Himmel & Hölle: Einen Fairness-Preis gewinnen wir damit nicht

Ich bin stolzes Mitglied des jungen Berufsverbandes Freischreiber e.V. für freie Journalisten. Und ich schreibe relativ regelmäßig für die Zeitschrift NEON (und werde ihnen ewig dankbar sein für den Mut und die Energie, das Experiment Live-Reportage zu wagen). Jetzt streiten sich beide, und ich bin sehr unglücklich darüber – auch deshalb, weil ich das Gefühl habe, mit einer an sich guten Sache auf der falschen Seite zu stehen.

Freischreiber hat in diesem Jahr zum ersten Mal den Preis Himmel & Hölle ausgelobt für diejenigen Redaktionen, die am fairsten und am fiesesten mit ihren freien Schreibern umgehen. Das ist schonmal eine kipplige Idee, weil kein freier Journalist öffentlich über einen „fiesen“ Auftraggeber reden will oder kann. Eventuelle Vorwürfe sind also gezwungenermaßen anonym und so weit unscharf, dass ihr Urheber nicht erkennbar ist. Das ist problematisch, aber es ist auch ein nicht ganz seltenes Vorgehen im journalistischen Arbeiten, wenn Quellen nur anonym auftreten wollen und geschützt werden müssen. Die Jury-Mitglieder haben deshalb im Fall von sich häufenden Vorwürfen bei anderen Mitgliedern nachgefragt, die für dieselben Auftraggeber arbeiten, und sind überzeugt, dass sie stimmen.

Schwerer wiegender ist aber: Alles, was der Verband Freischreiber bisher mit großer, bewundernswerter Energie getan hat – mit viel zu wenig echter Unterstützung zum Beispiel von mir, der ich nur passiver Beitragszahler bin – hatte immer nur das Ziel, mehr Fairness zwischen Freien und Redaktionen zu erkämpfen. Freischreiber baut Brücken, und das viel besser, als selbst die meisten Mitglieder es wahrscheinlich bei der Gründung gedacht hätten. Aber das Vorgehen beim „Hölle“-Teil des Preises ist offensichtlich weder fair noch besonders konstruktiv.

Nominiert für den „Hölle“-Preis sind NEON, Spiegel Online und die Für Sie. Die Chefredakteure der ersten beiden Titel haben sich öffentlich sehr, sehr verärgert gezeigt darüber, dass sie plötzlich mit anonym geäußerten Vorwürfen konfrontiert sind. Im Fall von Spiegel Online betrifft das Vertragsbedingungen, die objektiv überprüfbar sind – allerdings ist Spiegel Online nach Aussage des Chefredakteurs Matthias Müller von Blumencron bereits dabei, diese Passagen zu überarbeiten, ironischerweise wohl sogar angestoßen durch einen Brief, den Freischreiber im Sommer an die Chefredaktion geschickt hatte. Für diese Art der konstruktiven Zusammenarbeit ist der konfrontative Preis sicher keine Hilfe, und er passt auch nicht zum bisherigen Stil meines Verbandes.

Im Fall von NEON sind die Vorwürfe aber noch ein Stück problematischer: Angeblich würde die Redaktion Ideen und Themenvorschläge, die von Freien eingebracht werden, an andere – wohl meist interne – Schreiber vergeben, kurz: Themen klauen. Jetzt wird es doppelt kompliziert, denn das ist erstens tatsächlich kaum zu überprüfen, zweitens auch ein gern geäußerter Vorwurf von Leuten, die sehr unkonkrete Ideen vorschlagen (ich habe mal gehört, wie jemand behauptete, die Redaktion des inzwischen eingestellten Interview-Magazins Galore hätte ihm ein Thema geklaut. Das Thema war „Ein Interview mit Kylie Minogue“) und drittens ist das ein übler Vorwurf – Themen klauen ist eine Todsünde für Redaktionen. Plötzlich und ohne Belege öffentlich diesem Vorwurf ausgesetzt zu sein ist hart, und Chefredakteur Michael Ebert ist sehr sauer darüber. Ich muss sagen, ich finde, er hat damit recht.

Ich persönlich kann nichts zu dem inhaltlichen Vorgang sagen. Ich bin im Zuge der Recherchen über die Nominierungen nach meiner Erfahrung gefragt worden und habe damals gesagt, mir gegenüber ist die Redaktion von NEON in jedem einzelnen Fall sehr, sehr fair aufgetreten, in einigen Fällen sogar überragend großzügig mit ihrer Unterstützung. Ich hätte gedacht, sie würden eher auf der Himmel-Seite des Preises nominiert. Aber, nächste Eskalationsstufe und letztlich der Grund, warum ich glaube, dieser Preis hat ein doch auch strukturelles Problem: Als Mitglied darf ich jetzt wählen, welcher der nominierten den Preis jeweils bekommt. Ich persönlich finde, NEON verdient ihn nicht, ich müsste also einen der beiden anderen wählen – habe aber für beide noch gar nicht gearbeitet. Das ist nicht gut.

So findet sich der Verband, an dem ich sehr hänge, von dem ich viel halte und dessen Erfolg mir wichtig ist in einer echten Zwickmühle: Dieser Preis war gedacht als konstruktive Kritik, die Anstoß geben soll zu einer besseren Zusammenarbeit zwischen Redaktion und Freien in der Zukunft. So etwa, wie Politiker „Dinge zuspitzen“ um Debatten hervorzurufen. Leider sind mein Verband und ich in diesem Falle Guido Westerwelle: Wir haben uns im Ton vergriffen. Und das schadet der Wertschätzung, die dieser Verband bisher auch von den kritisierten Redaktionen entgegengebracht bekam. Dieser Preis hat den doofen Namen „Hölle“ und den Zusatz „fieseste Redaktion“, aber er war gedacht als ein ehrliches Wort unter Kollegen.

