Interessiert eigentlich jemanden, was in Griechenland wirklich passiert?

Ich bin seit einer Woche in Griechenland (ein Nebenprodukt der Reise liest man hier), und einer Sache war ich mir sicher: Die unterirdische Qualität der Berichterstattung in Deutschland über die Krise lag aus meiner Sicht auch daran, dass die deutsche Presse in der Post-Korrespondenten-Ära einfach zu wenig oder gar keine Leute im Land hat, zu wenig Experten, zu wenig Journalisten, die ihre Geschichten nicht einfach voneinander abschreiben. Denn es gibt in Deutschland nur eine handvoll Kollegen, die von diesem komplizierten Land eine Ahnung haben (aus dem Stand fallen mir ein: Gerd Höhler, Niels Kadritzke, Eberhard Rondholz, Michael Thumann und Christiane Schlötzer). Sie berichten deshalb kein bisschen weniger kritisch, aber auf der Grundlage von Tatsachen, nicht von den Thesen, die sich manche Redaktionen mit einem eher begrenzten Blick auf die Welt ausdenken.
Wenn Journalisten vor Ort sind und sich ein Bild von der Lage machen können, selbst mit Menschen sprechen und wirklich wissen wollen, was passiert, dann – das habe ich mir vorgestellt – ist die Griechenland-Krise immer noch eine Herausforderung, aber eine für einen Journalisten beherrschbare. Aber ich habe mich getäuscht.
Heute morgen lese ich auf Spiegel Online eine Geschichte mit der Überschrift „Sanierungspaket: Griechen verzweifeln an der Schuldenkrise“. Der Reporter berichtet aus Athen. Aus dem Fünf-Sterne-Hotel Grande Bretagne schräg gegenüber dem Parlament, um genau zu sein, und er hat tatsächlich mit einem Griechen gesprochen: Einem Kellner im Restaurant auf der Dachterrasse des Hotels. Sollte er das Gebäude je verlassen haben, dann findet sich dafür kein Hinweis in seinem Text.
Eine „beispiellose Serie von Protesten“ steht seiner Recherche nach bevor, und dafür gibt es zwei Indizien in seinem Text: Zum einen die Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Politei am 1. Mai, die natürlich auch die Bebilderung des Textes hergeben, und eine repräsentative Umfrage, nach der fast 86 Prozent der Griechen sich „unsicher fühlen“. Dass gleichzeitig je nach Umfrage zwischen 70 und 80 Prozent der Griechen das Sanierungspaket für alternativlos halten bleibt unerwähnt.
Ich hätte nicht einmal erwartet, dass sich der Reporter die Demostration mit eigenen Augen aus der Nähe ansieht. Ich kann verstehen, dass eine Horde aufgebrachter Männer, deren Sprache man nicht versteht, einen Reporter Abstand halten lassen. Aber vielleicht hätte ein Blick auf die roten Fahnen der Demonstranten genügt, um sich einen zweiten Gedanken darüber zu machen, wer da demonstriert. Einen Hinweis darauf gibt er selbst: „Raus, IWF“ sei „jetzt schon auf etlichen Plakaten in Athens Stadt zu lesen“. Die Gewerkschaften hätten für Mittwoch zu einem Streik aufgerufen.
Tatsächlich heißt das Bündnis, das zu diesen Streiks aufruft und die Demonstrationen organisiert PAME (es ist eine Abkürzung, das Wort bedeutet aber auf griechisch „gehen wir“, hier in etwa im Sinne von „auf geht’s“). Und PAME bezeichnet sich selbst als „Militante Arbeiterfront“ und als „Allianz der klassenbewussten Gewerkschaften in Griechenland“. Sie gehört zu stalinistischen kommunistischen Partei KKE, die jedes Programm jeder Regierung als Angriff des Kapitals auf das Proletariat begreift. Und, muss man es sagen, sie repräsentiert nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Von ihnen auf den Seelenzustand „der Griechen“ zu schließen ist vergleichbar mit dem Versuch, aus den Mai-Krawallen in Berlin-Kreuzberg und im Hamburger Schanzenviertel Rückschlüsse auf die Meinung der deutschen Bevölkerung zu ziehen. Es ist falsch.
An der SpOn-Geschichte haben zwei Journalisten gearbeitet. Ich weiß nicht, ob einer von ihnen Griechisch spricht (der Name des zweiten, unter „Mitarbeit“ geführten Autoren ist an sich türkisch, aber es gibt sehr viele Griechen mit türkischen Namen. Lange Geschichte). Aber das wäre nicht einmal nötig gewesen: PAME veröffentlicht ihre Pressemitteiliungen regelmäßig später auch auf Deutsch. Man müsste es nur wissen wollen. Recherche auf der Dachterrasse eines Luxushotels reicht da nicht aus.

PS. Um noch ein Positiv-Beispiel zu geben (und tatsächlich ebenfalls auf SpOn): Hier beschreibt Gerd Höhler die Gründe der Krise sehr gut – und das vor anderthalb Jahren!