Ich beginne zu glauben, dass die Rechte tatsächlich langsam lernt, dass die Linke recht hatte

Wahrscheinlich braucht es selbst für die Klugen manchmal die Kraft der Krise, um den Schleier der Ideologie zu zerreißen und Denkfehler und Lebenslügen als das erkennen zu können, was sie sind: Schon vor den Londoner Krawallen hat der englische Konservative und Thatcher-Biograf Charles Moore einen viel beachteten Text geschrieben unter der Schlagzeile „Ich beginne zu glauben, dass die Linken tatsächlich recht haben könnten“. Kurz darauf folgte ihm der konservative FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher unter einer ähnlichen Headline.

Nun braucht die Linke – die hier definiert wird als die Kraft, die unregulierte Märkte von jeher als eine Art Pyramidenspiel betrachtet hat, die es den Stärkeren erlaubt, auf Kosten der schwächeren Allgemeinheit Reichtümer anzuhäufen – die Bestätigung alternder Konservativer nicht, auch wenn es manche geplagte Seele streicheln mag, wenn der politische Gegner irgendwann seine Fehler einsieht (s.a.“Atomausstieg“). Beachtenswert ist vielmehr die beginnende Umdeutung urlinker Positionen als angeblich konservativ.

In der FAS erklärt heute der Steuerrechtler Paul Kirchhoff überragend klar seine Vorschläge zu einer radikal neuen, entschlackten Steuergesetzgebung. Kirchhoff, der einmal Schattenfinanzminister der CDU war, begründet noch einmal ganz grundlegend die Berechtigung von Steuern damit, dass niemand in diesem Land ohne Zutun der Allgemeinheit in der Lage ist, wirtschaftliche Erfolge zu erzielen. Wer in Deutschland Geld verdient (übrigens auch, wenn er nicht hier wohnt), nutzt dafür die deutsche Freiheit, Rechtssicherheit, Straßen, Ausbildungssysteme und so weiter und so fort. Das ist natürlich die Grundlage von Steuern, aber es gleichzeitig eine Tatsache, die von der Rechten ungern laut diskutiert wird, weil sie den unterbewussten Mythos der konservativ-liberalen Weltanschauung untergräbt, nach der jeder seines Glückes Schmied ist und der Staat am besten gar nicht eingreift – der Mythos des Selfmade Man.

In der Realität gibt es diesen Selfmade Man nicht – auch wenn es am Selbstbild einiger Milliardäre kratzen mag, ohne die Unterstützung der Allgemeinheit in Form des Staates wären sie gar nichts. Die Straße, auf der sie zur Schule gefahren sind, die Schule selbst und die Tatsache, dass sie jeden Tag sicher hin und zurück gekommen sind haben sie nicht selbst gemacht, sondern die Gemeinschaft. Diese Wahrheit ist den Staatsgegnern instinktiv zuwider, aber sie bleibt wahr: Die Allgemeinheit – und nur die Allgemeinheit – bietet Sicherheit und Möglichkeiten. Wer sich „am Markt“ durchsetzt, der tut das immer mithilfe des Staates, der den Zugang zum Markt garantiert, die Sicherheit, und in den allermeisten Fällen sogar erst die Befähigung, überhaupt so weit gekommen zu sein. Das ist etwas Gutes.

Womit wir allerdings bei den Londoner und weiteren englischen Krawallen wären und den bizarren Behauptungen konservativer englischer Parlamentarier, sie hätten nichts mit Protesten oder Politik zu tun, als würde die Demografie der Plünderer nur zufällig so viele Gemeinsamkeiten aufweisen: Sie waren in der übergroßen Mehrzahl männlich und jung, viele von ihnen schwarz – aber praktisch alle arm. Wenn die Armen über das Land hinweg Geschäfte plündern – und dabei mit großer Zielsicherheit die Geschäfte der Statussymbole ansteuern, nämlich Geschäfte für Kleidung, Elektrogeräte und Schmuck –, dann mag es beim Einzelnen der Impuls gewesen sein, die Gunst des Augenblicks zu nutzen um an Statussymbole zu gelangen – also im eigentlichen Sinne selfmade zu sein. In der Summe bleibt trotzdem ein politischer Aufstand, wenn man Politik als die Kunst versteht, die menschliche Gesellschaft zu organisieren.