Ich habe eine Lösung dafür, aber sie ist aberwitzig: Ich weiß, dass Michael Ebert und Matthias Müller von Blumencron stinkesauer sind, und ich habe schon gesagt, ich finde, sie sind es zu recht. Aber ich habe einen winzigen Fitzel Hoffnung, dass ausgerechnet sie sich am Ende eines reinigenden Gewitters trotzdem hinstellen und den Preis so verstehen werden, wie er gedacht war, und nicht so, wie man ihn verstehen musste, weil er scheiße aufgezogen worden ist. Beide haben das in ihren Interviews durchklingen lassen: Dass sie grundsätzlich Respekt für den Verband und sein Anliegen haben. Deshalb schlage ich folgendes vor: Wir sehen ein, dass es, wenn wir den Preis und seine Ziele ernst nehmen, in diesem Jahr nur einen würdigen Preisträger geben kann: uns selbst. Wir waren nicht fair. Ich werde am Wahltag einen Wahlzettel abgeben, auf dem die „Hölle“-Stimmen ungültig gemacht sind.

Und ich würde Michael Ebert, Matthias Müller von Blumencron und wenn sie sich angesprochen fühlt auch Sabine Fäth von der Für Sie von Herzen bitten, die Größe zu zeigen, am Abend der Preisverleihung zu einer Diskussionsrunde über die Zusammenarbeit von Redaktionen und Freien teilzunehmen. Dabei können die Vorwürfe ja ausgesprochen werden und wir können versuchen, zu beurteilen, welche Substanz sie haben. Aber wir sollten das im Gespräch tun, nicht in der Konfrontation. Ich glaube, wir können in dieser Situation nur darum bitten, denn wir haben es trotz guter Intention verbockt. Wir sollten die Größe haben, das zu sagen.

Aber die echte Arbeit liegt nicht bei dem, der sich entschuldigt, sondern bei dem, der die Entschuldigung annehmen oder ablehnen muss. Man kann und darf da nichts erwarten oder voraussetzen. Aber ich habe Hoffnung.

PS. Der großartige Kollege Christoph Koch auch.

Das Ende der Politik

Angela Merkel hat in den großen Fragen der jüngeren Zeit jeweils jeden Standpunkt vertreten, den man vertreten konnte: Für und gegen Atomkraft, gegen und für Hilfen für Griechenland, für und gegen die Wehrpflicht, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Dabei beschreibt das nur die jeweils extremsten Positionen, zwischen denen sie jeweils in schneller Abfolge und feiner Abstufung mal mehr und mal weniger offensiv ihre Überzeugungen angepasst. Man könnte das für einen Mangel an Orientierung halten. Aber man hätte damit unrecht. Angela Merkels Irrlichtern ist eine zielgerichtete Form der Politik – oder besser, es ist das Gegenteil davon: Die Abschaffung der Politik, wie sie gemeint ist.

Es gibt unter wahlkämpfenden Politikern eine Urangst, ein Gespenst: die dezentrale Mobilisierung. Gemeint ist damit, dass das offensive Vertreten einer bestimmten Position mehr Gegner dieser Position an die Wahlurne treibt als Unterstützer. Aufgeteilt bis hinunter in bestimmte innerstädtische Straßenzüge versuchen Politiker alles zu vermeiden, was ihnen dort mehr schaden als nutzen könnte, weil es ansonsten schläfrige potenzielle Nichtwähler zuerst auf die Palme und dann ins Wahllokal treibt – weil sie so sehr dagegen sind. Angela Merkels Strategie ist eine andere: Die der dezentralen Demobilisierung. Sie schläfert ein, in der berechtigten und 2009 bestätigten Hoffnung, in einer möglichst wenig aufgeheizten Stimmung, bei einer möglichst wenig polarisierenden Fragestellung, werde ihre unzerstörbare Wählerbasis ausreichen, zumindest bei einem uneinigen linken Lager nicht nur die CDU zur stärksten Partei sondern auch Mehrheiten gegen sie unmöglich zu machen.

Kein Grünen-Wähler wird plötzlich die CDU wählen, weil die auf einmal gegen Atomkraft ist. Aber vielleicht werden ein paar Menschen, für die Atomkraft ein wichtiges Thema war, weniger zur Wahl gehen und gegen sie stimmen, wenn sie ihnen diese Angriffsfläche nicht mehr bietet. Bei der griechischen Staatsschuldenkrise macht sie ihre Position ganz einfach undurchschaubar, indem sie jede Position mal vertritt und am Ende so wenig wie möglich tut. Ganz bizarr ist die Frage der Wehrpflicht, bei der sie es selbst noch am vergangenen Sonntagabend bei Günter Jauch schaffte, noch auf Karl Theodor zu Guttenberg als Urheber der Reform zu verweisen – so dass dessen Nach-wie-vor-Bewunderer zufrieden gestellt und etwaige Kritiker der Reform in ihrer Wut auf ein anderes Ziel umgeleitet waren. Ein genialer Zug.

Die Folge dieser Strategie der dezentralen Demobilisierung ist allerdings fatal: Sie nimmt der demokratischen Auseinandersetzung den Raum. Wenn Merkel zu recht zu jedem Argument sagen kann „das habe ich auch schon gesagt“, weil sie es tatsächlich getan hat, nämlich für und gegen alles, um dann so unbemerkt wie möglich immer nur gerade so viel wie nötig zu tun, nimmt sie der demokratischen Öffentlichkeit ein Stück weit die Teilhabe. Ein relatives Schweigen der Mehrheit ist weniger eine grundsätzliche Zustimmung zu dem, was da in Berlin gesagt und getan wird. Es ist reine Übermüdung.

Geschwätz von gestern

Der FDP-Vorsitzende Philipp Rösler zeigte sich verärgert über neue Forderungen zum Euro-Rettungsschirm, wie sie von EU-Kommissionpräsident José Manuel Barroso geäußert worden waren. Wer die Entscheidungen des Euro-Krisengipfels nach nur zwei Wochen wieder in Frage stelle, „erreicht genau das Gegenteil und verunsichert die Märkte“, sagte Rösler gegenüber FOCUS.

Focus Online, 6. August 2011

„Eine Regierung muss sagen, was sie für richtig hält, und darf sich dabei nicht von Märkten treiben lassen.“

Philipp Rösler

z. B. sueddeutsche.de, 15. September 2011

PS.

