar war. Wir werden den Namen Griechenland in Zukunft wohl im Zusammenhang mit jeder unpopulären Entscheidung hören, die die Bundesregierung zu treffen hat.

Die Kampagne der Bild, die selbst in den Augen des ehemaligen Bild am Sonntag-Chefredakteurs Michael Spreng an Volksverhetzung grenzte, funktioniert jedenfalls perfekt als flankierende Maßnahme zu dem Kurswechsel der schwarzgelben Regierung, die ihre Wahlversprechen – von denen sie wusste, dass sie sie nicht einhalten kann – nun eins nach dem anderen kippen wird. Und ich kann mir nicht helfen: Ich glaube angesichts der Rücksichtslosigkeit und des Nachdrucks, mit dem die Kampagne betrieben wurde, nicht mehr an Zufälle.

Griechenland, die Krise und die Gründe

Es ist viel geschrieben worden über die so genannte Griechenlandkrise, aber wenn ich gefragt werde, was ich denn als Lektüre empfehlen würde, am liebsten noch, ob ich nicht einen Link schicken könnte, dann habe ich ein Problem. Denn das einzige, das offenbar niemand aufgeschrieben hat, ist eine einfache, trocken Analyse der Entwicklung, die zu dem aktuellen Problem geführt hat. Und ich finde mich plötzlich in einer Situation, von der ich dachte, dass sie bei uns nicht vorkommt: Jener amerikanischen Situation, in der Blogger die Berichterstattung übernehmen, zu der den atemlosen „Mainstream-Medien“ offensichtlich der Antrieb fehlt – weil sie keine Quote verspricht, zu kompliziert ist oder weil sie politisch unerwünscht ist. Ich dachte, Deutschland wäre nicht so. Aber wenn ich zusammenzähle, wie oft alleine ich gefragt wurde, „was in Griechenland eigentlich los ist“, dann fürchte ich, es ist nun so weit.
Ich werde also versuchen, so einfach wie möglich ein paar Grundlagen zu beleuchten, und ich warne gleich, dass es kein Stoff ist, der sich für die Titelseite einer Boulevardzeitung eignet. Dafür ist es vielleicht zu komplex. Aber dafür hat es den Vorteil, der Realität zu entsprechen. Und so wahnsinnig kompliziert ist es nun auch wieder nicht.

Beginnen wir mit dem Euro, der nun plötzlich in Gefahr sein soll, weil Griechenland, das kaum drei Prozent der Eurozone ausmacht, in eine finanzielle Schieflage geraten ist.
Die gemeinsame kerneuropäische Währung birgt einige Risiken, das war allen klar, die an seiner Einführung beteiligt waren. Denn ohne Währungsschwankungen zwischen Ländern regulieren sich Ungleichheiten nicht mehr über den Wert des Geldes. Für die Länder der Eurozone, die eine weichere Währung mit stärkerer Inflation hatten (in der das Geld schneller an Wert verlor), war klar, dass mit einer neuen, härteren Währung mehrere Effekte gleichzeitig eintreten würden. Der erste ist, das die Preise steigen.
Es ist ein einfacher Prozess: Jeder Händler verkauft seine Ware in einem Währungsraum da, wo er den besten Preis erzielt. Und die neuen Hartwährungsländer vor allem in Südeuropa hatten ja gleichzeitig zu den Preissteigerungen das neue Phänomen, dass Geld plötzlich leichter zu leihen war als vorher, weil die Währung nun stabiler und wertvoller war als vorher. Insofern war auf der einen Seite mehr Geld da als vorher, auf der anderen Seite brauchten die Menschen aber auch mehr Geld als vorher. Und das Geld, das mehr da war, war ja auch nur geliehen. Das ist ein Kreislauf, der nur unter einer Bedingung funktioniert: Das geliehene Geld muss so investiert werden, dass es mehr Geld verdient, als es Zinsen kostet.
So funktioniert Marktwirtschaft: Ich leihe mir Geld, um ein Geschäft zu eröffnen. Das Geld kostet mich den Betrag X Zinsen in einer bestimmten Zeit, deshalb muss ich in derselben Zeit den Betrag X+Y verdienen, um meine Zinsen zu bedienen, möglicherweise den Kredit zu tilgen und noch Gewinn zu machen. Vor dieser Herausforderung steht jedes Unternehmen, und im Prinzip auch jeder Staat, auch in der Eurozone.

