Heute ein Strunz

Seit zwei Wochen ist Claus Strunz, Chefredakteur des im Prinzip altehrwürdigen Hamburger Abendblattes, nun mit einer Fan-Seite auf Facebook vertreten. Strunz hat sich seit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren unter anderem durch weit reichende Ankündigungen Aufmerksamkeit verschafft – besonders berüchtigt ist dabei sein Plan, aus dem Abendblatt ein „Abendblatt 3.0“ zu machen, wobei nie ganz klar war, was darunter eigentlich genau zu verstehen ist. Im Moment ist die Zeitung – immerhin Hamburgs größte und wichtigste, was angesichts der Konkurrenz allerdings noch nicht viel aussagt – geschlagen mit einem Online-Auftritt, bei dem man die meisten Inhalte über Google-News lesen muss, weil der Verlag etwas davor geschaltet hat, dass er „Bezahlschranke“ nennt. Sie funktioniert genau wie eine Schranke auf einer grünen Wiese, über die ein Trampelpfad läuft: Man muss schon sehr faul sein, um nicht einfach drumherum zu laufen, aber gerade noch nicht faul genug, um einfach wieder nach Hause zu gehen. Vielleicht steht „Abendblatt 3.0“ auch einfach für die angepeilte Zahl der Online-Abonnenten?

Claus Strunz hat also eine Seite auf Facebook, die aktuell 422 Personen gefällt, und postet dort Gedanken und kleine Begebenheiten rund um sein Dasein als Chefredakteur der wichtigsten Zeitung in Hamburg. Und im Prinzip bin ich begeistert von der Idee. Ich habe es inzwischen wahrscheinlich zu oft gesagt, aber ich bin der Meinung, dass Journalisten nicht nur für die Öffentlichkeit arbeiten sollten, sondern auch öffentlich – das heißt sichtbar, erreichbar und als Menschen, nicht (nur) als Teil von Organisationen und Institutionen. Und „The Facebook“, wie George W. Bush es nennt, ist ein sensationell einfacher Weg dahin. Rein technisch gesehen ist Strunz‘ Facebook-Fan-Seite ein richtiger Schritt. Und er ist, so weit ich das weiß, der erste deutsche Chefredakteur, der ihn macht.

Auf der Seite schreibt Strunz über das, was Tolles beim Abendblatt passiert (ein Reporter hat einen Preis gewonnen, das „Zukunftslabor entwickelt eine 1A-iPad-App), stellt die Art Fragen, die sonst Moderatoren in Foren stellen, um eine Diskussion in Gang zu bringen (Ist Assange ein Held oder ein Verbrecher? Ist Ole von Beust im Hamburger Wahlkampf eine Hilfe oder eine Belastung für die CDU?), spricht über Fußball (vor allem darüber, dass er schon vor Wochen gesagt hat, Dortmund wird Meister. Außerdem ist er Fan von irgendeinem der überflüssigen Vereine rund um Platz 14) und streut hin und wieder eine Anekdote ein („Hans-Werner Kilz hat gesagt …“). Fast jeder seiner Beiträge generiert ein paar Kommentare, die meistdiskutierten etwa ein Dutzend, was ich in dieser frühen Phase des Experimentes eine achtbare Größenordnung finde, vor allem, weil wir von der Online-Plattform eines Chefredakteurs reden, dessen Online-Publikation sehr viel dafür tut, möglichst keine Leser zu haben. Für Strunz‘ Facebook-Seite gilt schließlich: Da muss man erstmal drauf kommen.

Man muss wahrscheinlich sagen, die Fan-Seite von Claus Strunz ist nicht unbedingt von Inhalten getrieben. Was bisher dort preisgegeben wird, ist banal bis egal. Die Einblicke in die Person des Chefredakteurs oder die besondere Arbeitsweise des Abendblattes, so es die denn gibt, sind bisher nichtig. Und ein ganz großer Humorist ist in den Statusmeldungen bisher auch nicht zu erkennen. Die Debatten, die dort geführt werden, bewegen sich sehr nah an der Nullschwelle der Relevanz, auch deshalb, weil Strunz sich in Debatten nicht einschaltet und außerhalb seiner Leitartikel, zu denen er verlinkt, bei fußballfremden Themen auch keine eigene Meinung durchscheinen lässt – abgesehen davon, dass er ein Anti-Hamburger-Grünen-Plakat der Jungen Union Paderborn abbildet, obwohl die Relevanz der Jungen Union Paderborn in einem Hamburger Wahlkampf dann doch eher zweifelhaft ist. Bisher muss man festhalten, die Leistung des Chefredakteurs auf Facebook besteht praktisch ausschließlich darin, dass es ihn gibt.

Das ist schade. Es deckt sich bisher mit dem Eindruck, den der ungemein selbstbewusst wirkende Strunz bisher bei mir ohnehin hinterlässt: Er ist eine Ankündigungsmaschine, der pausenlos die Bedeutung des Abendblattes zu einer der wichtigsten Zeitungen Deutschlands hochrechnet und es verstanden hat, in der hausinternen Innovationskultur des Axel-Springer-Verlages den Eindruck zu erwecken, er schwämme vorne mit. Das ist für ihn besonders schwierig, weil er vom Chefredakteur der riesigen Bild am Sonntag zum Abendblatt-Chef degradiert wurde. Vor diesem Hintergrund tut er offenbar, was für seine Karriere richtig ist, und das mit einiger Kreativität. Ich möchte das als Leistung nicht schlecht reden. Aber wenn man den Schritt hin zu mehr Offenheit gegenüber dem Leser inhaltlich bewerten will, muss man den Schritt, den er getan hat, mit dem vergleichen, was nötig wäre. Oder gar dem was möglich wäre.

Gerade für die Leser einer Lokalzeitung wäre es ein immenser Vorteil, wenn „seine“ Journalisten für ihn erreichbar, ansprechbar und im weiteren Sinne auch kennenlernbar wären. Natürlich nicht nur die Chefredakteure. Erstes Ziel einer Offensive wie der von Strunz zugunsten der Leser müsste sein, dass er mit seinem Schritt eine Kultur einläuten würde, die dazu führt, dass bald alle Abendblatt-Redakteure mit ihren Lesern kommunizieren könnten, es müssten und im besten Fall – weil das Vorbild so gut funktioniert, oder weil sie die Zeichen der Zeit erkannt haben – auch wollten. Aber das Zauberwort ist hier schon eingeführt: Es bräuchte einen Wechsel der Kultur. Und der ist nicht einmal bei Strunz‘ eigenem Versuch sichtbar. Im Gegenteil: Was er tut, ist in Wahrheit das Gegenteil davon – er zementiert mit seiner Selbstdarstellung die falsche Selbstwahrnehmung von sich selbst als über die Masse erhobener Persönlichkeit. Dem Mediendienst Meedia sagte er zu seinen Beweggründen:

„Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, bei Facebook als Privatperson aufzutreten. Wenn ich ein privates Profil habe, bin ich im eigentlichen Sinne nicht öffentlich, sondern nur für meine Freunde zugänglich. Als Chefredakteur des Hamburger Abendblatts bin ich aber bis zu einem bestimmten Grad eine Person öffentlichen Interesses. Als solche berichte ich auf dieser Seite über meine Arbeit und stelle meine Meinung zur Diskussion. Persönliche Nachrichten behalte ich auch weiterhin meinen Freunden vor.“

Darin steckt der Denkfehler, der dem Journalismus mehr schadet als praktisch alle anderen. Denn ob der Journalist eine Person öffentlichen Interesses ist oder nicht ist vollkommen irrelevant. Natürlich ist Günther Jauch sowohl Journalist als auch eine Person öffentlichen Interesses, schon weil er prominent ist, aber er gibt praktisch nichts von sich preis und hat jedes Recht dazu. Strunz, der weit gehend unbekannt ist, ist keine Person des öffentlichen Interesses, sondern er füllt wie Jauch einen Job aus, der zu einem guten Teil öffentliche Interessen vertritt. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Ich glaube, dass aufgrund des auszufüllenden öffentlichen Interesses an Information, Aufklärung und Unterhaltung durch eine Zeitung ein berechtigtes Interesse daran besteht, was für ein Typ das ist, der den Job macht. Aber er entspricht ganz genau dem Interesse, das Menschen daran haben, zu wissen, wer ihre Kinder unterrichtet oder ob die Putzfrau, die den Schlüssel zu ihrer Wohnung bekommt, vertrauenswürdig ist. Wir würden keinem Lehrer trauen, der sich weigert, mit uns zu sprechen. Wir haben ein Recht darauf, ihn einzuschätzen. Genau so verhält es sich mit Journalisten: Ich habe ein Recht darauf, den Menschen einschätzen zu können, der mir die Politik meiner Regierung erläutern soll. Denn er arbeitet für mich.