Premierminister David Cameron hat in seiner Antwort darauf bemerkenswert schlechte Worte und Antworten gefunden, aber am bezeichnendsten ist wahrscheinlich sein Versuch, den ehemaligen Polizeichef von New York, Boston und Los Angeles, Bill Bratton, als Polizei-Kommissionär oder zumindest als unbezahlten Berater zu gewinnen. Bratton hat einige Erfolge im Kampf gegen die „Gang Violence“ in den USA aufzuweisen, und das Schlagwort, unter dem auch deutsche Medien ihn zu verschubladen versuchen, ist „Zero Tolerance“ – Null Toleranz.

Die Online-Mediensimulation stern.de nennt Bratton denn auch schon in Dachzeile, Headline und Vorspann ihres Artikels zum Thema sowohl „Superbullen“ als auch „Aufräumer“ und „Null-Toleranz-Cop“. Was sie nicht erwähnen, ist dass der Teil des Erfolges, der eindeutig der Polizeiarbeit zuzurechnen ist (Malcolm Gladwell erklärt in seinem Buch „The Tipping Point“, warum es wahrscheinlich sehr viel weniger ist als angenommen), in Teilen gar nicht der Art von Polizeiarbeit entspringt, die wir gemeinhin unter „Null Toleranz“ verstehen wollen. Ein wichtiger Teil ist zum Beispiel eine enge Zusammenarbeit mit allen denkbaren Stellen in der Gemeinde, eine direkte, präventive und eindeutige Gefährderansprache, verbunden mit dem Hinweis, was die Alternativen sind – und der Unterstützung dabei, diese Alternativen auch tatsächlich nutzen zu können. Ein Gang-Mitglied in Boston kann so durchaus über den Bezirk Hilfe dabei bekommen, einen Job bei einer der Firmen zu kriegen, die von den Beteiligten selbstverständlich mit in die Pflicht genommen werden. Es ist in Wahrheit ein Musterbeispiel des starken Staates in Aktion – das Gegenteil dessen, von dem Cameron und andere Konservative behaupten, dass sie es wollen. Denn so wie es den Selfmade Man nicht gibt, gibt es auch nicht den gefährdeten oder längst notorisch kriminellen Jugendlichen, der sich selbst – „selfmade“ – aus seiner Drift befreien kann. Und ohne den Eingriff des Staates, im Zweifel auch in Gestalt des Policing-Konzeptes des „Superbullen“, gibt es wenig Erfolg versprechende Modelle, Jugendarbeitslosigkeit, Jugendkriminalität und Gang-Gewalt Herr zu werden. Wer sollte es denn sonst tun? Der Markt? Dass eine englische Unterschichtfamilie, deren Sohn sich an den Plünderungen beteiligt hat, zu besseren Bürgern wird, weil Premier David Cameron sie aus ihrer Sozialwohnung werfen lässt, scheint neben der merkwürdigen Sippenhaft auch ganz generell zweifelhaft, weil ihm eben der Entweder-oder-Ansatz von Brattons Anti-Gang-Strategie fehlt: Der Staat, der Sicherheit und Möglichkeiten für seine Bürger garantiert, muss beide Teile mit vergleichbarem Nachdruck vertreten. Ohne Zweifel muss Plünderungen wie jeder anderen Art von Gewalt und Kriminalität entschieden, ausnahmslos und unverzüglich entgegengetreten werden. Aber es ist keine Erfindung, dass ein großer Teil der Jugend in England, wie in allen europäischen Ländern, ohne Arbeit und letztlich ohne Chance auf Teilhabe ist. Dieses Problem muss der Staat mit der gleichen Entschiedenheit angehen, um zu funktionieren. Zu glauben, Jugendkrawalle hätten nichts mit Protest zu tun, wenn jeder vierte Jugendliche arbeitslos ist, und zu behaupten, es habe nichts mit Politik zu tun, wenn die Kultur eines Landes so weit bröckelt, dass so viele Menschen bereit sind, unter dem Mantel des Augenblicks Verbrechen bis hin zum Mord zu begehen, ist ein Zeichen für ideologischen Aberwitz.