Es sind viele Bekenntnisse, die Rösler ablegt. In der Sache aber bleibt er auf Kurs, verteidigt sich gegen Vorwürfe, er habe die Aktienwerte an den Börsen durch seine Äußerungen zum Einsturz gebracht: Das sei schon „merkwürdig“, er habe von seinen Aussagen „nichts zurückgenommen, modifiziert, geändert“ und „zwei Tage später waren die Märkte wieder beruhigt“. Die Zuhörer applaudieren ihm.

Spiegel-Online, 16. September

Hat der Bundeswirtschaftsminister gesagt, es sei „schon merkwürdig“, dass die Börsenkurse steigen, obwohl er nichts zurückgenommen habe? Im Sinne von: Der Vorwurf, er habe einen Kursrutsch verursacht ist falsch, weil sie schliesslich auch wieder steigen – übrigens, Herr Wirtschaftsminister, nachdem die Notenbanken begonnen haben, die Märkte mit Dollars zu fluten? Denkt er wirklich, das wäre ein Argument? Ist der Mann dämlich, oder lügt er sich die Welt zurecht? Und was wäre schlimmer?

Wired: Wo sind bloß diese ganzen Geeks?

Ich weiß, dass die wichtigen Sachen zur eben erschienenen deutschen Ausgabe von Wired schon gesagt sind, aber ich habe Lust, mich mal wieder um das Thema zu kümmern, für das dieser Blog mal gegründet wurde (und, ja, ich sage „der Blog“). Um Printprodukte und ihre Gegenwart.

Ich bin wahrscheinlich ein bisschen voreingenommen. Ich hätte erstens gerne an einer deutschen Wired mitgearbeitet, und zweitens ging mir Thomas Knüwer, der Chefredakteur, immer wenn ich etwas in seinem Blog „Indiskretion Ehrensache“ gelesen habe, mit seiner Überheblichkeit auf die Nerven. Aber ich glaube, es ist nicht so schlimm, dass ich meine Emotionen da nicht beherrschen kann. Und ich bin grundsätzlich tief drinnen ganz angetan von dem Mut von Moritz von Laffert, mit der Konzeption einer deutschen Wired jemanden zu betrauen, der noch nie ein Magazin gemacht hat. Es ist ja nicht so, dass die Erfahrung bei allen anderen pausenlos nur Erfolge hervorbringt. Insofern ist das ein Weg, der sich lohnen könnte – ich bin immer für mehr Experimente.

Und die neue Wired ist erstens mal erschienen, was gar nicht so selbstverständlich ist, wie es sein sollte, und sieht zweitens auf den ersten Blick mehr als nur ordentlich aus. Ich verstehe das Cover nicht, weder die Titelzeile noch die Illustration, aber ich finde sie erstens hübsch und zweitens ist dieses Heft zunächst mal gar nicht für den Kioskverkauf vorgesehen, sondern eine Beigabe zu GQ, insofern darf man da Markenbildung über Verkäuflichkeit stellen. Als Verkäufer hielte ich den Titel für einen Stinker, aber dazu kommen wir noch.

Beim ersten Blättern fallen mir – neben der guten Gestaltung – zwei Dinge negativ auf: Das Heft hat wenig Rhythmus, zu viele kleine Geschichten und letztlich keine große Geschichte, die bei mir hängenbleibt. Und, als eindeutiges Mitglied der Zielgruppe, wenn dazu die Tatsache reicht, dass ich regelmäßiger Leser der US-Ausgabe bin, finde ich auf den redaktionellen Seiten kein einziges Produkt, das ich kaufen wollen würde. Da bin ich billig zu haben: Ich mag die Seiten mit Ferngläsern, Kameras oder Lautsprecherboxen. Ich mag Technik, die ich benutzen kann. Aber die deutsche Wired nutzt den Raum, den sie dafür hat, für Produkte wie eine Wasserpfeife für 1300 Euro oder den üblichen Roboter-Staubsaugertest, den ich seit acht Jahren irgendwann in jedem Magazin mal gesehen habe, obwohl ich immer noch keinen Menschen kenne, der so ein Ding je gekauft hat.

Das ist nicht so uneingeschränkt schlecht, wie es klingt. Ich suche beim Lesen wie beim Entwickeln von Zeitschriften nach Charakter, und Charakter wahrscheinlich am ehesten in der Bedeutung des Wortes wie bei einem Charakter in einer Fernsehserie. Da wahrscheinlich keine einzige Information in einem Magazin exklusiv ist, geht es bei Zeitschriften ausschließlich um die Weltsicht, und die wird neben der textlichen und gestalterischen Aufmachung auch durch die Themenauswahl bestimmt (zur Analogie: man guckt Fernsehserien auch nicht wegen der Geschichten, sondern wegen der Charaktere. Ob bei Doktor House ein Krebs oder ein Bruch behandelt wird ist nebensächlich neben der Frage, wie er behandelt).

Jedenfalls: Die Auswahl der Produkte und vieler Themen habe ich nicht verstanden, in dem Sinne, als sie mir kein Bild vom Charakter der Zeitschrift gegeben haben, das mich angesprochen hat.

Sehr viel wert wird dann beim zweiten Lesen auf die Entwicklung einer expliziten Weltsicht gelegt. Das zeigt sich am offensivsten in der Titelgeschichte über „Geeks“. Offenbar herrscht in der Redaktion oder zumindest bei ihrem Chefredakteur die Meinung vor, erstens einmal wäre „Geeks“ der positive Ausdruck für „Nerds“ (was mir nicht klar war – ist es eigentlich immer noch nicht), und zweitens wären Nerds in Deutschland irgendwie unterbewertet. Er macht das daran fest, dass die Süddeutsche Zeitung nicht regelmäßig über Geeks schreibt, was ich für ein komisches System halte. Die Süddeutsche Zeitung schreibt auch wenig über Spackos, obwohl sie in meinem Leben extrem präsent sind. Ich habe oft den Eindruck, ich wäre von Spackos umgeben. Ich nehme der Süddeutschen aber nicht wirklich übel, dass sie praktisch nie über Spackos schreibt, weil ich diesen im allgemeinen Sprachgebrauch unüblichen Begriff sehr eigenwillig benutze, und ich habe den Eindruck, mit Knüwer und den Geeks ist es ähnlich.