Jauch hat es geschafft, diese Vorstellung nebenbei zu erledigen und führt immer wieder Umfragen nach dem vertrauenswürdigsten Deutschen an. Die meisten Journalisten aber leben nur von der Glaubwürdigkeit des Mediums, für das sie arbeiten. Das kann gut oder weniger gut sein, je nachdem, ob man für die Tagesschau oder die Bild-Zeitung arbeitet, in jedem Fall wandelt es sich dieser Tage meiner Meinung nach sehr schnell. Mediennutzer erwarten heute, wie die Nutzer aller anderen Dienstleistungen auch, mehr Transparenz, mehr Interaktion und ein weniger institutionelles Auftreten, und diese Tendenz wird sich fortsetzen, weil immer mehr Unternehmen die Maßstäbe hin zu echter Kundenorientierung verschieben. Gleichzeitig wird es für Unternehmen immer wichtiger, darauf hinzuweisen, was sie besser können als alle anderen, wenn sie nicht einfach billiger sein können als die Konkurrenz. Für Nachrichtenunternehmen bedeutet das auch, sie müssen zeigen, was ihre professionellen Journalisten besser können als Algorithmen bei Google-News, was handwerkliche Nachrichtenproduktion besser macht als industrielle. Dafür sind Lokalzeitungen wie geschaffen, weil sie selber noch Nachrichten machen (einer meiner ersten Jobs war im letzten Jahrtausend als Pauschalist beim Abendblatt. Da habe ich zum Beispiel gelernt, wie man Demonstranten zählt). Um das Handwerk wieder ins Bewusstsein zu rücken, gibt es kaum einen besseren Weg, als den Handwerker in den Vordergrund zu stellen. Wer einmal mit einem guten Schuhmacher gesprochen hat, wird in Zukunft gute Schuhe besser zu schätzen wissen. Es ist also richtig, den Journalisten öffentlich und zugänglich zu machen. Aber als Handwerker, nicht als kleinen König.

Der Grat zwischen „öffentlich zugänglich sein“ und reiner Selbstdarstellung ist nie ganz klar, aber auch so schwierig nicht zu beschreiten. Wenn man es denn will. Und er schließt nicht einmal aus, dass man dabei selbst zum strahlenden Helden wird, immerhin ist Bundeskanzler Helmut Schmidt auch deshalb heute eine Lichtgestalt der deutschen Politik, weil man ihm glaubt, dass er sich selbst als „Leitenden Angestellten der Bundesrepublik Deutschland“ gesehen hat. Dazu gehört allerdings eine Demut, die in der journalistischen Kultur heute so wenig verankert ist wie in der politischen. Schon mit der Wortwahl der „Dienstleistung“ für Journalismus können sich viele Kollegen nicht anfreunden. Es passt nicht in ihre Kultur.

Vielleicht ist es besonders hamburgisch, jedem zu misstrauen, der aus seinem öffentlichen Amt zu viel Glanz zu ziehen versucht, immerhin ist dies die Stadt, in der ein Finanzminister Hans Apel während seiner Amtszeit (und bis heute) mit seiner Privatnummer im Telefonbuch steht und in der Politiker keine Orden annehmen (Helmut Schmidt hat bis heute kein Bundesverdienstkreuz, weil er es mit der Begründung ablehnt, er sei schließlich ein ehemaliger Hamburger Innensenator). Aber bei mir Eindruck, Claus Strunz verwechselt Dienst am Leser mit dem Beeindrucken von Lesern, den Inhalt mit der Show. Und sich selbst mit dem Produkt Claus Strunz, das es zu verkaufen gilt. Ich halte das für aus seiner Sicht sogar ganz schlau. Aber ich hätte ihm den Zacken mehr Mut gewünscht, tatsächlich etwas Neues zu tun.

PS. Claus Strunz hat diesen Beitrag inzwischen auf seiner Facebook-Seite verlinkt und diskutiert ihn. Das finde ich dann schon wieder stark. Respekt!

Now leaking: The one and only Ich

Vor fünf Jahren, als Xing noch OpenBC hieß, und man eine Einladung brauchte, um überhaupt Mitglied werden zu können und sich entsprechend irgendwie wichtig vorkam, war es das erste Internet-Netzwerk, bei dem ich mich mit meinem echten Namen und meinen vollen Kontaktdaten angemeldet habe. Die Diskussion, die es damals unter Usern gab, war tatsächlich, ob OpenBC wirklich eine Business-Plattform ist, oder ob nicht die meisten der Nutzer sie nur dazu benutzen, sich gegenseitig abzuschleppen. Letzteres sollte die von einigen als hochtrabend empfundene Idee des Netzwerks offensichtlich abwerten. Der Gedanke, dass ein Netzwerk für beides gleichzeitig und noch viel mehr zu verwenden sein könnte, dass im Prinzip die Tatsache von Netzwerken an sich mehr Möglichkeiten eröffnet, als man sich beim Errichten überhaupt vorstellen kann, ist letztlich erst mit dem Durchmarsch von Facebook im Mainstream angekommen, und mit dieser Zentrale der eigenen Identität im Netz ein aus meiner Sicht viel wichtiger Durchbruch: Der echte Mensch mit seinem echten Namen. Für mich persönlich hat dieser Schritt eine ganz besondere Magie, die in viele Richtungen wirkt. Auch auf mich. Und das ist gut so.

Bis dahin galt medientheoretisch die Urlaubsmetapher für den Sender einer Botschaft: Wenn du von deinem letzten Urlaub erzählst, dann erzählst du teilweise völlig anders, je nachdem, wem du erzählst – ob deinen Eltern, deinen Kollegen, den Nachbarn oder einem neuen Liebhaber. Du erzählst andere Dinge, erzählst die gleichen Dinge anders, betonst und gewichtest unterschiedlich. Du eröffnest viele verschiedene Erzählstränge über die selbst, die ausgerichtet sind an dem Bild, das du bei unterschiedlichen Beobachtern hinterlassen willst. Und daran ist nichts auszusetzen, genauso machen wir es auch weiterhin, aber ergänzt durch eine Welt, in der Empfänger in der Lage sind, viel vollständigere und tiefere Eindrücke von einem Sender zu bekommen, weil sie – zum Beispiel wenn sie Freunde auf Facebook sind – plötzlich auch an Erzählungen teilnehmen können, die für sie allein nicht zugänglich gewesen wären, weil der Sender in ihrer Gegenwart in einem anderen Erzählmodus war.

Der echte, große Unterschied zu früher dabei ist: Der Sender der vielen unterschiedlichen Geschichten über seinen Urlaub kann und wird weiterhin in verschiedenen Situationen verschiedene Berichte über seine Abenteuer abliefern. Aber weil es jetzt eine Identitätszentrale gibt, auf die im Zweifel alle seine Empfänger auch gleichzeitig zugreifen können, gibt es plötzlich den Zwang, dass diese Geschichten zueinander passen müssen. Auf Facebook postest du im Zweifel für deine Mutter und deinen besten Freund gleichzeitig, was eine Gesprächssituation ist, die irgendwann vor langer Zeit einmal unangenehm war, ist funktionierende Realität, weil wir kollektiv gelernt haben, was es heißt, eine konsistentere Botschaft zu senden. So ist zum Beispiel an die Stelle der Ängste, dass durch fahrlässig gepostete, peinliche Informationen in sozialen Netzwerken reihenweise keinen Job finden, weil ihre potenziellen Personalchefs sich über deren Partyfotos aufregen, eine Realität getreten, in der Jugendliche lernen, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen ihrer „offiziellen“ und ihrer privaten Persönlichkeit nicht geben muss, besser nicht geben sollte. Und das „privat“ in unserer Welt etwas anderes ist als eine Browsereinstellung oder ein Haken in einem Online-Formular.