Aber das ist nicht alles: Um zu verdienen, muss ich konkurrenzfähig sein. Meine Produktivität muss stimmen. Ich kann tolle Produkte herstellen, aber wenn jemand anders vergleichbare Produkte billiger herstellen und deshalb billiger verkaufen kann, dann werde ich keinen Erfolg haben. Das ist keine Hexerei. Produktivität kann man auf zwei Arten steigern: Entweder, ich bezahle niedrigere Löhne, oder ich investiere in die Infrastruktur meiner Firma und verbessere so die Produktivität. Und wieder geht das Spiel los: Ich kann mir Geld leihen und es in die Infrastruktur investieren, so lange die Produktivitätssteigerung höher ist als die Zinsen, die ich zahle – dann kann ich mein Produkt wieder billiger anbieten als die Konkurrenz und so erfolgreich sein.

So funktioniert es für Firmen. Zwischen Staaten gibt es noch einen zusätzlichen Effekt: Wenn meine Währung im Verhältnis zu einer anderen schwächer wird, werden die Preise für meine Produkte für den anderen niedriger. Gleichzeitig muss ich vielleicht mehr Geld in den Umlauf meiner eigenen Volkswirtschaft bringen – ich habe also eine Inflation –, aber so lange ich genug mit meinen Produkten verdiene, ist das kein Problem. Es ist ein recht komplexes Gleichgewicht, aber auch keine Hexerei. Es ist der Job der Zentralbanken, dieses Gleichgewicht zu wahren, und sie machen gerne eine Zaubershow daraus, aber im Großen und Ganzen funktioniert das einigermaßen.

Im Euro-Raum gibt es diese Möglichkeit des Ausgleichs nicht mehr. Die Währung, der Wechselkurs zwischen den Ländern, steht fest. Und das, obwohl die Produktivität in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich war und ist.
Es war jedem klar, dass das Potenzial für Probleme birgt. Denn wenn ein Land auf lange Sicht produktiver ist als ein anderes, dann bricht das ganze System auseinander. Auf der anderen Seite wäre es fatal, die Produktivitätssteigerung in den Ländern künstlich zu begrenzen, denn ohne Wettbewerb gibt es keinen Anreiz, sich zu verbessern. Vor dieser Herausforderung standen die europäischen Finanzminister, die die Bedingungen für die Währungsunion ausgehandelt haben: Was tun wir, um gleichzeitig einen Wettbewerb zu ermöglichen und die Gleichheit herzustellen, für die früher der Markt über Währungsschwankungen gesorgt hat?
Sie haben sich auf einen Richtwert geeinigt: angepeilt werden sollten von jedem Staat unter aber nahe zwei Prozent Inflation. Über die Preissteigerung lässt sich viel regeln, und es gibt verschiedene Werkzeuge, die man einsetzen kann. Eines davon ist die Lohnpolitik, die unter die Tarifautonomie fällt, aber ja nicht im politischen Vakuum verhandelt wird. Tarifabschlüsse entstehen unter politischem Druck, und in Deutschland waren sie in den Jahren seit der Währungsunion extrem niedrig. Die Reallöhne in Deutschland fallen seit Einführung des Euro beständig – und das ist einer der Gründe, warum Südeuropa es nicht schafft, konkurrenzfähig zu werden.

Sehen wir uns das am Beispiel Griechenlands an: Kein anderes Land in der Eurozone hat nach Auskunft des Chef-Volkswirtes der UN-Handelskonferenz in den letzten Jahren mehr in die Produktivität investiert als Griechenland. In endgültigen Zahlen ist die Produktivität aber kaum gestiegen, weil die Lohnstückkosten gestiegen sind – eine unausweichliche Folge der angesprochenen Preissteigerungen im Euro-Raum. Die Wahrheit ist: Die griechische Politik war in diesem Punkt nicht so schlecht, wie sie dargestellt wird. Es gab einfach keine realistische Chance, aufzuholen, unter anderem, weil Deutschland sich nicht an die Abmachung gehalten hat, knapp zwei Prozent Inflation zu erzeugen, also zum Beispiel über Lohnerhöhungen Geld in den Umlauf zu bringen und die Nachfrage anzukurbeln. Der deutsche Außenhandelsüberschuss ist unter anderem erkauft mit dem Lohnverzicht der Angestellten, und das auf Kosten der Länder, die Außenhandelsdefizite eingefahren haben – und Deutschland exportiert 63 Prozent seiner Waren in die EU, vornehmlich in den den Euro-Raum. Und aufgrund des niedrigen Lohnniveaus hier können die südlichen Länder inklusive Frankreich nicht wettbewerbsfähig sein. Es wird gerne und mit einigem recht argumentiert, Deutschland hätte einfach „seine Hausaufgaben gut gemacht“, aber verschwiegen, dass es dabei die Vereinbarungen zum Euro unterläuft. Mit fatalen Folgen für die kleineren Länder.