Wenn nun also Cameron unter dem Schlagwort „Null Toleranz“ anfangen sollte, klassisch sozialdemokratische Politik zu machen, wenn nun also die CDU unter dem Schlagwort „Kirchhoff“ anfangen sollte, klassisch sozialdemokratische Positionen einzunehmen, dann hielte ich das im Prinzip für richtig. Allerdings sollte man trotzdem darauf hinweisen, dass sie zwar möglicherweise in der Krise so etwas wie Vernunft gefunden haben, aber man darf sie hin und wieder daran erinnern, dass es andere gab, die tatsächlich schon lange recht hatten.

15 Antworten auf „Ich beginne zu glauben, dass die Rechte tatsächlich langsam lernt, dass die Linke recht hatte“

  1. Zu glauben, der Staat sei in der Lage, die Teilhabe am Arbeitsmarkt und am Niveau der Gesellschaft für alle zu fördern, zu garantieren oder gar zu schaffen, ist naiv. Hier liegt (für mich) der Punkt, an dem sogenannte linke Positionen völlig unattraktiv werden: in dieser unreflektierten Staatsgläubigkeit, die uns unter anderem ein wirkungsloses Heer von Sozialarbeiteren, eine gigantische Sozialbürokratie und ein ineffizientes und ungerechtes Schulsystem eingebracht haben, um nur einiges zu nennen. Es ist leicht, konservative und wirtschaftsliberale Weltbilder zu kritisieren, aber mit Rekurs auf das Staatsverständnis des letzten Jahrhunderts dreht sich das im Kreis. Der Staat ist nicht per se gut. Politik ist nicht der Onkel Doktor, der alles wieder heil macht. Der Staat mit seiner Bürokratie ist derjenige, der dich bevormundet, dich gleichmachen will, dich verwaltet, sich selbst mit immer mehr Aufgaben aufbläht und immer größere Ressourcen verschlingt. Das ist in Deutschland durchaus gerne gesehen, weil hier „Sicherheit“ (Bevormundung) traditionell höher geachtet ist „Freiheit“ (Selbstverantwortung), was uns von der angelsächsischen politischen Kultur unterscheidet. Aber ich will das nicht. Und es wird auch nichts bringen, denn beide Seiten liefern nicht die Antworten auf diesen Konflikt, der sich in England zeigt, dass nämlich ein wachsender Teil der Gesellschaft nicht mehr anschlussfähig ist. Dies ist durchaus ähnlich hier, nur dass bei uns die schuldenfinanzierte Sedierung des Konflikts noch besser funktioniert. Um zum Schluss zu kommen: Man darf nicht an dem Punkt aufhören, zu sagen, jetzt muss der (liebe linke) Staat aber mal mit Entschiedenheit was tun. Der Staat ist Teil des Problems, nicht unbedingt Teil der Lösung.

  2. Ich habe den Eindruck, dass hier ein paar Dinge durcheinandergeraten sind, die man schon auseinanderhalten sollte. Wer plündert, protestiert nicht, sondern begeht ein Verbrachen – er bereichert sich auf Kosten anderer. Wer hingegen protestiert, nimmt ein verfassungsrechtlich verbrieftes Recht in Anspruch (okay im Vereinigten Königreich gibt es keine geschriebene Verfassung, aber das Demonstrationsrecht existiert trotzdem) Wenn ich aber sage: „Wer plündert, protestiert im Grunde nur gegen seine prekäre Lage“, erkläre ich de facto all diejenigen zu Vollidioten, die sich beim Protestieren an die gesellschaftlichen Gepflogenheiten halten und hoffen, dass sich ihre Situation durch konventionelles Demonstrieren irgendwann einmal bessert. Der Plünderer kann dagegen ein paar Statussymbole einsacken und unter Berufung auf „print würgt“ auch noch behaupten, er habe damit die Welt verbessert oder es wenigstens versucht.
    Ich glaube, man macht es sich ein bisschen einfach, wenn man sagt, Leute plündern, weil sie arm sind. Was sagen wir dann denen, die dabei nicht mitmachen, obwohl es in ihrem Viertel vor ihren Augen geschieht. Geht es denen zu gut? Sind die noch nicht arm genug? Oder zu unpolitisch? Oder zu doof? Sicher, die Firnis der Zivilisation ist dünn und unter bestimmten Voraussetzungen steht jeder zumindest in der Gefahr, zum Verbrecher zu werden, aber wie lang die Firnis hält, lässt sich nun mal nicht für jeden Einzelnen monokausal vorhersagen.
    Auch das Eingreifen des Staates allein kann sie nicht immer retten. Zivilisation beruht wie wir alle wissen, auf Voraussetzungen, die der liberale Staat nicht garantieren kann. Dazu gehört auch so etwas wie Selbstbeschränkung. D.h. dass sich „Kapitalisten“ bestimmte Geschäftspraktiken versagen, weil sie wissen, dass sie mit ihnen auf Dauer die Gesellschaft ruinieren würden. Moralisches Handeln ist nämlich durchaus vernünftig. Mehr noch, Moral ist eine politische Kraft (Willy Brandt). Plündern aber ist unmoralisch – unabhängig davon, ob es ein Kasinokapitalist tut oder ein Vorstadtprolet.
    Im Übrigen habe ich als gelernter DDR-Bürger ein ziemliches Problem damit, wenn mir Staatsangestellte erklären, dass ich meinen Mitmenschen am besten helfe, wenn ich tue, was sie mir vorschreiben (also erstmal etwa 25 Anträge ausfülle) und dass ich meine eigenen Weltverbesserungsideen immer schön von Bürokraten prüfen lassen möge, ehe ich auch nur einen Handschlag tue. Könnte ja sein, dass sich Dinge verbessern, ohne dass der Staat was davon mitbekommt.