Was also für hunderte Millionen junge und ältere Netznutzer auf der ganzen Welt simple Realität ist, mit der sich gut und komfortabel leben lässt, ist für das State Departement der USA offensichtlich eine Überraschung. Bis heute ist in den jüngst von Wikileaks veröffentlichten Dokumenten des US-Außenministeriums nichts aufgetaucht, das man nicht haargenau so dort vermuten musste, aber trotzdem finden sich die US-Diplomaten peinlich gefangen in der Differenz zwischen ihrer offiziellen Persönlichkeit und ihrer privaten. Sie haben ihre Geschichten einem Empfänger so erzählt, dass sie ein Bild von ihnen selbst zeichnet, von dem sie nicht wollten, dass andere Empfänger es von ihnen haben. In der Urlaubsmetapher ist es, als hätten sie am Esstisch ihrer Eltern so von ihrer Urlaubsaffäre erzählt, wie sie es eigentlich ihrem besten Freund erzählen wollten – mit allen schmutzigen Details.

Jede Empörung darüber, dass etwas öffentlich wird, zu dem offenbar zweieinhalb Millionen Menschen Zugang haben, entspricht in etwa einer Empörung darüber, dass jemand mitten in Hamburg mein nicht angeschlossenes Fahrrad klaut. Natürlich ist es verboten. Aber unter den vielen Millionen potenziellen Tätern wird sich immer einer finden, für den das gerade nur die zweite Priorität ist.

Wenn Staaten, die ihren Diplomaten eine ordentliche Arbeit ermöglichen wollen – was immerhin für das Zusammenleben auf diesem Planeten unerlässlich ist –, dann werden sie nicht nur lernen müssen, die neuen Regeln dafür, was privat ist, zu lernen. Es ist zwar heute möglich, 250.000 und mehr Dokumente sehr leicht und schnell zu vervielfältigen und zu veröffentlichen, und das mag eine neue Art von Bedrohung sein, aber die Botschaft aus dem Debakel ist doch eine andere: Kann es denn sein, dass ich zwar zweieinhalb Millionen staatliche Angestellte in meinem Land eine Einstellung über die Welt mitgebe, aber erwarte, dass die Welt sie nicht bemerkt?

Ich habe in den letzten Tagen immer wieder die Beschwerde gehört, amerikanische Diplomaten fürchteten nun, dass ihre Informanten nicht mehr mit ihnen sprechen würden, weil sie Angst haben müssten, ihre Einschätzungen und ggf. Indiskretionen würden öffentlich gemacht. Die Verantwortung dafür scheinen sie bei Wikileaks zu suchen. Ich halte das für abenteuerlich. Denn Tatsache ist wohl: Es spricht auf der einen Seite niemand mit Diplomaten einer fremden Macht, wenn er damit nicht irgendein Ziel verfolgt. Und es hätte auch bisher kaum einer geredet, wenn ihn sein Gesprächspartner wahrheitsgemäß angewiesen hätte: „Reden Sie einfach ganz offen, so als ständen Sie in einer Halle mit zweieinhalb Millionen Zuhörern.“

Ich habe eine Menge Zeug über die Veröffentlichung und über Wikileaks gelesen und gehört, bis hin zu den bizarren Vergleichen von der schrägen Wahl Dirk Niebel bei Anne Will, dann könnten ja auch hunderttausende Patientenakten mit medizinischen Geheimnissen veröffentlicht werden (Herr Niebel, ich weiß, dass Sie es gern hätten, aber der Staat ist kein Privatunternehmen, sondern er gehört uns. So traurig es für die FDP sein mag, aber der Staat ist verstaatlicht und ich sehe überhaupt nicht ein, warum er so selbstverständlich Geheimnisse vor seinem Volk hat). In einem Aufsatz in der Welt kam dann der Hinweis, dass eine Gesellschaft ohne Geheimnisse totalitär ist, was in die gleiche Leere geht, weil erstens ein Staat voller Geheimnisse genau so totalitär ist und es zweitens und vor allem eben genau in die andere Richtung geht, als hier behauptet wird: Nicht die Privatsphäre des Einzelnen gilt es zu durchbrechen, sondern die willkürlich behauptete Privatsphäre des Staates vor dem Einzelnen.

So, wie es die Bewahrer der alten Ordnung gerne hätten, wird es nicht bleiben. Bisher leben wir selbstverständlich damit, dass es irgendwo „eine Wahrheit“ gibt, die wir nie erfahren (in den Dokumenten, hinter den Kulissen), eine „öffentliche Wahrheit“, nämlich das, was offen gesagt wird, das, was in der Zeitung steht – und unsere private Wahrheit, mit der wir leben und arbeiten. Es gibt also zum Beispiel einen Krieg in Afghanistan, es gibt das, was uns Politiker darüber erzählen und es gibt das, was wir über den Krieg zu wissen glauben. Und die drei Wahrheiten unterscheiden sich extrem. Ist das okay so?

Ich glaube, wir haben über Generationen damit leben gelernt. Aber es muss ja nicht so bleiben, wenn es besser werden kann. Wenn Staaten ihre innere und äußere Wahrheit einander annähern müssen, dann ist das ungewohnt, aber richtig.

Was bleibt, ist dass wir einen inkompetenten Außenminister haben und dass die Amerikaner unhöflich und tendenziell sogar arrogant sind, selbst als Diplomaten. Aber an wessen privater Sicht der Welt rüttelt den das?

Mein rechter, rechter Platz ist weg

Der neue Chefredakteur des Focus, Wolfram Weimer, hat eine neue, aufregende Umschreibung für seine Strategie bei der Erneuerung seines implodierenden Nachrichtenmagazins gefunden. Bei den „Zeitschriftentagen“ des Verlegerverbandes erklärte er

„Ich hoffe, dass der Spiegel am Montag die Goebbels-Titelgeschichte bringt. Dann werden die unterschiedlichen vektoriellen Funktionen von Focus und Spiegel deutlicher.“

Er hoffe, wird er außerdem von kress zitiert, dass der Spiegel im politischen Spektrum weiter nach links rücke. Und diese Hoffnung offenbart ein Dilemma.

Weimer hat bei seinem Antritt schon in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau ähnlich verschwurbelt erklärt, er wolle mit dem Focus „einer urbanen Führungselite einen Resonanzboden für ihre Lebenswelt liefern“, und im selben Interview zumindest ein bisschen präzisiert

Ich will gegen die links-liberale Stimme aus Hamburg die andere, bürgerliche Stimme stärken.

Auch wenn der Begriff liberal hier möglicherweise arg frei benutzt wird – immerhin versteht sich die „liberale“ FDP zumindest nach Aussagen ihres Vorsitzenden als total bürgerlich – hätte Weimer den Focus offenbar gern ein bisschen weiter rechts, ein Stück konservativer. Allerdings scheint es für ihn schwierig zu sein, das mit einiger Trennschärfe hinzukriegen, oder wie sonst ist sein Wunsch zu verstehen, der Spiegel möge weiter nach links rutschen? Kann es sein, dass der Spiegel gleichzeitig und im Gegensatz zum Focus „links-liberal“ ist und trotzdem auf dem Platz, auf dem gern der Focus wäre?

Seit geraumer Zeit gibt es ein Wehklagen von einigen Medienschaffenden, die sich als konservativ verstehen und praktisch pausenlos das Wort von der „Debattenkultur“ im Mund führen – und sich beschweren, die links-liberale Presse wäre praktisch gleichgeschaltet und zerstöre so die konservative Identität. Das vielleicht kleinste, aber für mich lustigste Beispiel ist das, natürlich, „Debattenportal“ The European des ehemeligen Cicero-Online-Chefs Alexander Görlach, der dem Nachfolger von Weimer als Cicero-Chefredakteur, dem ehemaligen Kulturstaatsminister Michael Naumann, erst vorwarf, die Zeitschrift quasi als Parteisoldat zu einem Sprachrohr der SPD zu machen, das aber sofort wieder von seinem Debattenportal entfernen musste, als Naumanns Anwalt sich meldete – und sich seitdem darüber ärgert, dass Naumann nicht öffentlich mit ihm diskutiert. Kleiner Hinweis: Vielleicht weiß Naumann nicht, was es der Welt Gutes brächte, wenn er es täte? Nur als Gedanke. Kann natürlich auch sein, dass er irre Angst hat, in der Diskussion den Kürzeren zu ziehen. Klar. Alles kann sein.