Das ist das echte, strukturelle Problem des Euro. Es wird gerne beklagt, dass es keine zentrale Lenkungsstelle für europäische Finanzpolitik gibt, die im Zweifel Sanktionen verhängen kann. Aber in Wahrheit sind Sanktionen ein Mittel, das erst greift, wenn die Verabredungen und Verträge gebrochen wurden. Da ist Euroland wie jeder Sportverein: Wenn es so weit ist, dass man in die Satzung gucken muss, ist der Schaden schon passiert. Es gab und gibt den politischen Willen zur europäischen Einheit, aber offenbar keinerlei Disziplin dabei, sich an die Abmachungen zu halten. Die Griechen haben ihren Euro-Beitritt schon mit geradezu unglaublich geschönten Zahlen begonnen, was aus meiner Sicht den Tatbestand zumindest politisch den Tatbestand des Betruges erfüllt. Aber es hat sich niemand in Europa darüber auch nur ernsthaft beklagt, so lange in Griechenland viel Geld zu verdienen war. Beides ist skandalös.

Damit das erwähnt ist: Es gibt jede Menge berechtigte Kritik an Griechenland und einen riesigen Reformstau. Aber jetzt so zu tun, als wäre die Krise ausgelöst von der falschen Politik – die ja nur in Nuancen falscher ist als bei allen anderen – oder gar den griechischen „Luxusrentnern“, ist falsch, dumm und im schlechtesten Fall eine Kampagne, um die deutschen Lohnempfänger, die am letzten Aufschwung schon nicht teilgenommen haben, auf weitere Einschnitte vorzubereiten. Ohne jeden Zweifel haben Steuerhinterziehung und Korruption in Griechenland großen Schaden angerichtet. Aber vor allem auf Kosten der griechischen Bevölkerung, von denen 20 Prozent akut von Armut bedroht sind, mit steigender Tendenz. Seine ausländischen Schulden hingegen hat Griechenland seit dem 2. Weltkrieg ausnahmslos pünktlich bedient, und das wäre auch so weiter gegangen – nicht ewig, aber eine ganze Weile, denn das Staatsdefizit ist kein neues Problem – wenn nicht die globale Finanzkrise die Säulen Handelsschifffahrt, Tourismus und Baugewerbe weggerissen hätte. Aber dafür kann die griechische Politik wenig, und die griechische Bevölkerung gar nichts, auch wenn es manche Medien so aussehen lassen wollten. Kurz und knapp: Griechenland entspricht in seiner Wirtschaftsleistung dem Bundesland Hessen. Würde der Euro wackeln, selbst wenn alle hessischen Ärzte Steuern hinterziehen würden? Wenn diese Krise eine rein griechische gewesen wäre, dann wäre sie leicht einzudämmen gewesen.

Michael Spreng, der ehemalige Chefredakteur der Bild am Sonntag, schreibt in seinem Blog Sprengsatz über die Bild-Berichterstattung:

„In einer seit dem Kampf des Springer-Verlages gegen die Ostverträge beispiellosen Kampagne machte BILD Front gegen Bundesregierung und Parlament und versuchte, die Leser gegen die Griechen in einer Form aufzuwiegeln, die an Volksverhetzung grenzte.“

Und das ist aus meiner Sicht freundlich formuliert.

Die Rentenlüge, Folge 192

Vorweg: Diesen Blogpost kann man auch hören – dank Bodalgo, dem Online-Marktplatz für Sprecher. Vielen Dank!

[audio:Faule Griechen.mp3]

Und weiter geht es mit dem sonntäglichen Griechen-Bashing bei Spiegel Online, und ich nehme das zum Anlass, einmal ein Missverständnis aus der Welt zu schaffen, das angeführt von der Bild-Zeitung fast alle deutschen Medien ohne Prüfung irgendwelcher Tatsachen übernommen haben. Ich zitiere SpOn:

Bisher können Staatsdiener schon vor Erreichen des 50. Lebensjahres in den Ruhestand gehen.