  3. @rosse: Das Gegenteil ist passiert: reihenweise englische Politiker haben behauptet, sie Krawalle hätten nichts mit Politik zu tun. Das halte ich für falsch.

    Ich glaube auch nicht, dass es irgendeinen Sinn hat, eine neue Moral zu fordern. Auf keiner Seite, egal ob die Menschen nun die Gelegenheit haben, Geschäfte zu plündern oder die Ersparnisse von Anlegern, hat im Zweifel jemand seinen moralischen Moment im richtigen Augenblick. Ich bin allerdings der Meinung, wir werden von unserer Kultur geleitet, die sicher von unserer Moral beeinflusst ist und die man beeinflussen kann (und so verstehe ich Brandt hier auch), aber an die Moral des Einzelnen zu appellieren, während die herrschende Kultur z.B. des Satussymbols das Gegenteil von ihm erwartet, halte ich für aussichtslos.

    Ich glaube, du machst es dir ein bisschen einfach oder hast meinen Text nur halb gelesen: jeder Art von Kriminalität und Gewalt muss entschieden begegnet werden, das steht da ja eindeutig. Es ist aber bizarr zu behaupten, jede Art von Kriminalität oder Gewalt hätte die gleichen Ursachen. Es hilft ganz sicher nicht weiter, zu behaupten, diese Leute sollten einfach aufhören und ihre Moral entdecken oder zumindest lernen, ordentlich zu protestieren. Und hier bringst du dann plötzlich Dinge durcheinander, die einen schwierigen Zusammenhang bilden: nach deiner Argumentation sind die Plünderer Menschen mit niedrigerer Moral, weil sie Verbrechen begehen. Mit dieser Haltung bist du nicht allein. Ich halte sie aber für falsch: ich glaube, dass ihre Moral so ist wie unser aller Moral, aber ihre Situation schlechter. Ich halte es für eine wichtige Aufgabe von Politik, die Situation der Jugendlichen in Europa zu verbessern.

    Und „der Staat“ in diesem Land hat nichts mit der DDR zu tun. Das ist albern. Übrigens wird die Gefahr, dass dieser Stat sich in irgendeiner Weise totalitär entwickelt geringer mit jedem Demokraten, der sich engagiert.

  4. Das Staatsbild, das einige haben ist auch eher US-Sitcom als überlegt. Zuerst einmal – und es ist schon eine Schande, das immer wieder sagen zu müssen – sind wir alle der Staat. Wir sind nicht nur Zahler und Unterdrückte einer mehr oder weniger abstrakten Bedrohung von ‚da oben‘. Wir werden auch nicht von von anonymen Bürokraten oder bekannten Politikern ausgeplündert.