Den erklärten Konservativen ist irgendwie gar nichts mehr konservativ genug: Die CDU unter Merkel nicht, die Medien nicht, und irgendwie die ganze Welt nicht. Dafür ist irgendwie jede Debatte, die „angestoßen“ wird, wichtig, egal ob es um jüdische Gene oder den Platz der deutschen Sprache im Grundgesetz geht. Es muss hart sein konservativ zu sein dieser Tage. Oder aber, es ist alles ganz anders.

Wenn Wolfram Weimer sich vom Spiegel wünschen muss, dass er weiter nach links rückt, damit seine eigene, bürgerliche Position deutlich davon zu unterscheiden ist, dann kann der Unterschied zwischen bürgerlich und links-liberal (wie er es nennt) so groß nicht mehr sein. Und wenn Weimer glaubt, der Focus wäre zwar eine Säule im Vektorensystem, hätte aber irgendwie als Säule nichts zu tragen, weil er so nah am starken Spiegel steht, dann muss man sich schon fragen, ob der Focus wirklich so nötig ist.

Es steht außer Frage, dass heute viele Positionen längst bürgerlich sind, die vergangenen Generationen konservativer und bürgerlicher Kreise noch gegen den Strich gingen – und das ist gut so. Es aus meiner Sicht ein Verdienst – wenn auch vielleicht der Einzige – dieser bürgerlichen Regierung, dass eine Frau Bundeskanzler ist, der Außenminister schwul, ein Minister körperbehindert und ein anderer asiatischer Herkunft. Ich finde es im Prinzip auch richtig, dass eine junge, damals unverheiratete Frau Familienministerin werden konnte – auch wenn diese spezielle Frau sich seitdem noch nicht mit Ruhm bekleckert hat. Aber mit einer bürgerlichen oder gar konservativen Weltsicht ist das noch nicht lange in Einklang zu bringen. Ein Konservativer zu sein hat sich stärker verändert als es Sozialdemokrat sein oder Liberaler sein getan haben. Was ganz offensichtlich daran liegen muss, dass die Konservativen in ihren alten Positionen am meisten unrecht hatten. Was erklären würde, warum sie so einen unendlichen Bedarf verspüren, Dinge zu diskutieren, die für alle anderen längst klar sind. Braucht man dafür aber einen „Resonanzboden“?

Wenn zum Beispiel die Erziehung unserer Kinder heute in weitesten Teilen dem entspricht, wofür die 68-er auf die Straße gegangen sind, und sich die bürgerlichen Erziehungsmethoden aus den 60er-Jahren praktisch ausnahmslos als falsch herausgestellt haben, brauche ich dann heute einen Resonanzboden aus Nostalgie für die alten Vorstellungen? Oder weil ich immer noch nicht weiß, was richtig ist? Ein zweites großes Thema jener Zeit und Gründungsanstoß der Grünen war übrigens die Atomkraft – und auch da ist die Gesellschaft längst meilenweit von allem entfernt, was noch in den 80er-Jahren als bürgerlicher Standpunkt durchging. Die Gesellschaft hat die Kraft zur Veränderung. Und Journalismus hat dabei eine Rolle gespielt – immer und fast quer durchs Spektrum mit dem Vorwurf der „linken Kampfpresse“ belegt.

Ich höre immer wieder von der vielbeschrienen Gefahr, es könnte eine Partei rechts der CDU geben, die dann zehn Prozent der Stimmen holt. Und das kann sein. Aber ich sehe überhaupt keine Gefahr, dass ein Nachrichtenmagazin rechts der CDU eine nennenswerte Auflage generiert. So, wie es aussieht, wird selbst rechts vom Spiegel in Zukunft niemand mehr nennenswert Auflage generieren – dann aber wohl eher, weil sich dort niemand so ganz sicher war, wo man eigentlich hinwollte.

PS. Und als hätte man es ahnen müssen, schreibt Roger Köppel, Verleger und Chefredakteur der Weltwoche in der Schweiz, im aktuellen Editorial gegen den „linken“ Journalismus an.

Alles sagen. Aber nicht als alle

Ich kann nur für mich sprechen. Aber es ist eine Errungenschaft, dass ich das kann, und eine, die ich zu den höchsten Gütern unserer Gesellschaft zähle, und die ich zur Not mit dem Messer zwischen den Zähnen verteidigen würde. Gefüllt wird dieses Freiheitsrecht von denjenigen, die sich zu einer Meinung durchringen und zu ihr stehen. Die Freiheit, eine Meinung zu haben, wird relativ wertlos, wenn man keine hat, sie nicht sagt, oder sie als die Meinung von anderen verbreitet. Das vorweg.

Stefan Niggemeier hat in seinem Blog das merkwürdige Kommentargebaren von jemandem aufgezeigt, der Zugang zum Computer des Verlagsvorstandes Konstantin Neven DuMont hatte (ich persönlich habe den nahe liegenden Verdacht, dass es sich um Neven DuMont selbst handelt, aber er streitet das vehement ab). Die Geschichte zieht einigermaßen große Kreise, die wohl heute in dem Rückzug von KND aus dem Vorstand gipfeln werden, aber in einer ganzen Reihe von Blogs (zum Beispiel hier, hier und hier) wird ein Nebenaspekt dieser Auseinandersetzung zum Thema gemacht: Niggemeier hat das offenbar irgendwo ungeschrieben gespeicherte Gesetz verletzt, die Anonymität von Kommentatoren zu wahren. Und in der Parallelgesellschaft Blogosphäre wird das mit angeekelter Verachtung bestraft, die ins kampagnenhafte abgleitet. Die Bloggerin Lanu schreibt zum Beispiel

Für mich ist Niggemeier ein Journalist. Damit ist über ihn auch schon alles gesagt, wenn da nicht die Tatsache wäre, dass der Typ auch nen Blog hat und jeder von Euch, der selbst bloggt, sollte schleunigst eines tun, sich von Niggemeier distanzieren und laut und deutlich sagen, dass sein Umgang mit den Daten seiner Leser, die persönlichen Gockelleien mit DuMont und sein Gequatsche über angebliches öffentliches Interesse daran, mit Bloggen nix, aber auch gar nix zu tun haben.

Das scheint eine ganz gute Zusammenfassung der dort herrschenden Meinung zu sein. Und ich habe Schwierigkeiten, mir ob der intellektuellen Minderleistung überhaupt auszumalen, wo ich anfangen soll, den Unsinn zu widerlegen.

Ich werde mich nicht mit der Definition von Blog abplagen, weil sie egal ist. Auch nicht damit, dass Niggemeier keine Daten veröffentlicht hat, sondern ein Verhalten öffentlich gemacht hat. Im Kern geht es darum, dass jeder anonym kommentieren können soll, und dass Kommentare wie die von KNDs Rechner, von wo unter hundert verschiedenen Pseudonymen teilweise mit sich selbst diskutiert wurde, einfach gelöscht werden sollten. Mit anderen Worten: Niggemeier soll eine Kommentarspalte stellen, auf der sich jeder austoben kann, wie er will, und Niggemeier soll nur den Wildwuchs beschneiden, und das lieber als Zensur denn durch Transparenz. Auf keinen Fall, wirklich auf keinen, darf die Identität eines Kommentatoren preisgegeben werden. Es ist bizarr.

Ich weiß nicht, wie weit sich manche der Kritiker das überlegt haben. Es würde bedeuten, dass der Betreiber einer Themenseite, auf der ein Lobbyunternehmen hunderte Kommentare unter Pseudonym zugunsten der eigenen Sache schreiben lässt, diese verdeckte PR nicht aufdecken darf. Und das ist völlig inakzeptabel. Es würde bedeuten, dass ein Mächtiger unter dem Deckmantel der Anonymität das möglicherweise gefährliche Gegenteil von dem fordern darf, für das er tagsüber einsteht. Es würde bedeuten, dass einer der wichtigsten Medienmanager Deutschlands sich in einer Art und Weise aufführen darf, die ernsthafte Zweifel daran aufkommen lässt, ob er für die Machtposition, die er gegenüber seinen Mitarbeitern und gegenüber der demokratischen Öffentlichkeit innehat, geeignet ist, ohne dass es jemand publik machen darf. Und das kann nicht sein.