Allerdings könnte man den Begriff Geek, wie Knüwer ihn benutzt, aus meiner Sicht ziemlich genau mit dem in Deutschland gefeierten Begriff „Tüftler“ synonym benutzen, und dann bricht die komplette These der Titelgeschichte zusammen. Kurz: Ich halte die komplette These für Unfug, was auch daran liegt, dass sie abenteuerlich belegt ist.

Knüwer schreibt, es wäre merkwürdig, dass Geeks keine Rolle spielen, wo doch Geeks wie Gutenberg und Carl Benz das Land groß gemacht hätten. Allerdings bestreitet niemand deren Leistung, es nennt sie nur niemand Geeks (aber ich schlage im Zuge der ausdrücklich eingeforderten Leserbeteiligung vor, sich mal mit dem Skandal zu beschäftigen, dass verschwiegen wird, dass Hitler der Spacko das Land mal komplett ruiniert hat. Das muss man doch mal aufschreiben!).

Gleichzeitig stellt Knüwer fest, dass „die Politiker“ und irgendwie auch alle anderen das Land kaputt machen, weil sie Geeks nicht fördern. Geeks sind dabei Menschen wie Gutenberg, Benz und eine junge Frau, die tolle Schokolade macht, die Politiker und der Spiegel unterdrücken sie aber, indem sie das Internet gefährlich finden und immer nur regulieren wollen. Nochmal zum Mitdenken:

[Geeks] gründen Fotografie-Startups oder entwickeln neue Produktionsmethoden für ethisch korrekte Schokolade.
Anerkennung und Respekt ernten sie dafür wenig – im Gegenteil. Sie werden zu Außenseitern erklärt. Zu Nerds. Freaks. Zu Parias. Zum Beispiel vom „Spiegel“: „Macht das Internet doof?“; „Netz ohne Gesetz“; „Die Unersättlichen – Milliardengeschäfte mit privaten Daten“ – alles Schlagzeilen seit 2008″

Wenn das wahr ist, dann ist es mir komplett entgangen. Werden Schokoladen-Tüftler zu Parias gemacht? Ich habe aber den Eindruck, dass da Dinge miteinander vermischt werden, um irgendetwas zu belegen, von dem der Wired-Chefredakteur denkt, es wäre so – das sich aber nicht belegen lässt. Knüwer leitet daraus dann allerdings her, dass es eine Angst der Eliten vor dem Netz gibt, die ja immerhin gesehen haben, wie man mit dem Netz in Nordafrika Diktatoren stürzt – was ich dann auch wieder in jeder Hinsicht für Quatsch halte. Aber wie dem auch sei, die Geschichte geht in etwa so: Die deutschen Eliten verspielen aus Angst davor, ihr Verhalten zu ändern, die Zukunft des Standortes Deutschland. Andere machen das teilweise besser. Und das sind Geeks.

Ein Geek für Deutschland – das wäre eine Idee. Oder auch mehrere. Viele. Geeks haben das Fachwissen, das in der Politik fehlt und oft auch in der Wirtschaft.

Es gibt also irgendwo eine Horde von ganz tollen Typen, die alles nötige Fachwissen haben, damit bisher aber weder in der Wirtschaft arbeiten noch in der Wissenschaft, wo Politiker ihre Experten rekrutieren. Das ist aus meiner Sicht eine so abenteuerlich jenseits der Realität angesiedelte Vorstellung von der Welt, dass ich nicht einmal weiß, wie man darauf antworten soll. Ich würde nur diesen Keller gerne sehen, in dem die Geeks angeblich aufbewahrt werden. Positiv festhalten lässt sich, dass hier das Programm der deutschen Wired in seiner Essenz aufgeführt wird, denn genau so geht es weiter: Die da oben haben keine Ahnung, und wir sind das Organ derjenigen, die es besser wissen.

Da wird ein Wirtschaftsjournalist vorgestellt, weil er offenbar Wirtschaftsjournalismus macht, und sich „mit Star-Ökonomen anlegt“ (gemeint mit „Star-Ökonom“ ist, knihihi, Hans-Werner Sinn).

Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, der irgendwas zum Thema Cyberwar macht, und sich dabei „mit Generälen und Politikern“ – na? Genau: anlegt (übrigens damit das Militär nicht so viel das Internet benutzt, das ist zu unsicher).

Dann kriegt es angeblich keiner in Deutschland mit, dass Berlin zu einem tollen Startup-Standort geworden ist. Badoo ist ein Social-Network-Phänomen „aber keiner redet drüber“. Computerspiele sind das „Medium von morgen“, aber Spiele sehen aus wie Hollywoodfilme von gestern.

Das sind alles nur Zitate aus den Vorspännen von Geschichten, in den Geschichten selbst geht es aber dann genau so weiter: Wenn ich den Charakter der deutschen Wired beschreiben sollte, würde ich sagen, sie leidet daran, dass sie glaubt, alles besser zu wissen als alle anderen. Wenn doch endlich jemand auf sie hören würde!

Die Frage, die sich aus Verlagssicht dazu stellt, ist ob es genug Menschen gibt, die die Welt genauso sehen. Die Verschwörungstheoretiker in den Kommentarspalten der deutschen Nachrichtenangebote sprächen dafür, dass es so ist. Das Gefühl, alles besser zu wissen und „die Politik“ dafür zu verachten, wie wenig Ahnung sie angeblich hat, sorgt – inhaltlich allerdings auf einem höheren Niveau – ja auch für die großartige Auflage des Spiegel. Dass ich das Konzept persönlich nicht mag, heißt nicht, dass es nicht funktionieren kann.

Aber ich finde es langweilig.

Tugenden

Inzwischen begibt sich selbst der sonst eher rational argumentierende Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in die Niederungen, in denen seine Kollegen aus der Regierungskoalition ihren billigen Stimmenfang betreiben. Die Politiker von CDU und FDP versuchen seit inzwischen fast zwei Jahren mit Unterstützung der üblichen Medien, für die Schuldenprobleme vor allem der südeuropäischen Staaten charakterliche Defizite verantwortlich zu machen. Da ist von Schulden-„Sündern“ die Rede, von „Schlendrian“ und allen möglichen Mentalitäten (erstaunlicherweise nicht, wenn es um die USA geht, aber warum sollte falsche Argumentation konsistent sein). Schäuble bedient sich nun implizit derselben argumentativen Schiene, wenn er in einem Beitrag in der Financial Times zum Beispiel behauptet

There is some concern that fiscal consolidation, a smaller public sector and more flexible labour markets could undermine demand in these countries in the short term. I am not convinced that this is a foregone conclusion, but even if it were, there is a trade-off between short-term pain and long-term gain.