    Klar, die Verwaltung des Staates ist nicht immer auf der Höhe des Zeitgeistes, sie arbeitet nicht reibungsfrei geschweige denn perfekt [was uns letztendlich freuen sollte]. Regierungen und im Endeffekt die Bürokraten müssen einen sinnvollen Ausgleich zwischen diversen, sich teils direkt widersprechenden Interessen finden, dabei sollen sie prophetische Fähigkeiten haben und die Zukunft vorhersehen. Und in den letzten 20 Jahren haben sich die lange Zeit gut funktionierenden Sammelbecken von Einzelinteressen, die im Vorwege kanalisierten, aufgelöst. Heute müssen Abgeordnetenhäuser, Bürgerschaft, Parlamente etc. nicht mehr einen Kompromiss zwischen 2, 3 oder auch nur 5 Parteien finden, sie müssen 80 Mio Individualisten befriedigen.

    ‚Der Markt‘ macht das nicht besser als ‚der Staat‘, im Gegenteil, oft macht er es schlechter, einfach weil für einen wirklich freien Markt die meisten Voraussetzungen fehlen – nicht weil Regierungen ihn einschränken. Zu einem freien Markt gehören jederzeit freie Marktteilnehmer*, d.h. jeder muss jederzeit alle relevanten Informationen zur Hand haben und Möglichkeiten jede angebotene Alternative zu beurteilen und zu kaufen. Dazu gehört natürlich auch, dass jeder nach seinen Talenten und Vorstellungen agieren kann, was auch nötig ist, um Innovation zu haben.

    Der freie Markt ist ein theoretisches Konstrukt, wir müssen aber mit dem auskommen, was real ist, z.B. mit gierigen Abgreifern. Offenbar finden wir uns gerne damit ab, dass einige – es sind gar nicht mal so viele – durch Spekulation jedweder Art locker die Weltwirtschaft plündern, kurz vor dem Abgrund Regierungen und Steuerzahler um Hilfe anschreien und erpressen. Dann wird fröhlich gegen eben jene Regierungen und Staaten gewettet, die eben noch das Überleben gesichert haben. Diese Art moralischen Vergehens ist nicht einmal neu. Aber für viele kein Problem.

    Wenn die abgehängten, perspektivlosen Desperados dasselbe auf viel niedrigerem Niveau machen, dann dürfen wir uns nicht einmal über deren Beweggründe unterhalten ohne gleich Apologeten des Verbrechens zu sein?

    Nein, ‚der Staat‘ ist ebenso wenig nur gut oder schlecht wie jeder von uns nur moralisch oder unmoralisch ist.

    *Übrigens ist auch der Staat Marktteilnehmer.