Ich bin für Kommentare. Und meinetwegen soll sich jeder unter dem Namen äußern, unter dem er will. Aber ich erwarte, dass er für sich spricht, ehrlich für sich und nur für sich. Wenn jeder plötzlich 100 Leute sein kann, die sich unterstützen, wenn plötzlich ein Unternehmer anonym gegen die Konkurrenz wettern kann, wie es von KNDs Computer passiert ist, wenn also eine Diskussion nicht mehr ehrlich und offen geführt werden kann, dann ist sie wertlos. Dann gehört es zur Verteidigung der Freiheitsrechte, darauf hinzuweisen. Ich erwarte von jedem, der sich in eine Diskussion begibt, dass er bereit ist, zu seiner Meinung zu stehen. Ein Pseudonym kann nicht bedeuten, dass ich mir eben ein nächstes nehme, weil mein erstes sich zu weit aus dem Fenster hängt oder keine Unterstützung findet. Das ist keine Freiheit, die ich verteidige. Es ist, im Gegenteil, schädlich.

Dass der freie Journalist Niggemeier sich (mal wieder) mit einem Großverlag anlegt und sie zwingt, sich des merkwürdigen Gebarens ihres Junior-Chefs zu stellen – was überfällig war –, ist mutig und richtig. Es gibt kein Recht darauf, anonym irgendetwas kaputt zu machen, auch keine Diskussion.

Weit weg

Die Grünen haben einen Antrag gestellt, die Tagesordnung des Bundestages dahingehend zu ändern, dass heute morgen, wo eigentlich über die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken diskutiert werden sollte, zunächst über die Demonstrationen um Stuttgart 21 und die 100 Verletzten gesprochen werden sollte, die es in der letzten Nacht gegeben hat. Unter den Verletzten sind offenbar auch Kinder. Für die CDU/CSU-Fraktion begründete der Parlamentarische Geschäftsführer Peter Altmeier die Ablehnung des Antrages mit drei Argumenten. Zum einen sei der Antrag erst um 20.44 Uhr eingereicht worden, zwei Stunden und 44 Minuten zu spät. Außerdem sei zunächst das Landesparlament zuständig, und das Geschehen sowieso 700 Kilometer weit weg — viel zu weit, um zu wissen, was dort vorgehe.

700 Kilometer sind eine weite Entfernung, aber sie scheint mir winzig im Verhältnis zur Entfernung, die Politik zu denen haben kann, die sie zu regieren hat. Nicht nur, weil die Bundeskanzlerin Stuttgart 21 in der Haushaltsdebatte zur Chefsache gemacht hat, sondern weil von unseren Parlamentariern zu erwarten sein muss, dass sie Worte finden, dass sie beteiligt sind und bewegt von dem, was ihre Bürger bewegt. Ich kann nicht ertragen, dass Schüler von ihrem, unserem Staat verletzt werden, weil sie friedlich ihr Recht auf Demonstration ausüben. Ich kann nicht ertragen, dass das aus so albernen Gründen wie einem knapp drei Stunden zu spät eingereichten Antrag kein Thema sein soll.

Die Regierung hat den Antrag mit ihrer Mehrheit gegen alle drei Oppositionsfraktionen abgelehnt (er hätte eine Zweidrittelmehrheit gebraucht). Im Moment spricht nun also der Wirtschaftsminister darüber, warum es richtig sein soll, die längeren Atomlaufzeiten gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen.

Wie weit weg kann man sein?

Sie würden es auch gerne Arbeit nennen

Ich habe ein Buch geschrieben. Leider kann ich es den meisten hier wahrscheinlich nicht empfehlen, weil es sich an Jugendliche richtet, aber ein bisschen Werbung in eigener Sache mache ich trotzdem, schon allein deshalb, weil das Thema wirklich interessant ist. Es geht um die größte Bildungslücke, die wir haben.

„Werde das, was zu dir passt“ heißt das Buch, und soll helfen, eine Lücke zu schließen. Sehr viele, aus meiner Sicht erstaunlich viele, Jugendliche und junge Erwachsene haben keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben berufsmäßig anfangen sollen. Offensichtlich wird man in der Schule nicht auf das Thema vorbereitet. Allein das scheint schon merkwürdig. Aber viel schlimmer ist, dass es auf einem echten Systemfehler beruht – dem Mythos der Begabung.

„Die Kleine redet so viel, die geht bestimmt mal zum Radio“, sagt man schon zu Kindern. Und über 23-jährige Fußballnationalspieler: „Der ist ein Riesentalent!“ Und das ist er sicher auch, oder besser, er ist es sicher gewesen, damals, mit sechs oder acht Jahren, aber was einen Menschen im Beruf tatsächlich erfüllt und damit letztlich auch am ehesten erfolgreich werden lässt, ist nur zu einem geringen Teil seine Begabung. Es ist seine Motivation. Sein innerer Antrieb.

Bizarrerweise können junge Menschen in unserem Land problemlos den Markenkern von Nike analysieren, von Audi oder Apple, aber nicht ihren eigenen. Während jeder Headhunter und Personalchef, mit dem man spricht, betont, ihre Aufgabe bestände vor allem anderen darin, zu erkennen, „was für ein Typ“ jemand ist und „was ihn antreibt“, haben wir bis ins dreigliedrige Schulsystem hinein den Mythos Begabung zementiert (Intellektuell Begabte aufs Gymnasium, handwerklich-intellektuell Begabte auf die Real- und nur handwerklich Begabte auf die Hauptschule – so war das tatsächlich gedacht. Als dürften Tischler und Mechaniker doof sein). Und noch eine zerstörerische Metapher haben wir den jungen Leuten in den Weg gelegt (und ich mache das in dem Buchtitel mit, weil sie so fest sitzt): „Was willst du mal werden“ ist die Frage. Vernünftig wäre: „Was bist du?“

Also, falls jemand ein Geschenk für einen Jugendlichen ab ungefähr 13 Jahren sucht: „Werde das, was zu dir passt“. Ich finde, es ist ein eher gutes Buch geworden, aber ich muss das wohl sagen. Ist ja irgendwie mein Beruf.

Migrationsvordergrund

Als geradezu vorbildlich integrierter Deutscher mit Migrationshintergrund werde ich dieser Tage medial verwöhnt, indem immer wieder darauf hingewiesen wird, was für eine Erfolgsgeschichte es ist, dass Menschen wie ich weder Serienkriminelle sind, noch auf Arbeitslosengeld angewiesen. Ich nehme an, ich sollte das als Kompliment sehen. Davon abgesehen wird in der angeblich von Thilo Sarrazin losgetretenen Debatte sehr viel über und sehr wenig mit Migranten diskutiert, wahrscheinlich deshalb, weil wir, wenn wir Deutsch können, sehr langweilig und unexotisch sind (und nach Ansicht von Melanie Ahlemeier von der Süddeutschen bin ich ja ohnehin schon deshalb kein Grieche, weil ich in Deutschland geboren wurde — was ein Argument ist, das ich sie gerne mal mit dem Genossen Thilo diskutieren lassen würde, juchhe).