Das Bild vom reinigenden „Schmerz“, der auf lange Sicht die Erlösung bringt, passt perfekt in die Ideologie derjenigen, die Länder „leiden“ sehen wollen, weil sie „Sünder“ sind (und wenn er da nicht nur einen merkwürdigen Witz machen wollte, verlangt EU-Kommissar Günther Oettinger, dass Länder mit einem Haushaltsdefizit in Zukunft dadurch gedemütigt werden sollen, dass ihre Flaggen vor den EU-Gebäuden auf Halbmast gesetzt werden sollen. Was für ein kranker Mann). Die Maßnahmen, die deutschen Regierungspolitikern zu den Problemen unserer Zeit einfallen, erinnern stark an die Maßnahmen, die der katholischen Kirche in vergangenen Jahrhunderten zu den Problemen ihrer Zeit eingefallen sind: tue Buße. Und das war dann das. Ökonomisch ergibt das selbstverständlich keinen Sinn, aber Ökonomen sind auch berühmt dafür, dass sie im Gegensatz zur BILD-Zeitung nicht in moralischen Kategorien denken. Die Wählerverarschung erfüllt inzwischen wahrscheinlich die Definition für Organisiertes Verbrechen.

Wie falsch die Rechenschieber-Inquisiteure und Sparprogrammierer dabei liegen zeigt in dieser Woche ausgerechnet eine bemerkenswerte Rede aus einer gänzlich unerwarteten Ecke. Charles Evans, Präsident der Chicagoer Zentralbank (die US-amerikanische „Federal Reserve“ besteht aus einer Reihe regionaler Zentralbanken), weist in einer Rede darauf hin, dass die Verantwortung seiner Institution nicht nur darin bestehe, die Inflation knapp unter zwei Prozent zu halten, sondern auch die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten.

Suppose we faced a very different economic environment: Imagine that inflation was running at 5% against our inflation objective of 2%. Is there a doubt that any central banker worth their salt would be reacting strongly to fight this high inflation rate? No, there isn’t any doubt. They would be acting as if their hair was on fire. We should be similarly energized about improving conditions in the labor market.

Nur noch einmal zum auf der Zunge zergehen lassen: das sagt ein Zentralbanker in den USA – nicht unbedingt ein Land, auf das der ständig von unseren Regierungsparteien implizierte Vorwurf zutrifft, Eingriffe in den „freien“ Arbeitsmarkt zu praktizieren, die angeblich schädlich sind, weil sie letztlich die Disziplin, also die Tugend, der sündigen, faulen Arbeitnehmer untergraben (Evans plädiert in der Folge dafür, mehr Geld in den Markt zu pumpen und eine mäßig steigende Inflation zugunsten von neuen Jobs zumindest zeitweise in Kauf zu nehmen).

Was für den Währungsraum USA gilt stimmt auch für den Währungsraum Euro: Gleichzeitig auf Kosten grassierender Arbeitslosigkeit – besonders unter jungen Europäern – offensichtlich nutzlose Sparprogramme durchzudrücken, und das auch noch mehr oder weniger versteckt als Tugendhaftigkeit zu verkaufen, ist verlogen und bigott. Anstatt ihrer Verantwortung für die Bevölkerung(en) gerecht zu werden, tauschen Schäuble und seine Spießgesellen die Schicksale von Millionen Menschen gegen die Rettung von Banken – und deklarieren den Schmerz der Millionen verarmenden um zu einer Art spiritueller Reinigung.

Wenn es einen Gott gibt, dann gibt das Ärger.

PS. Der von mir geliebte Economist sieht es seit heute ähnlich:

There is an angry self-righteousness to German rhetoric. Schulden, the German word for debt, is derived from Schuld, which also means guilt. In a revealing recent speech in Washington DC, Wolfgang Schäuble, the German finance minister, said that the crisis was the result of forsaking “long-term gains for short-term gratification”, by piling up debt and abandoning competitiveness. The answer is not to throw more money at the problem. “You simply cannot fight fire with fire,” he said. One could almost hear an echo of Martin Luther denouncing the sale of indulgences. Why should sinners be given an easy way out?

Wie wird man eigentlich „Journalist“?

Weil Hetze nicht schlecht wird, wenn man sie ein paar Monate nicht benutzt, hat Bild.de heute noch einmal den Artikel ausgepackt, in dem sie darauf hinweist, dass sie in Bezug auf Griechenland schon immer Recht hatte (Anlass dafür, auf alte Artikel wie den mit der Headline „Griechen streiten und streiken, statt zu sparen!“ (BILD, 25. Februar 2010) hinzuweisen ist lustigerweise offenbar die spätestens seit gestern durch die Troika-Prüfungen belegte Tatsache, dass Griechenland zu viel spart).

Allerdings hat Bild.de einen zumindest für mich neuen Aspekt zu der Geschichte hinzugefügt: Kritik an Bild. In einer kleinen Klickgalerie zitiert Bild tatsächlich Experten, die die Kampagne der Bild kritisiert hatten! Oh, Moment, Experten? Nein: „Experten“. In Anführungsstrichen. „So wurde Bild von „Experten“ kritisiert“, heißt der Kasten. Und die Anführungsstriche sind, wie früher bei „DDR“, offenbar gedacht, um „so genannte“ zu insinuieren. Es handelt sich nach Ansicht von Bild bei Menschen wie dem Wirtschaftsminister Thüringens, Roland Koch und Sigmar Gabriel nicht um Experten, sondern nur um so genannte. Was besonders wundert bei Professor Doktor Peter Bofinger, einem der fünf Wirtschaftsweisen: Noch am 15. August nannte Bild selbst den so genannten „Experten“ nämlich einen „führenden Wirtschaftswissenschaftler Deutschlands“ – ohne Anführungsstriche natürlich.