  5. @mikisDie Krawalle in England haben natürlich mit Politik zu tun, aber eben nicht nur. Natürlich muss sich Politik viele Gedanken machen, wenn Jugendliche die Geschäfte ihrer Nachbarn ausräumen und anzünden. Und Handeln muss sie auch. Aber damit allein ist das Problem nicht gelöst. Sozialprogramme machen Leute nicht automatisch zu besseren Menschen. Sie geben ihnen eine Chance, nicht mehr und nicht weniger. Ob und wie sie die nutzen, kann kein Parlament der Welt erzwingen. Der Mensch ist frei, Gutes zu tun und Dummes.
    Deine Argumentation erinnert ein bisschen an Brecht, für den das Fressen vor der Moral kommt. Danach wäre Plündern unter bestimmten Voraussetzungen weniger verwerflich als unter anderen. Ganz abgesehen davon, dass die Leute in England nicht gerade am Verhungern waren, ist es dem Geplünderten wahrscheinlich herzlich egal, aus welchen sozialen Gründen sein Geschäft ausgeräuchert wurde.
    Moral ist kein Luxus und auch nicht das Nebenprodukt der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie ist auch nicht für Geld zu haben, nicht mal für Geld vom Staat. Die Moral die ich fordere, ist auch nicht neu, sondern recht alt. Es gab sie schon, bevor es irgendeinen Staat ab. Die zehn Gebote etwa sind älter als der Staat des antiken Volkes Israel und die griechische Kultur existierte vor der athenischen Demokratie.
    Was nun moralisches Handeln in unmoralischem Umfeld angeht – Es gibt Berichte von Leuten im KZ, die eher gehungert haben als ihre moralischen Vorstellungen zu opfern. Und das obwohl sie wussten, dass Hungern unter diesen Verhältnissen schnell den Tod bedeuten konnte. Der Widerständler Henning von Tresckow hat uns den Satz hinterlassen, dass der sittliche Wert eines Menschen erst da beginnt, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben einzusetzen. Wer so denkt, dem ist es wenn es hart auf hart kommt egal, ob die „herrschende Kultur“ sein Handeln für hirnverbrannt hält. Aber wo wären wir, wenn es solche Menschen nicht gegeben hätte und gäbe? Dass solche Leute in 999 von 1000 Fällen in der Minderheit sind, macht sie eher noch interessanter. Wenn Nelson Mandela Rache für seine 27 Jahre Gefängnis gewollt hätte, hätte die Mehrheit der Schwarzen wohl zugestimmt, aber Südafrika sähe heute wahrscheinlich anders aus.
    Im Übrigen habe ich die Bundesrepublik keineswegs mit der DDR gleichgesetzt. Das zu unterstellen ist albern. Ich bin auch keinesfalls der Meinung, dass der Markt die Verhältnisse im Zweifelsfall besser regelt als der Staat. Die Umkehrung stimmt nur leider auch nicht. Auch in einer Demokratie ist der Staat nicht die Summe seiner Bürger, nicht mal seiner engagierten Bürger (das hat die DDR von sich gern behauptet). Der liberale Staat ist der immer neue Versuch eines Interessenausgleichs; ein Modus vivendi, der verhindert, dass Leute mit unterschiedlichen Auffassungen irgendwann mal einen Bürgerkrieg gegeneinander anfangen. Aber der Staat sind nicht wir. Der Staat ist die organisierte Gewaltenteilung. Wenn ich mich einbringe, ohne Staatsangestellter werden zu wollen, dann kann ich das eigentlich nur im legislativen Teil des Staates. Damit kann ich mich auch identifizieren. Aber das ist eben nicht der ganze Staat. Der Staat ist auch Exekutive und Judikative und da sitzen seine Beamten, von denen sich furchtbar viele gern für den Staat selbst halten. Der Staat ist eben auch die genervte Dame vom Amt, die mir ein siebenseitiges Pamphlet darüber aushändigt, wann ich in meinem Garten die Bäume verschneiden darf und wann ich die Reste ausschließlich wo entsorgen darf. Der Staat tritt auch auf als der Finanzbeamte, der mich als eine Art Straftäter behandelt, wenn ich die deutsche Steuergesetzgebung nicht haargenau so interpretiere wie er. Der Staat war unter anderem die BAFöG-Beamte, die mir erklärte, es sei nicht ihr Problem, dass ich für meine Ausbildung in der DDR kein BAFöG beantragt hatte. Jetzt könne ich jedenfalls keins mehr bekommen.
    Ach ja, Moore, der ja auch recht moralisch argumentiert, hat seine Bekenntnis übrigens vor Beginn der Plünderungen geschrieben.

  6. @royse: Von hinten nach vorne, und ich habe immer noch nicht den Eindruck, wir reden hier über meinen Text:

    – Möglicherweise hätte man die Tatsache, dass Moore seinen Text vor den Londoner Krawallen geschrieben hat, auch einfach daran erkannt, dass ich geschrieben habe „Schon vor den Londoner Krawallen hat der englische Konservative und Thatcher-Biograf Charles Moore …“

    – Das siebenseitige Pamphlet über das Baumbeschneiden ist, genau wie die Steuergesetzgebung und die Bafög-Regeln von der Legislative geschaffen. Es geht genau darum, dass eben alle Macht vom Volke ausgeht und nicht von Finanzmärkten oder ihrer Lobby. Demokratie wird aus Demokraten gemacht, und selbstverständlich sind „wir“ der Staat, wir müssen uns allerdings die Arbeit machen, die das mit sich bringt.

    – Und ich verstehe den Ruf nach Moral, er hilft nur nicht: Es gibt keine anderen Menschen, als die, die es gibt, und es gibt keinen Hinweis darauf, dass nicht die meisten von uns in manchen Situationen unmoralisch handeln, genau wie wir in vielen (die meisten von uns in den meisten) Situationen wahrscheinlich moralisch handeln. Abgesehen davon, dass unser Wirtschaftssystem nicht primär auf Moral aufgebaut ist, sondern auf Eigennutz (der Moralischste ist regelmäßig nicht der wirtschaftlich Erfolgreichste) ist es wahrscheinlich unrealistisch, ausgerechnet von den Schwächsten in diesem System zu erwarten.