Tatsache ist, dass Sarrazin, dem angeblich Sprech- und Denkverbote auferlegt werden, seine Gedanken nicht nur in einem Buch hunderttausendfach verbreiten kann, sondern in Vorabdrucken, Interviews und Talkshows in allen großen Medien. Wer ausgerechnet das zum Anlass nimmt, über angeblich mangelnde Meinungsfreiheit zu klagen, der meint in Wahrheit das Gegenteil: Er will Kritik an Sarrazins Thesen unterbinden, und macht damit genau das, was er angeblich bekämpft. Um der „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“-Orgie noch einen hinzuzufügen: Man wird doch wohl noch sagen dürfen, dass Thilo Sarrazin mit seinem überflüssigen Buch keine Debatte losgetreten, sondern ganz einfach ziemlich dumpfen, rassistischen Strömungen ein Ventil verschafft hat. Er musste sie nicht einmal aufschreiben: Durch ein paar gezielte Stichworte sind die Dämme ganz einfach einzureißen gewesen. Und die einzigen, die nichts dazu sagen dürfen, sind in Wahrheit die Betroffenen, denn zum Ritus gehört es jetzt, dass jeder an Integration wirklich Interessierte zunächst einmal anmerken muss, dass es tatsächlich auch Probleme mit der Integration von Migranten gibt (was in jedem Land der Welt seit Jahrzehnten eine Binsenweisheit ist. Und dem gern gebrauchten Stammtisch-Argument, dass „wir“ uns schließlich auch anpassen würden, wenn wir ins Ausland zögen, möchte man doch mal die Ausländersiedlungen zum Beispiel in Saudi-Arabien entgegenhalten, in denen auch deutsche Gastarbeiter weit entfernt von jeder Anpassung an die arabischen Gepflogenheiten oder auch nur mit Respekt für die Gesetze leben — darauf ein Pils!).

In der Diskussion haben auch diejenigen keine Stimme, die tatsächlich die Integrationsarbeit in diesem Land leisten: Die untere Mittelschicht, die am Arbeitsplatz, in Sportvereinen, auf Schulhöfen und in der Nachbarschaft jeden Tag die Benutzeroberfläche Deutschlands für Einwanderer darstellen. Und dabei in der Masse überragende Arbeit leisten. Als engagierter Vater und Elternvertreter an einer Grundschule im Hamburger Problembezirk Sankt Pauli kann ich jedenfalls für mich festhalten, dass Sarrazins Buch die Arbeit nur schwieriger macht, weil sie die Gräben vertieft und es zum Beispiel für Mütter, die schlecht Deutsch sprechen und deshalb ohnehin ungern zu schulischen Veranstaltungen kommen, sicher nicht einfacher wird, wenn sie mitbekommen, mit welchen Thesen über sie, ihre Intelligenz und ihre wirtschaftliche Nützlichkeit diskutiert wird. Und das macht es letztlich wieder noch ein bisschen unwahrscheinlicher, dass ihre Kinder die Schule erfolgreich abschließen werden. Dem Genossen Thilo würde ich gern sagen: Wenn ihm etwas an diesem Land liegt, dann wäre einfach mal Fresse halten und anpacken produktiver gewesen. Aber darum ging es wohl nie.

Am schlimmsten aber ist, und damit bin ich endlich bei meinem Thema, diese merkwürdige Haltung von Medien wie dem Spiegel, die ohne Not eine rassistisch geführte Diskussion lostreten, ohne zu verstehen, dass sie dadurch und dabei Partei werden, und längst nicht mehr nur journalistische Beobachter sind. Denn selbst wenn es Sarrazin, den ich gar nicht für einen Rassisten halte sondern nur für unangenehm und auf einem hohen Niveau für unglaublich dämlich, dann war in der Redaktion des Nachrichtenmagazins natürlich jedem klar, was gerade die verkürzende Berichterstattung über die Thesen im Vorabdruck auslösen würde. Dabei geht es nicht darum, dass man bestimmte „Wahrheiten“ nicht aussprechen darf, sondern dass Kontext, Art und Weise etwas anderes auslösen — und dafür tragen die Profis an der Brandstwiete natürlich auch Verantwortung. Dann später auf dem Cover blauäugig zu fragen, wie es sein kann, dass so viele Deutsche dem Provokateur folgen, ist schamlos und bigott. Und ein Erfolgsmodell, denn eine sich selbst befeuernde Kontroverse verkauft wahrscheinlich ein paar Zeitschriften. Thilo Sarrazin ist der Blutdiamant unserer Branche geworden: ein gutes Geschäft auf Kosten eines Konfliktes, den er immer nur weiter befeuert, anstatt zu seiner Lösung beizutragen.

Danke, dass Sie mich kritisieren

Journalisten gehören, das hören sie immer wieder, zu den am meisten verachteten Berufsgruppen überhaupt. Allerdings glauben sie das nicht. Insofern war das auch nie ein Anlass, etwas an ihrer Arbeit zu ändern. Dass selbst in den Online-Angeboten hoch respektierter Zeitungen in den Kommentarspalten oft rüde Kritik geübt wird, hat viele Kollegen in den letzten Jahren eher dazu verleitet, das Internet zu meiden oder Leser im Allgemeinen für nerviges Pack zu halten. Diskussionen zwischen Autoren vor allem von Print-Geschichten und ihren Lesern sind nach wie vor selten, und selbst Online-Redaktionen beachten die Kommentarspalten regelmäßig nicht. Nicht einmal Fehler, auf die in den Kommentarspalten hingewiesen wird, werden in Geschichten verbessert. Jede andere Branche, die derart ignorant mit ihren Kunden umginge, würde nicht nur untergehen, sondern auch noch von der Presse zerrissen.

Ich habe in den letzten Wochen eine Geschichte machen können, die in der Form ein Experiment war. Bei der (unglücklich betitelten) „Livereportage“ konnten Leser die Entstehung der Geschichte verfolgen und bereits dort kritisieren. Und das haben sie getan. Bezeichnenderweise drehen sich danach sehr viele Gespräche, die ich führe, um diese Kritik. Ich werde manchmal fast schon bemitleidet. Und das ist, wenn man es genau betrachtet, bizarr: Das Sammeln von Erkenntnissen und Erfahrung ist das Ziel von Experimenten, die ergebnisoffen geführt werden, und umfangreiche Kritik ist wahrscheinlich der direkteste Weg, den wir dorthin haben können. Ein echtes Problem wäre zu wenig Kritik.

Ich glaube, dass unsere Einstellung zu Kritik, namentlich die oft fehlende Bereitschaft von Medienschaffenden, auf Kritik einzugehen und aus ihr zu lernen, doppelt schädlich ist. Zum einen verhindert sie, dass unsere Produkte besser werden, und zwar besser für die, die sie konsumieren. Und das sind die, die zählen. Zum zweiten wirkt die Einstellung aber auch noch arrogant — vielleicht auch deshalb, weil sie es oft genug einfach ist. In jedem Fall zementieret sie den Graben zwischen Konsumenten und Medienschaffenden, der wie ein Burggraben wirkt, hinter dem Journalisten und Verlage ihre schwindenden Pfründe verteidigen. Aber funktionieren wird das nicht ewig.

Anstatt ein Modell zu verteidigen, das dazu geführt hat, dass unser Beruf zu den meistverachteten der Republik gehört, lohnt es aus meiner Sicht, in die Offensive zu gehen und Modelle auszuprobieren, die es ermöglichen, die systemrelevante Dienstleistung Journalismus erfolgreich und einträglich zu erbringen. Denn Journalismus an sich ist in seiner Wertigkeit unumstritten. Aus der Kritik zum Beispiel an meiner Livereportage kann man auch lesen, dass dem Journalismus im Prinzip sogar gigantische ethische Prinzipien unterstellt werden. Die Vorstellungen davon, welche Kriterien der Qualitätssicherung Verlage haben, sind manchmal bizarr übertrieben. Der Glaube an bestimmte Medienmarken genauso. Nur eben das Vertrauen in einzelne Journalisten eben nicht. Was aus meiner Sicht bedeutet, dass der einzelne Journalist transparenter, öffentlicher, erreichbarer und kontrollierbarer werden muss. Die Antwort auf Kritik, auch unsachliche und sogar ausfällige Kritik kann nicht sein, sich der Kritik zu entziehen. Sie muss im Gegenteil dazu führen, dass wir uns erst recht der Kritik aussetzen, um sie durch unsere offene und kontrollierbare Arbeit zu entkräften. Das wäre ganz nebenbei auch die einzige Möglichkeit, den bisher oft nur behaupteten Qualitätsvorsprung von Profis gegenüber den User-Journalisten zu belegen, wenn es ihn denn tatsächlich gibt.

Kritik ist kein Problem, sondern im Gegenteil die größte Chance des Journalismus in der Übergangsphase, wie wir ihn erleben. Denn Kritik bedeutet auch, dass da Menschen engagiert sind in der Debatte, dass sie uns ihre in der Masse riesige Weisheit überlassen und von uns im Gegenzug zu ihrer Zeit und Energie nur eins verlangen: Respekt.