Womit sich die Frage aufdrängt: Wird man eigentlich als „Journalist“ geboren, oder muss man sich den Hang dazu, die Welt auch mal als irgendetwas außerhalb des eigenen Kopfes zu betrachten, erst mühsam abtrainieren?

Die WELT hat eine Lösung für die Schuldenkrise: Lasst arme Schulen pleite gehen!

In der Welt geißelt heute eine Stellvertretende Chefredakteurin die Tatsache, dass es auf der ganzen Welt reiche Menschen gibt, die eine Reichensteuer fordern, obwohl sie die ja selbst bezahlen müssten. Nachdem sie diese Tatsache kolportiert hat („Wir leben wahrlich in ungewöhnlichen Zeiten“) steigt die Autorin steilst in ihre These ein.

Forderungen nach einem höheren Spitzensteuersatz oder einer Vermögensteuer kommen gemeinhin von der politischen Linken. Dass viele Linke die Wirkkraft „des Kapitals“, wie sie denunziatorisch Unternehmen nennen, für Wohlstand und Vorankommen unserer Volkswirtschaften verkennen, ist so traurig wie wahr.

Natürlich ist es nur ein rhetorischer Kniff, seine eigene Ausführung mal eben als wahr zu kennzeichnen, aber es hülfe der Aussage nichtsdestotrotz, wenn sie stimmte. Aber was für ein Blödsinn ist denn das?

Wer nennt ein Unternehmen denunziatorisch „Kapital“? In keiner einzigen Theorie oder Lehre der Welt werden Unternehmen als Kapital bezeichnet. Kapital ist in der Volkswirtschaftslehre ein Produktionsfaktor und bezeichnet bei Marx Geld, dass nur zur Profitgewinnung eingesetzt wird. Das Unternehmen an sich ist für die Linken im Gegenteil eine so tolle Sache, dass sie finden, möglichst alle sollten welche haben. Aber das ist nebensächlich.

Das Lustigste an dieser Passage ist nämlich die Bräsigkeit, mit der die Tatsache, dass die Forderung nach einer Reichen- oder Vermögenssteuer im beschriebenen Fall überall auf der Welt keineswegs von „Linken“ gefordert wird, zur Seite gewischt wird, weil es die Meinung der Autorin verlangt, auf Linke einzuschlagen. Wenn Reiche tatsächlich fänden, der Staat habe gerade ganz einfach zu wenig Geld, dann würde das ihr Weltbild zerstören. Also darf es nicht sein. Sie schlägt einfach dahin, wo sie offenbar immer hinschlägt. Das ist schon kein rhetorischer Kniff mehr, das ist der Versuch, eine Olympische Goldmedaille für sich zu reklamieren, weil man schließlich viel schneller gelaufen wäre, nur ganz woanders und leider ohne Zeugen. Aber echt wahr.

Ihre notorische Forderung nach Reichensteuern dient daher nicht der vielgepriesenen Gerechtigkeit, denn die läge in einer Befreiung der Mitte aus der kalten Progression. Nein, mit dem Dauergebet von der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich wird nur ein Ressentiment bedient und Neid gegen „die Reichen“ geschürt.

Ähm, ja? Mit dem „Dauergebet“ von der wachsenden Schere wird nicht die wachsende Schere kritisiert sondern nur der Neid geschürt? Also der Neid, der nicht dadurch entsteht, dass Reiche überall auf der Welt in so extremer Weise immer reicher werden, dass einige von ihnen selbst fordern, man solle sie gefälligst höher besteuern? Die wachsende Schere ist ein nachgewiesener Fakt, aber manche Meinungen mögen nicht von Tatsachen behindert werden. Aber wir reden ja hier sowieso schon anlassfrei über Linke, deshalb unterfüttern wir die Argumentation auch lieber faktenfrei.

Dass einzelne Unternehmer mehr Steuern zahlen wollten, sei ein bemerkenswertes Signal, fällt der Autorin auch auf, und sie möchte ihnen den Spaß auch gar nicht nehmen.

Wenn Reiche mehr für ihre Gesellschaft tun wollen, sollten sie spenden und stiften, wie dies die großen amerikanischen Unternehmer von Carnegie bis Gates immer taten. Niemals hätten sie dem Staat Aufgaben überlassen, die doch tief im Bürgersinn verankert und in Kommunen und Städten gut aufgehoben sind.

Abgesehen davon, dass Kommunen und Städte Teil unseres gemeinsamen Staates sind: Meint die Autorin tatsächlich, man solle letztlich die Qualität von Schulen davon abhängig machen, ob sich ein großzügiger Spender für sie findet? Ähm, ja, ganz genau.

Niemand hindert Otto oder Westernhagen, ihr Geld für die Sanierung von Schulen zu spenden oder andere Projekte zu fördern, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dienen. Der Staat aber muss endlich schlanker werden. Mitleid hat er nicht verdient.

Das ist so bizarr, dass man ein irres Kichern hinter den Zeilen zu hören glaubt. Wenn Herr Otto (der Versandunternehmer) oder Herr Müller-Westernhagen, die als Reiche eine Reichensteuer fordern, nun gerade die Schule meiner Tochter nicht bedenken, soll diese nicht saniert werden, um dem Staat eine Lehre zu erteilen? Und mir vielleicht auch, weil ich nicht reich bin? Immerhin gehöre ich wahrscheinlich zu der Mittelschicht, der die Welt-Vize-Chefredakteurin die Steuern gesenkt sehen will, insofern ist sie wahrscheinlich im Gegenteil dafür, dass die Schule meiner Tochter noch weniger Geld bekommt. Da soll der Staat doch mal sehen, was er davon hat! Selbst schuld!

Abgesehen davon, dass der Text historische, politische und logische Schwächen hat, zeigt er doch zumindest, dass die Autorin eine Meinung hat. Aber wenn es ihre eigene ist, warum versteht sie sie dann nicht?