Das schreiben alle. Und es ist, so wie es da steht, falsch. Deshalb für alle deutschen Journalisten, die zu faul oder zu dämlich sind zu fragen einmal die korrekte Darstellung – falls es nicht ohnehin daran liegt, dass sich manche Kollegen ihre Geschichten nicht durch Recherche versauen wollen.

Tatsache ist: Griechische Beamte haben nach 35 Jahren Dienst einen Anspruch auf eine Pension, die sie vom Erreichen des Rentenalters an (bisher 60, ab jetzt 63*) ausgezahlt bekommen. Es kann also kein griechischer Beamter mit 50 oder noch früher in den Ruhestand gehen. Falls er allerdings mit 14 oder 15 Jahren angefangen hat, zu arbeiten (was es damals tatsächlich nicht so selten gab), dann könnte er mit 50 kündigen, zehn Jahre etwas anderes arbeiten oder von Luft und Liebe leben und dann mit 60 in den Ruhestand gehen.

Das durchschnittliche Rentenalter in Griechenland ist übrigens 61,4 Jahre (Deutschland 61,7), die Lebensarbeitszeit in Griechenland tendenziell aber höher, weil weniger Leute, die heute in Rente gehen, studiert haben. Und, wir ahnen es inzwischen, die gern verbreitete Zahl von angeblich 94,7 Prozent des letzten Nettolohnes, den die Staatsdiener als Rente kriegen, bezieht sich nur auf das Grundgehalt und nicht auf die Zuschläge, die einen großen Teil (in Extremfällen den Großteil) des Gehaltes ausmachen. Die deutschen Rentner wären auf griechische Renten nicht neidisch (sie liegen bei durchschnittlich 630 Euro), deshalb werden die absoluten Zahlen nie irgendwo erwähnt. Das ist selbstverständlich Absicht, und zwar eine böse.

So viel zu dem Vorurteil des faulen Griechen, der mit 50 in Rente geht und dabei reich wird. Es ist ein Mythos, und dass er bis heute verbreitet wird (unter dem SpOn-Artikel stehen als Kürzel übrigens ler/dpa/Reuters) ist mit fahrlässig noch nett umschrieben.

* Den Beschluss aus Brüssel gibt es noch nicht zu lesen. Jetzt höre ich, es könnte auch noch höher sein, aber weniger als die 60 natürlich auf keinen Fall.

Interessiert eigentlich jemanden, was in Griechenland wirklich passiert?