    – Die Herausforderung ist doch gerade, die Leitplanken der Gesellschaft so zu setzen, dass ein Mensch in seinem ganz normalen Aggregatzustand, weder besonders moralisch noch besonders unmoralisch, da gut hindurchkommt. Und dazu gehört eben, dass man einen Weg aufzeigen kann, warum es sich lohnt, sich im Sinne der Gemeinschaft zu verhalten. Für einen großen Teil der europäischen Jugend gibt es diesen Weg nämlich offenbar (zumindest subjektiv) nicht.

  7. Von Vorn nach hinten:
    -Mit Moore hast Du natürlich recht. Sorry.
    – Nicht nur die Legislative handelt im Namen des Volkes, auch die Gerichte tun es, wenn sie vom Parlament beschlossene Gesetze aufheben oder ändern. Außerdem ist es anscheinend eine Art Naturgesetz, dass die Bürokratie in jeder staatlichen Organisation ein derartiges Eigenleben und –gewicht entwickelt, dass sie nur schwer zu bändigen ist. Und gemeinerweise verkauft sie ihre Eigeninteressen als Interessen der Allgemeinheit. Deswegen kann und will ich mich bei allem Engagement nicht als Teil des Staates fühlen.
    – Mich irritiert Deine Nivellierung unterschiedlicher Moralvorstellungen. Es gibt Leute, die agieren in einer bestimmten Situation unmoralisch und andere Leute, die in genau derselben Situation moralisch handeln, obwohl sie genauso arm dran sind wie die unmoralisch Handelnden. Diesen Unterschied bekommt man nicht dadurch aus der Welt, dass man auf die Umstände verweist. Wenn zwei Menschen in genau der gleichen Situation unterschiedlich handeln, dann liegt das höchstwahrscheinlich an ihnen und nicht an der Situation. Und wenn man auf die weitern Umstände, Familie, Kindheit, Religion rekuriert, dann akzeptiert man, dass es in der multikulturellen Gesellschaft, in der wir nun mal leben, unterschiedliche Moralvorstellungen gibt und nicht die eine Durchschnittsmoral, der die Politik nur ein paar Leitplanken aufstellen müsste, damit sie funktioniert. Aus dem Dilemma hilft meiner Meinung nach nur der kategorische Imperativ.
    Und was ist eigentlich so schlimm daran, dass der Moralischste meist nicht der wirtschaftlich Erfolgreichste ist? Du hältst doch nicht etwa wirtschaftlichen Erfolg für den Gradmesser eines gelungen Lebens.
    – Wenn ich des Lesens noch mächtig sein sollte, erklärst Du in Deinem Text die Krawalle in England zu einem politischen Aufstand. Das heißt für mich: Die Leute setzen sich gegen Verhältnisse zur Wehr, gegen die sich zu wehren objektiv richtig und gerechtfertigt ist. Und ich gebe Dir Recht, Politik muss sich dafür zuständig fühlen. Als Tony Blair noch nicht mal Oppositionsführer sagte er dazu: „Tough on crime an on the reasons of crime“.
    Das Dumme ist nur, die Gewalttäter artikulieren die politische Dimension ihres Plünderns nicht, sie randalieren und gehen wieder. Mal ehrlich, sieht so politisches Handeln aus? Vielleicht habe ich ja nicht richtig hingehört, aber wo bitte hat einer von denen, die da Autos und Geschäfte demoliert haben, ein politisches Ziel formuliert? Dass es sich um eine politische Rebellion handelt, ist Deine Interpretation, für die mir ein paar Belege fehlen. Aber selbst wenn ich Dir darin folgen würde, frage ich mich, warum Du partout nicht erkennen willst, dass jedes noch so gerechtfertigte politische Anliegen in Misskredit gebracht wird, wenn man es durch sinnfreies Um-Sich-Schlagen zu erreichen versucht? Frei nach Kästner heiligt nicht der Zweck die Mittel, sondern die Mittel entheiligen den Zweck.

  8. Ich muss mich korrigieren: Er erwähnt die Unruhen sogar direkt am Anfang. Aber seine Heilslehre hat damit natürlich überhaupt nichts zu tun. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf.

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