Es ist ja nicht so, dass irgendjemand die Meinung vertreten würde, „der Staat“ solle Geld verprassen. Niemand will das. Natürlich muss jeder Staat seine Steuereinnahmen effizient einsetzen, und natürlich kann man ewig darüber streiten, ob er es tut und dass er es regelmäßig an vielen Stellen nicht tut. Aber genau das macht die Autorin ja nicht. Was wäre denn sinnvoller eingesetztes Steuergeld als die Sanierung einer Schule? In unserer kompletten Debatte um die Zukunft Deutschlands, die Wirtschaft, Integration, was auch immer – die zentrale Forderung ist immer: bessere Bildung. Das ist keine linke Position, das ist das Mantra quer durch die gesamte Republik. Zu recht. Und genau das sollen wir dem Goodwill von Reichen überlassen? Das ist der Punkt, an dem die Autorin findet, wir hätten zu viel Staat?

Der Staat hätte bewiesen, dass er schlecht haushaltet und die Politik suche nur Sündenböcke für die Schuldenkrise, die sie selbst verursacht habe, geht der Kern der Argumentation. Das Zweite ist zumindest insoweit Quatsch, als man alle Bankenrettungsschirme aus allen Staatsschulden herausrechnen müsste, um ein Bild von der Schuld der Politik zu haben, und dann sähe die Welt anders aus (die Welt wahrscheinlich nicht). Aber selbst wenn man das als Meinung gelten lassen wollte, ist dann die Antwort, Schulen verfallen zu lassen, damit Reiche nicht mehr Steuern zahlen müssen – und gleichzeitig einfach nicht mehr darüber zu reden, dass die Reichen immer reicher werden, um keinen Neid zu wecken?

Ich sehe meine Tochter schon nachhause kommen und mit großen Augen erzählen: „Papa, ich habe durch den Zaun gesehen, an der Roland-Berger-Gesamtschule regnet es gar nicht rein und alle Fenster haben Scheiben!“ Ich sag ihr dann: „Nicht neidisch sein, das ist, weil ein guter reicher Mensch ihnen hilft. Und wenn wir ganz lieb sind, dann hilft uns sicher auch irgendwann einer. Reiche sind so!“

Das muss eine ganz biestige Sache sein, diese „viel gepriesene Gerechtigkeit“. Ist die ansteckend?

Letztlich sind wir alle Trockennasenaffen

Ich habe mich vor einem Dreivierteljahr zuletzt darüber ausgelassen, was für ein schlechter Außenminister Guido Westerwelle ist, und er hat seitdem alles getan, um mich wie einen klugen Mann aussehen zu lassen. Ein Vorwurf läuft allerdings ins Leere – der Vorwurf mangelnder Selbstkritik. Gestern hat er sich auf seiner Homepage sogar einen neuen Spitznamen gegeben, der kritischer ist als alles, was ich mich über ihn zu sagen getraut hätte:

Guido Westerwelle

Kommt mal wieder auf den Teppich

Die Anklage gegen Dominique Strauss-Kahn ist heute fallengelassen worden, und es heißt, dass es in diesem Fall nur Verlierer gäbe. Ich bin mir da nicht sicher. Zumindest die Suite 2806 des New Yorker Sofitel könnte einen geradezu mythischen Ruf davontragen. Im Zuge der Ermittlungen nahmen die Spurensicherer, aka CSI:NY, fünf Stücke Teppich und ein Stück Tapete aus dem Flur der Suite mit. Auf einem Stück Teppich fanden sie Sperma-Spuren von DSK. Die anderen Stücke sind in Fußnote 20 auf Seite 18 der staatsanwaltlichen Empfehlung, den Fall zu schließen, folgendermaßen beschrieben:

Three of the other stains on the carpet contained semen and DNA of three different unknown males […] The stain on the wallpaper contained the semen and DNA of a fourth unknown male.

Ich beginne zu glauben, dass die Rechte tatsächlich langsam lernt, dass die Linke recht hatte

Wahrscheinlich braucht es selbst für die Klugen manchmal die Kraft der Krise, um den Schleier der Ideologie zu zerreißen und Denkfehler und Lebenslügen als das erkennen zu können, was sie sind: Schon vor den Londoner Krawallen hat der englische Konservative und Thatcher-Biograf Charles Moore einen viel beachteten Text geschrieben unter der Schlagzeile „Ich beginne zu glauben, dass die Linken tatsächlich recht haben könnten“. Kurz darauf folgte ihm der konservative FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher unter einer ähnlichen Headline.

Nun braucht die Linke – die hier definiert wird als die Kraft, die unregulierte Märkte von jeher als eine Art Pyramidenspiel betrachtet hat, die es den Stärkeren erlaubt, auf Kosten der schwächeren Allgemeinheit Reichtümer anzuhäufen – die Bestätigung alternder Konservativer nicht, auch wenn es manche geplagte Seele streicheln mag, wenn der politische Gegner irgendwann seine Fehler einsieht (s.a.“Atomausstieg“). Beachtenswert ist vielmehr die beginnende Umdeutung urlinker Positionen als angeblich konservativ.

In der FAS erklärt heute der Steuerrechtler Paul Kirchhoff überragend klar seine Vorschläge zu einer radikal neuen, entschlackten Steuergesetzgebung. Kirchhoff, der einmal Schattenfinanzminister der CDU war, begründet noch einmal ganz grundlegend die Berechtigung von Steuern damit, dass niemand in diesem Land ohne Zutun der Allgemeinheit in der Lage ist, wirtschaftliche Erfolge zu erzielen. Wer in Deutschland Geld verdient (übrigens auch, wenn er nicht hier wohnt), nutzt dafür die deutsche Freiheit, Rechtssicherheit, Straßen, Ausbildungssysteme und so weiter und so fort. Das ist natürlich die Grundlage von Steuern, aber es gleichzeitig eine Tatsache, die von der Rechten ungern laut diskutiert wird, weil sie den unterbewussten Mythos der konservativ-liberalen Weltanschauung untergräbt, nach der jeder seines Glückes Schmied ist und der Staat am besten gar nicht eingreift – der Mythos des Selfmade Man.