Ich bin seit einer Woche in Griechenland (ein Nebenprodukt der Reise liest man hier), und einer Sache war ich mir sicher: Die unterirdische Qualität der Berichterstattung in Deutschland über die Krise lag aus meiner Sicht auch daran, dass die deutsche Presse in der Post-Korrespondenten-Ära einfach zu wenig oder gar keine Leute im Land hat, zu wenig Experten, zu wenig Journalisten, die ihre Geschichten nicht einfach voneinander abschreiben. Denn es gibt in Deutschland nur eine handvoll Kollegen, die von diesem komplizierten Land eine Ahnung haben (aus dem Stand fallen mir ein: Gerd Höhler, Niels Kadritzke, Eberhard Rondholz, Michael Thumann und Christiane Schlötzer). Sie berichten deshalb kein bisschen weniger kritisch, aber auf der Grundlage von Tatsachen, nicht von den Thesen, die sich manche Redaktionen mit einem eher begrenzten Blick auf die Welt ausdenken.
Wenn Journalisten vor Ort sind und sich ein Bild von der Lage machen können, selbst mit Menschen sprechen und wirklich wissen wollen, was passiert, dann – das habe ich mir vorgestellt – ist die Griechenland-Krise immer noch eine Herausforderung, aber eine für einen Journalisten beherrschbare. Aber ich habe mich getäuscht.
Heute morgen lese ich auf Spiegel Online eine Geschichte mit der Überschrift „Sanierungspaket: Griechen verzweifeln an der Schuldenkrise“. Der Reporter berichtet aus Athen. Aus dem Fünf-Sterne-Hotel Grande Bretagne schräg gegenüber dem Parlament, um genau zu sein, und er hat tatsächlich mit einem Griechen gesprochen: Einem Kellner im Restaurant auf der Dachterrasse des Hotels. Sollte er das Gebäude je verlassen haben, dann findet sich dafür kein Hinweis in seinem Text.
Eine „beispiellose Serie von Protesten“ steht seiner Recherche nach bevor, und dafür gibt es zwei Indizien in seinem Text: Zum einen die Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Politei am 1. Mai, die natürlich auch die Bebilderung des Textes hergeben, und eine repräsentative Umfrage, nach der fast 86 Prozent der Griechen sich „unsicher fühlen“. Dass gleichzeitig je nach Umfrage zwischen 70 und 80 Prozent der Griechen das Sanierungspaket für alternativlos halten bleibt unerwähnt.
Ich hätte nicht einmal erwartet, dass sich der Reporter die Demostration mit eigenen Augen aus der Nähe ansieht. Ich kann verstehen, dass eine Horde aufgebrachter Männer, deren Sprache man nicht versteht, einen Reporter Abstand halten lassen. Aber vielleicht hätte ein Blick auf die roten Fahnen der Demonstranten genügt, um sich einen zweiten Gedanken darüber zu machen, wer da demonstriert. Einen Hinweis darauf gibt er selbst: „Raus, IWF“ sei „jetzt schon auf etlichen Plakaten in Athens Stadt zu lesen“. Die Gewerkschaften hätten für Mittwoch zu einem Streik aufgerufen.
Tatsächlich heißt das Bündnis, das zu diesen Streiks aufruft und die Demonstrationen organisiert PAME (es ist eine Abkürzung, das Wort bedeutet aber auf griechisch „gehen wir“, hier in etwa im Sinne von „auf geht’s“). Und PAME bezeichnet sich selbst als „Militante Arbeiterfront“ und als „Allianz der klassenbewussten Gewerkschaften in Griechenland“. Sie gehört zu stalinistischen kommunistischen Partei KKE, die jedes Programm jeder Regierung als Angriff des Kapitals auf das Proletariat begreift. Und, muss man es sagen, sie repräsentiert nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Von ihnen auf den Seelenzustand „der Griechen“ zu schließen ist vergleichbar mit dem Versuch, aus den Mai-Krawallen in Berlin-Kreuzberg und im Hamburger Schanzenviertel Rückschlüsse auf die Meinung der deutschen Bevölkerung zu ziehen. Es ist falsch.
An der SpOn-Geschichte haben zwei Journalisten gearbeitet. Ich weiß nicht, ob einer von ihnen Griechisch spricht (der Name des zweiten, unter „Mitarbeit“ geführten Autoren ist an sich türkisch, aber es gibt sehr viele Griechen mit türkischen Namen. Lange Geschichte). Aber das wäre nicht einmal nötig gewesen: PAME veröffentlicht ihre Pressemitteiliungen regelmäßig später auch auf Deutsch. Man müsste es nur wissen wollen. Recherche auf der Dachterrasse eines Luxushotels reicht da nicht aus.

PS. Um noch ein Positiv-Beispiel zu geben (und tatsächlich ebenfalls auf SpOn): Hier beschreibt Gerd Höhler die Gründe der Krise sehr gut – und das vor anderthalb Jahren!

Bedeutet Wikileaks, klassischer Journalismus ist überholt?

Es ist eine Diskussion über den Berufstand der Journalisten entbrannt, seitdem die Organisation Sunshine Press über ihre Seite Wikileaks vor einer guten Woche das Videoband aus der Bordkamera eines US-amerikanischen Militärhubschraubers veröffentlichte, auf dem zu sehen ist, wie die Besatzung Feuer auf eine Gruppe Männer und (in einem Transporter nicht zu sehender) Kinder eröffnet. Bei dem Angriff kamen mindestens zwölf Menschen ums Leben, darunter auch zwei Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters. Auf der Tonspur des Videos ist zu hören, wie sich die Soldaten gegenseitig zu den „guten Schüssen“ gratulieren. Es ist schwer erträglich. Und aus Nachrichtensicht ist es eine Sensation, denn das US-Militär hatte immer behauptet, die Handlungen wären im Rahmen der internationalen Regeln und der eigenen „Rules of Engagement“ verlaufen und die Toten hätten eine direkte Bedrohung für die Soldaten dargestellt. Das Video erzählt eine andere Geschichte. Offensichtlich halten die Hubschrauberbesatzungen die Kameras der Reuters-Mitarbeiter für Sturmgewehre und Panzerfäuste, aber sie eröffnen das Feuer auch dann erneut, als ein Van vorfährt, dessen Insassen offensichtlich nur den verletzten Kameramann mitnehmen wollen. Wikileaks richtete eine extra Seite für das Video ein, unter dem wenig subtilen Titel „Collateral Murder“.