Die Live-Reportage

Vor ein paar Monaten, auf der Höhe der sogenannten Griechenlandkrise, als ich ein paarmal in verschiedenen Medien zu sehen, zu hören oder zu lesen war, war unter den Mails, die ich bekam, auch die einer Frau, deren Tochter vor drei Jahren in Athen unter bis heute nicht wirklich aufgeklärten Umständen gewaltsam ums Leben kam. Die griechischen Behörden behandelten den Fall lange Zeit als Selbstmord, und die Mutter hatte erstens den Eindruck, es gäbe sehr viele Hinweise darauf, dass ihre Tochter sich nicht selbst das Leben genommen hat, und zweitens, dass die griechischen Behörden sich nicht ausreichend um die Aufklärung bemühten (und die deutschen Behörden sie nicht genug dahingehend unter Druck setzen). Die Mutter schrieb mir, weil sie sich seit drei Jahren an praktisch jeden wendet, der auch nur entfernt mit Griechenland zu tun hat. Sie nutzt, und sagt das auch genau so, jede Gelegenheit, um neue Bewegung in die Untersuchungen zu bringen.

Ich habe ihr freundlich geantwortet, wie leid mir das alles tut. Ich bin selbst Vater von zwei (allerdings noch sehr kleinen) Mädchen, und selbst wenn ich den Schmerz nicht einmal im Ansatz nachvollziehen kann, jagt allein die Vorstellung, ein Kind zu verlieren, kalte Schockstöße des Horrors meine Wirbelsäule hinab. Um ganz ehrlich zu sein, meine Grundstimmung war die: Ich habe unendliches Mitleid mit der Familie. Aber ich habe meine berufliche Laufbahn erstens als Polizeireporter begonnen und weiß, dass solche Albtraum-Erlebnisse die Urteilsfähigkeit schwächen können. Und ich weiß außerdem, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass griechische Behörden den Tod einer Deutschen in Athen nur nachlässig untersuchen. Ich bin in diesem Moment davon ausgegangen, dass die erschütterte Familie ganz einfach nicht wahrhaben will, dass ihre Tochter sich umgebracht hat. Und das fände ich total verständlich.

Allerdings habe ich die Energie der Mutter, Marion Waade, extrem unterschätzt. Sie schrieb mir noch einmal die Eckdaten des Falles rund um den Tod ihrer Tochter Susan (die zum Zeitpunkt ihres Todes knapp 27 Jahre alt war), wir haben telefoniert, und ich habe angeboten, mir zumindest einmal die Unterlagen anzusehen, auch um zu gucken, ob ich ihr mit meinem Bauerngriechisch irgendeine Unterstützung sein kann (mein Bauerngriechisch ist allerdings mit – teilweise handschriftlich verfassten – juristischen Unterlagen völlig überfordert). Und es ist ein Berg von Unterlagen – faul waren die Behörden jedenfalls nicht.

Dabei musste ich allerdings feststellen, dass eine ganze Reihe von Vorwürfen eine Grundlage haben. Das muss nicht heißen, dass sie stimmen, aber es gibt eine ganze Menge Fragen zu stellen. Nur als Beispiel, und um zu verdeutlichen, wo meine Überlegungen anfangen: Susan Waade soll sich erhängt haben, aber im Sitzen. Sie ist nach Ansicht der Polizei nicht von einem Hocker oder einer Kiste gesprungen, sondern hat sich sitzend so in die Schlinge eines aufgeknüpften Wollschals gelehnt, dass sie daran erstickte. Das ist technisch wohl möglich, aber es erscheint einigen Experten als unwahrscheinlich, zumal sie keine Betäubungsmittel genommen und wohl auch keinen Alkohol getrunken hatte. Es bleibt eine Frage zurück.

Und Fragen sind das, worauf Journalisten anspringen. Oder nicht?

Ich bin damals von Frau Waade weggefahren mit dem Versprechen, mir Gedanken zu machen. Und das habe ich getan. Und dabei stößt man sehr schnell auf ein Problem. Denn in Wahrheit springt der Journalismus längst nicht mehr auf Fragen an, sondern nur noch auf Antworten. Um diese Geschichte zu schreiben, würde ich mich entscheiden müssen und Partei ergreifen, denn wie soll man sonst als Autor diese Geschichte vorschlagen? Die Möglichkeiten sind in Wahrheit begrenzt: „Eine junge Frau wird ermordet und die Behörden schlampen bei den Ermittlungen – Skandal“? Oder als „Eine Berliner Familie glaubt, ihre Tochter ist ermordet worden und verlangt Aufklärung“, menschelnd, traurig, anklagend? Diese Geschichte hat es tatsächlich mehrfach gegeben, die Waades waren zum Beispiel bei Stern TV. Aber es ist eben nur die Hälfte der Geschichte. Warum, fragte ich mich, kann ich nicht die Geschichte vorschlagen: „Eine junge Frau kommt gewaltsam ums Leben, ob Mord oder Selbstmord weiß ich nicht, aber ich würde gerne darüber schreiben, ich würde gerne berichten, ohne dass Ende zu kennen“?

Es fällt für einen Freien wie mich schon schwer, mir eine Redaktion auszudenken, der man so etwas vorschlagen kann. Und das ist aus meiner Sicht ein Verlust für den Journalismus und den Beitrag, den Journalismus zu einer funktionierenden Gesellschaft beitragen kann. Es stellt die Reihenfolge auf den Kopf: Vor allem wir Freien müssten die echte Arbeit machen, bevor wir sie überhaupt für einen Auftrag vorschlagen können, die Recherche bis hin zur These vollendet haben, bevor wir Geld dafür verlangen können. Oder aber, und das ist es, was passiert: Wir müssen eine Geschichte vorschlagen, von der wir nicht sicher sein können, ob sie wahr ist – und stehen hinterher realistischerweise unter dem Druck, die recherchierten Fakten so zu beleuchten, dass wir für den Chefredakteur die Erwartung an die These befriedigen können – denn er hat mit der These seine Ausgabe geplant. Da läuft etwas falsch. Ich hatte also das Gefühl, da wäre eine Geschichte, die es sich zu erzählen lohnt, aber die Geschichte hatte eben kein Ende, keine These, keine echte Richtung. Diese Geschichte ist kompliziert, ausufernd, nicht klar zu greifen – genau so, wie das Leben eben ist. Aber der Journalismus nicht.

Ein paar Tage später bin ich mit der Idee aufgewacht, dass das vielleicht schon die Antwort ist. Warum erzählt man diese traurige Geschichte nicht ausufernd und kompliziert, warum gibt man nicht allen Lesern, die es interessiert, die Möglichkeit, sich ein Bild zu machen, ohne sich vorher zu entscheiden? Ohne es vorher in Rahmen zu pressen wie „Skandal“ oder „menschliche Tragödie“? Warum berichtet man nicht das, was man herausfindet, während man es herausfindet, egal, wie wichtig oder nebensächlich das jetzt für irgendeine These ist? Das Internet gibt uns die Möglichkeit, warum probieren wir es nicht aus?

Ich habe Timm Klotzek von Neon zu einer unmöglichen Zeit am frühen Morgen eine SMS geschrieben, und er rief ein paar Minuten später zurück. Er mochte die Idee, aber er hatte auch Bedenken. Sie haben es sich bei Neon nicht leicht gemacht und den Vorschlag ein paar Wochen lang hin und her gewendet, denn natürlich hat diese Geschichte viele Anteile, die nach einer boulevardesken Crime-Story riechen, die eigentlich nicht zu Neon und neon.de passt. Umso mehr muss ich mich bei ihnen für das Vertrauen bedanken, dass ich es schaffen könnte, ohne eine billige, sensationsheischende Geschichte daraus zu machen, die Neon mehr schadet als nützt (und die ersten Kommentatoren auf neon.de sind tatsächlich sehr, sehr kritisch deswegen – und das macht die Seite aus meiner Sicht zum besten denkbaren Ort dafür).