In der Realität gibt es diesen Selfmade Man nicht – auch wenn es am Selbstbild einiger Milliardäre kratzen mag, ohne die Unterstützung der Allgemeinheit in Form des Staates wären sie gar nichts. Die Straße, auf der sie zur Schule gefahren sind, die Schule selbst und die Tatsache, dass sie jeden Tag sicher hin und zurück gekommen sind haben sie nicht selbst gemacht, sondern die Gemeinschaft. Diese Wahrheit ist den Staatsgegnern instinktiv zuwider, aber sie bleibt wahr: Die Allgemeinheit – und nur die Allgemeinheit – bietet Sicherheit und Möglichkeiten. Wer sich „am Markt“ durchsetzt, der tut das immer mithilfe des Staates, der den Zugang zum Markt garantiert, die Sicherheit, und in den allermeisten Fällen sogar erst die Befähigung, überhaupt so weit gekommen zu sein. Das ist etwas Gutes.

Womit wir allerdings bei den Londoner und weiteren englischen Krawallen wären und den bizarren Behauptungen konservativer englischer Parlamentarier, sie hätten nichts mit Protesten oder Politik zu tun, als würde die Demografie der Plünderer nur zufällig so viele Gemeinsamkeiten aufweisen: Sie waren in der übergroßen Mehrzahl männlich und jung, viele von ihnen schwarz – aber praktisch alle arm. Wenn die Armen über das Land hinweg Geschäfte plündern – und dabei mit großer Zielsicherheit die Geschäfte der Statussymbole ansteuern, nämlich Geschäfte für Kleidung, Elektrogeräte und Schmuck –, dann mag es beim Einzelnen der Impuls gewesen sein, die Gunst des Augenblicks zu nutzen um an Statussymbole zu gelangen – also im eigentlichen Sinne selfmade zu sein. In der Summe bleibt trotzdem ein politischer Aufstand, wenn man Politik als die Kunst versteht, die menschliche Gesellschaft zu organisieren.

Premierminister David Cameron hat in seiner Antwort darauf bemerkenswert schlechte Worte und Antworten gefunden, aber am bezeichnendsten ist wahrscheinlich sein Versuch, den ehemaligen Polizeichef von New York, Boston und Los Angeles, Bill Bratton, als Polizei-Kommissionär oder zumindest als unbezahlten Berater zu gewinnen. Bratton hat einige Erfolge im Kampf gegen die „Gang Violence“ in den USA aufzuweisen, und das Schlagwort, unter dem auch deutsche Medien ihn zu verschubladen versuchen, ist „Zero Tolerance“ – Null Toleranz.

Die Online-Mediensimulation stern.de nennt Bratton denn auch schon in Dachzeile, Headline und Vorspann ihres Artikels zum Thema sowohl „Superbullen“ als auch „Aufräumer“ und „Null-Toleranz-Cop“. Was sie nicht erwähnen, ist dass der Teil des Erfolges, der eindeutig der Polizeiarbeit zuzurechnen ist (Malcolm Gladwell erklärt in seinem Buch „The Tipping Point“, warum es wahrscheinlich sehr viel weniger ist als angenommen), in Teilen gar nicht der Art von Polizeiarbeit entspringt, die wir gemeinhin unter „Null Toleranz“ verstehen wollen. Ein wichtiger Teil ist zum Beispiel eine enge Zusammenarbeit mit allen denkbaren Stellen in der Gemeinde, eine direkte, präventive und eindeutige Gefährderansprache, verbunden mit dem Hinweis, was die Alternativen sind – und der Unterstützung dabei, diese Alternativen auch tatsächlich nutzen zu können. Ein Gang-Mitglied in Boston kann so durchaus über den Bezirk Hilfe dabei bekommen, einen Job bei einer der Firmen zu kriegen, die von den Beteiligten selbstverständlich mit in die Pflicht genommen werden. Es ist in Wahrheit ein Musterbeispiel des starken Staates in Aktion – das Gegenteil dessen, von dem Cameron und andere Konservative behaupten, dass sie es wollen. Denn so wie es den Selfmade Man nicht gibt, gibt es auch nicht den gefährdeten oder längst notorisch kriminellen Jugendlichen, der sich selbst – „selfmade“ – aus seiner Drift befreien kann. Und ohne den Eingriff des Staates, im Zweifel auch in Gestalt des Policing-Konzeptes des „Superbullen“, gibt es wenig Erfolg versprechende Modelle, Jugendarbeitslosigkeit, Jugendkriminalität und Gang-Gewalt Herr zu werden. Wer sollte es denn sonst tun? Der Markt? Dass eine englische Unterschichtfamilie, deren Sohn sich an den Plünderungen beteiligt hat, zu besseren Bürgern wird, weil Premier David Cameron sie aus ihrer Sozialwohnung werfen lässt, scheint neben der merkwürdigen Sippenhaft auch ganz generell zweifelhaft, weil ihm eben der Entweder-oder-Ansatz von Brattons Anti-Gang-Strategie fehlt: Der Staat, der Sicherheit und Möglichkeiten für seine Bürger garantiert, muss beide Teile mit vergleichbarem Nachdruck vertreten. Ohne Zweifel muss Plünderungen wie jeder anderen Art von Gewalt und Kriminalität entschieden, ausnahmslos und unverzüglich entgegengetreten werden. Aber es ist keine Erfindung, dass ein großer Teil der Jugend in England, wie in allen europäischen Ländern, ohne Arbeit und letztlich ohne Chance auf Teilhabe ist. Dieses Problem muss der Staat mit der gleichen Entschiedenheit angehen, um zu funktionieren. Zu glauben, Jugendkrawalle hätten nichts mit Protest zu tun, wenn jeder vierte Jugendliche arbeitslos ist, und zu behaupten, es habe nichts mit Politik zu tun, wenn die Kultur eines Landes so weit bröckelt, dass so viele Menschen bereit sind, unter dem Mantel des Augenblicks Verbrechen bis hin zum Mord zu begehen, ist ein Zeichen für ideologischen Aberwitz.

Wenn nun also Cameron unter dem Schlagwort „Null Toleranz“ anfangen sollte, klassisch sozialdemokratische Politik zu machen, wenn nun also die CDU unter dem Schlagwort „Kirchhoff“ anfangen sollte, klassisch sozialdemokratische Positionen einzunehmen, dann hielte ich das im Prinzip für richtig. Allerdings sollte man trotzdem darauf hinweisen, dass sie zwar möglicherweise in der Krise so etwas wie Vernunft gefunden haben, aber man darf sie hin und wieder daran erinnern, dass es andere gab, die tatsächlich schon lange recht hatten.