Natürlich ist das eine große Geschichte, und die klassischen Nachrichtenorganisationen überall auf der Welt haben mit dieser Geschichte aufgemacht. Die Frage, die für Journalisten bleibt ist aber: Warum hatte nicht einer von uns dieses Video zuerst, irgendein Reporter einer angesehen Zeitung oder eines Fernsehsenders, ein Journalist, der für seine Enthüllungen berühmt ist – sondern eine durch Spenden finanzierte Webseite, die überhaupt keinen Hehl daraus macht, dass zu ihren Unterstützern eine Reihe von Organisationen mit einer politischen Agenda gehören?* Ist das, wie manche Kommentatoren mutmaßen, ein Beweis dafür, dass Informanten ihre Enthüllungen nicht mehr „der Presse“ anvertrauen wollen? Haben sie den Glauben an die Journalisten oder ihre Öffentlichkeitsmacht verloren?
Es sieht tatsächlich so aus, und ich sehe nicht, was „die Presse“ – und dazu zähle ich mich – gewinnen könnte, wenn sie das einfach immer weiter bestreitet. Wikileaks hat die Authentizität des Videos verifiziert, einordnende und erklärende Kommentare in das Video gebaut und es mit Untertiteln ausgestattet, die den Funkverkehr zwischen Schützen, Piloten und ihrem Offizier im Hauptquartier verständlich machen. Das ist ordentlicher Journalismus (und tatsächlich wird die Seite ja nach ihrer Selbstauskunft unter anderen von Journalisten betrieben). Wer Journalismus als die Aufgabe versteht, die Öffentlichkeit umfassend über alles zu informieren, was auf der Welt an wichtigen Ereignissen passiert, der kann sich über den Umgang mit diesem Fall eigentlich nur freuen.


Auf den ersten Blick schadet er der klassischen Presse trotzdem: Ein weiterer Nagel in den Sarg, der aus der Überzeugung gebaut wird, dass es den Journalismus, wie er ist, wohl bald nicht mehr braucht. Ein weiterer Nagel geformt aus dem Misstrauen, dass die klassischen Redaktionen und Reporter in dem, was sie tun, eigentlich nicht mehr besonders gut sind – sei es wegen mangelnder finanzieller und zeitlicher Möglichkeiten, wegen einer tieferen politischen Agenda oder aus perönlichem Unvermögen und Schludrigkeit. Warum hatte keiner von uns das Video? Nun, vielleicht gehört zur Antwort auch, dass wir uns eingestehen, dass unsere Aufgabe im Gegensatz zu der von Wikileaks – deren einzige Funktion darin besteht, bislang unbekannte Dokumente zu veröffentlichen – nicht so klar und eindeutig ist, wie wir es gerne hätten.

Ein Beispiel aus dem direkten Umfeld verdeutlicht das meiner Meinung nach: Im Dezember führten unter anderem der US-Sender ABC, die britische BBC und die ARD gemeinsam eine Umfrage in Afghanistan durch. Damals beurteilten 70 Prozent der Befragten die Entwicklung in Afghanistan optimistisch, und diese überraschend positive Zahl fand sich nach ihrer Veröffentlichung in vielen Nachrichten (z. B. hier und hier). Drei Monate später, am 11. März 2010, stellte eine „Red Cell“ genannte Gruppe bei der CIA ein Dossier zusammen, in dem Wege vorgeschlagen wurden, wie die Anti-Kriegs-Stimmung der Bevölkerungen vor allem in Frankreich und Deutschland begegnet werden könnte. Ein Vorschlag darin: Auf den hohen Optimismus der Afghanen hinsichtlich der ISAF-Mission hinzuweisen könne nach Ansicht der CIA gut genutzt werden, um „den Aussagen der Kritiker [zu widersprechen], die Mission sei eine Verschwendung von Ressourcen.“ Die 70 Prozent Optimismus sollten genutzt werden, um den Deutschen zu vermitteln, dass ihr Engagement wirke. Das Dokument kann seit dem 26. März auf Wikileaks heruntergeladen werden.