Ich habe das noch nie gemacht, ich kenne auch niemanden, der so etwas schon einmal gemacht hat, und dafür gibt es gute Gründe. Der beste ist: Es kann schiefgehen. Es ist ja nichts wirklich geplant. Es gibt kein Script. Und ich kann jeden gestandenen Reporter verstehen, der sich nicht dem Risiko aussetzen will, zehn Tage lang darüber zu berichten, dass er vor verschlossenen Türen steht und dass niemand mit ihm reden will. Aber die Wahrheit ist doch auch: So, wie es heute ist, wo wir nicht wissen, was Journalisten tun, bis sie es uns „herausgeben“ – wo wir nicht überprüfen können, welche Informationen sie tatsächlich haben und wie sie sie interpretieren, stehen die Journalisten vielleicht gefühlt besser da, aber ihre Auftraggeber, die Leser, nicht unbedingt.

Wenn ich eine Geschichte darüber gemacht hätte, dass Susan Waade wahrscheinlich umgebracht wurde, hätte das eine schöne, respektierte Reportage werden können. Wenn ich eine Geschichte darüber gemacht hätte, dass Susan Waade sich wahrscheinlich selbst umgebracht hat, ihre Eltern es aber einfach nicht wahrhaben wollen, genauso. Und das, obwohl ich nicht weiß, welche Version stimmt, es vielleicht nie wissen werde und trotzdem der festen Überzeugung bin, dass dieses eine Geschichte ist, die es wert ist, erzählt zu werden. Und bei der sich die Leser ihre eigenen Gedanken machen werden, sollen und können.

Bei all dem muss allerdings eine Sache immer im Vordergrund stehen: Es geht um das Schicksal eines Menschen. Und das ist die eine Sache, die ich auf jeden Fall erzählen möchte: Die Geschichte von Susan Waade, einer eigensinnigen, freiheitsliebenden, manchmal starrköpfigen, großherzigen und abenteuerlustigen jungen Sängerin aus Berlin, die nichts mehr liebte als die Musik. Und das allein ist es mehr als wert.

Am 21. geht es los, und zwar hier: www.neon.de/alle/livereportage

Auf Kommentare antworten

Texte hat es vor „dem Internet“ gegeben. Videos hat es vorher gegeben. Radiobeiträge auch. Und bei aller Freude an echt multimedialen Inhalten glaube ich persönlich, dass die journalistischen Möglichkeiten noch nicht im Ansatz so gut genutzt werden, wie sie es könnten. Man kann eine Weile darüber diskutieren, ob das Internet ein Medium ist (ich bin der Überzeugung: nein, es ist ein Marktplatz), aber in jedem Fall bleibt meiner Meinung nach, dass das Netz dem Journalismus noch nicht besonders viel hinzugefügt hat. Wie denn auch, wenn sich die größten Häuser der Branche immer noch weit gehend darauf beschränken, entweder vorhandenen „Content“ einfach online zu stellen, oder aber zusätzliche Inhalte zu Preisen zu produzieren, über die gestandene Journalisten lachen müssten, wenn es nicht so traurig wäre. Nein, aus meiner Sicht ist im Netz eigentlich nur eine Sache wirklich neu. Aber die ist so gut, dass sie allein alle Energie wert war, die in die Entwicklung von Online-Journalismus bisher geflossen ist. Es ist die Kommentarspalte.

Natürlich liebe ich die Tatsache, dass ich zu jeder Tages- und Nachtzeit in meinem bescheidenen Rahmen alles schreiben kann, was ich will. Und selbstverständlich mag ich lieber dafür gelobt werden, als kritisiert. Aber das hat an meinem Beruf relativ wenig geändert. Erst seitdem ich die Reaktionen auf das, was ich schreibe, als organischen Teil eines Textes betrachte, und das Antworten auf Kommentare als Teil der (in diesem Fall freiwilligen, unbezahlten, aber dennoch) Arbeit, hat sich tatsächlich etwas weiterentwickelt, das unbedingt weiterentwickelt werden musste. Der direkte Austausch mit Lesern, Kritikern, Gegnern und manchmal auch Spinnern hat meiner Meinung nach das Medium Geschriebenes Wort wieder zu einem echten Teil des öffentlichen Diskurses werden lassen, an dem mehr als ein paar Auserwählte teilnehmen. Und das ist wertvoll.

Aber es ist – darum darf man nicht herumreden – unendlich mühsam. Es gibt eine Menge Menschen, mit denen zu diskutieren anstrengend ist, die manche Dinge, die aus Sicht eines Autoren glasklar sind, nicht verstehen wollen oder können, was natürlich genauso gut daran liegen kann, dass sie nicht ganz so klar sind, wie der Autor sie sieht – aber früher hätte er das gar nicht gemerkt.

Das führt aus meiner Sicht nicht unbedingt dazu, dass Autoren durch das direktere Feedback besser werden. Manche sicher, viele nicht. Es hat einen viel direkteren Effekt, der offensichtlich schwer in Worte zu fassen ist, und der deshalb meist negativ umschrieben wird als der Faktor, der macht, dass „klassische Medienhäuser das Internet nicht verstehen“. Und der Satz ist, leider, sehr wahr. Die Kommentarspalte macht deutlich, warum.

Denn die nach unten offene und von überall zugängliche Kommentarspalte zeigt einen im Netz angebotenen Text als das, was er im Print nur unsichtbar war: Als Treffpunkt für eine Vielzahl von Menschen, die sich für Momente Gedanken um das selbe Thema machen. Eben als Knotenpunkt in einem Netz. Während Texte früher nur in eine Richtung abstrahlten, vom Sender zum Empfänger, wie es die klassischen Kommunikationswissenschaften lehren, strahlen die Gedanken heute in jede Richtung, vom Autoren zu Lesern, von Lesern zu Lesern und von Lesern zum Autor. Das Medium ist aus meiner Sicht nicht das Netz, aber das Netz ist der Marktplatz, auf dem das Medium Wort in unendlich viele Richtungen verteilt und zurückgespielt werden kann. Und das wirklich Lustige daran ist: Nur dann macht es wirklich einen Sinn.

Wir haben uns an die Phrase gewöhnt, dass der Buchdruck für die Aufklärung das entscheidende Medium war, aber in Wahrheit ändert das Medium an der Realität der Welt gar nichts. Veränderung gibt es erst, wenn zwei Menschen – in diesem Fall: zwei Aufgeklärte – sich miteinander verbinden, austauschen und so die neue Erkenntnis Realität werden lassen. Ein einzelner Aufgeklärter, der allein zuhause sitzt und liest, hat einen netten Abend. Zwei, die sich erkennen und feststellen, dass sie eine gemeinsame Überzeugung teilen, sind die Keimzelle der Entwicklung der Welt.

Der Sinn, Informationen auszutauschen, besteht darin, seinen Platz in der Welt zu finden, seine Umgebung zu verstehen und sich oder die Umgebung so anzupassen, dass ein Leben daraus wird. Einen Gedanken zu lesen, in zu verarbeiten und für sich selbst zu akzeptieren macht im Kopf des Lesers einen Unterschied. Aber nur da – in einem Paralleluniversum. Wenn Journalismus für sich in Anspruch nimmt, das Handwerk des Beschreibens der Welt zu sein, zum Zwecke der Befähigung der Menschen zum Umgang mit der Welt, dann ist der eigentliche Sinn nicht nur der, Menschen zu informieren. Die Menschen müssen sich über die Informationen erst austauschen, bis sie wirklich sinnvoll werden. Wir sind Stofflieferanten, aber damit Stoff etwas nützt, müssen die Menschen sich Kleider daraus nähen. Aber der Umgang der Häuser, die „das Internet nicht verstehen“, war eben bisher genau gegenteilig: Die Auseinandersetzung in den Kommentarspalten, die Diskussionen, das Kleidernähen aus dem Stoff Information, werden an vielen Stellen immer noch missachtet oder ganz ignoriert. Das ist einigermaßen dämlich.

Ich habe das schon einmal geschrieben, und ich werde mich daran messen lassen: Ich glaube, dass ein Stefan Niggemeier, der einen Artikel schreibt und dafür 953 Kommentare bekommt (bis selbst er ermattet die Kommentarspalte schließen muss), die bessere Medienmarke ist als eine, die 953 Artikel schreibt und dabei nur einen Kommentar bekommt, den sie wirklich liest, beachtet und der sie zum Reagieren verleitet. Und bessere Marke heißt: Den einen wird es in 20 Jahren noch geben. All die anderen nicht.