Doch vorher hatte die Bundesregierung offenbar schon auf die Erkenntnisse aus Amerika reagiert: Jedenfalls erschien am 15. März in der FAZ ein Meinungsbeitrag der Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper (FDP), in dem sie für den Afghanistan-Einsatz warb. Zitat:

Jüngste Umfragen zeigen: Unser Engagement wirkt! Über 70 Prozent der Afghanen blicken optimistisch in die Zukunft, ebenso viele Menschen bewerten die Schulversorgung in ihrem Umfeld positiv.

Außerdem schlagen die CIA-Denker vor, die erneute Gefahr durch den Terrorismus im Fall eines Abzuges zu betonen und sie gehen davon aus, dass „eine Betonung der multilateralen und humanitären Aspekte [der Mission] helfen könnte, die Abneigung der Deutschen gegen jede Art von Kriegführung besänftigen und an ihren Wunsch appellieren könnte, an multinationalen Missionen teilzunehmen.“ Bei Cornelia Pieper findet sich das vier Tage später so:

Afghanistan nach mehr als 20 Jahren Krieg und Zerstörung wieder aufzubauen und die Gefahr des Terrorismus einzudämmen – mit diesem Ziel ist die internationale Gemeinschaft seit 8 Jahren in Afghanistan aktiv.

Und, um es gleich vorweg zu sagen: Das ist überhaupt kein Skandal. Im Gegenteil: Die CIA ist genau dafür da, die US-Regierung über die Lage, auch die Stimmungslage, in der Welt zu unterrichten, und die Schlüsse, die sie ziehen, sind einigermaßen vernünftig, wenn man denn PR für den Einsatz in Afghanistan machen will. Es kann auch durchaus sein, dass das Auswärtige Amt ohne jede Hilfe aus Langley oder Washington auf dieselben Argumente gekommen und der zeitliche Zusammenhang ein Zufall ist. Aber das Ergebnis bleibt: Die FAZ sieht bei einem oberflächlichen Blick für den Leser plötzlich aus wie eine Abwurfstelle für Regierungspropaganda. Und Wikileaks sieht aus wie eine Organisation, die solche Propaganda entlarvt.

Das Grundmisstrauen gegenüber Staaten und Politikern wird längst auf die Presse ausgedehnt. Auf gefühlt unabhängige Webseiten aber nicht. Das war einmal genau anders herum: Bisher galt eher das Credo, dass „im Internet jeder schreiben kann, was er will“, während in der Presse sorgfältig geprüft wurde. Diese Zeit scheint nun vorbei.

Ich bin überzeugt, dass hierin eine Lehre steckt, über die es sich lohnt nachzudenken. Es scheint für mich so, als würden die Leser heute hinter einer Webseite eher einen Menschen vermuten, den man ansprechen kann, als hinter einer Verlagsmauer oder in einer Senderzentrale. Die journalistischen Institutionen und ihre Insignien verlieren ihren vertrauenerweckenden Status an jene, die einfach erreichbar sind. Mensch schlägt Medienmaschine. Das ist keine schlechte Nachricht. Wenn man richtig damit umgeht.

*Um diesen Satz ist, wie in den Kommentaren nachzulesen, eine kleine Diskussion entbrannt. Deshalb zur Klarstellung: Dass sich die Seite durch Spenden finanziert heißt nicht, dass sie sich von diesen Spendern abhängig macht, sondern nur – genau anders herum –, dass diese Spender in der Seite offenbar eine unterstützenswerte Einrichtung sieht. Etwas anderes wollte ich nicht behaupten, aber offenbar ist mein Satz missverständlich formuliert.

Zu Burdas Geburtstag: O-Töne

Ich glaube ja, dass es besonders den Inhaber-geführten Verlagen besser gehen würde, wenn die Machthaber noch Leute um sich herum hätten, die ihnen die Wahrheit sagen, die einen guten Ton finden, um dem Alleinherrscher Kritik zu überbringen.
Bei Burda machen sie es anders: Zum Geburtstag überbringen die Chefredakteurinnen des Hauses in bester Hupfdohlen-Manier ein Ständchen voller Nettigkeiten. Wenigstens treffen sie, vielleicht in subversiver Absicht, keinen Ton.