Schuldig. Aber vielleicht nicht so.

Heute ist der „Nazi-Scherge“ (BILD) John Demjanjuk in München wegen Beihilfe zum Mord in 28060 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Ich habe vor anderthalb Jahren schon geschrieben, warum ich diesen Prozess abgelehnt habe. Daran hat sich nichts geändert. Deshalb poste ich den Text vom 6. November 2009 hier noch einmal. Den ersten, verschwurbelten Absatz habe ich rausgekürzt, weil da alte Verweise drin waren (damals gab es noch die Schweinegrippe, Halleluja). Also los:

Kennen Sie den Fall? Wahrscheinlich ja. Er wurde ausführlich auf allen Kanälen besprochen, aber ich gebe zu, bei mir ist zuerst nicht viel mehr hängen geblieben als: Ehemaliger KZ-Wächter. Was in meinen Synapsen sofort den Reflex auslöst: Für immer wegsperren. Fertig. Aber tatsächlich ist der Fall ein bisschen mehr als das.
Demjanjuk wäre, so weit ich das überblicken kann, der erste Ausländer, den ein deutsches Gericht wegen seiner Nazi-Kollaboration verurteilen würde. Er ist angeklagt, Beihilfe zur Ermordung von 27900 Menschen im Vernichtungslager Sobibor geleistet zu haben (schon diese Zahl lässt erschauern, denn sie setzt sich zusammen aus der Zahl der in Viehwaggons nach Sobibor verfrachteten Opfer minus einer gerundeten Toleranz von solchen, die hochgerechnet wahrscheinlich schon auf der Fahrt gestorben sind). Und das glaubt das Gericht Demjanjuk nachweisen zu können: Das er in Sobibor war. Es gibt einen Ausweis und einen Verlegungsbefehl – und möglicherweise Zeugen, aber dazu kommen wir noch.
John, damals noch Ivan, Demjanjuk war ein ukrainischer Bauernjunge, der im Krieg erst in die Rote Armee und dann in Kriegsgefangenschaft geriet. Aus dieser Gefangenschaft heraus wurde er zum „Trawniki“, zu einem von 4000 bis 5000 von der SS ausgebildeten Helfer. Diese Trawniki, alle zwischen 18 und 22 Jahren alt, hatten sich zumeist „freiwillig“ gemeldet – jedenfalls so freiwillig, wie man die Möglichkeit annimmt, seine Lage in der Kriegsgefangenschaft zu verbessern. Er war als Wächter in mehreren KZ stationiert, auch in der Außensicherung von dem reinen Vernichtungslager Sobibor, wo während der höchstwahrscheinlichen Zeit seiner Stationierung von März bis September 1943 mindestens 29000 Menschen umgebracht wurden.

Er war da.

Das ist es, was wir ihm vorwerfen: Er war da. Es ist ein schwer wiegender Vorwurf, und er ist offenbar einigermaßen gut zu belegen: Ivan, später John, Demjanjuk war ein KZ-Wächter, und das ist ein Verbrechen. Natürlich ist es das. Es gab Kriegsgefangene der Wehrmacht, die sich nicht freiwillig als SS-Schergen verpflichten ließen, selbst unter der halb erzwungenen Freiwilligkeit nicht. Aus meiner Sicht muss John Demjanjuk für diesen schweren Fehler, den er als junger Mann begangen hat, bestraft werden.

Und genau das ist längst passiert: Demjanjuk wurde in Israel zum Tode verurteilt und saß sieben Jahre im Gefängnis, weil Zeugen ihn als „Iwan den Schrecklichen“ identifiziert hatten, einen berüchtigt grausamen Aufseher im Lager Treblinka – erwiesenermaßen ein Fehlurteil, das auch deshalb möglich wurde, weil das amerikanische Justizministerium bei Demjanjuks Auslieferung an Israel entlastende Unterlagen zurückgehalten hatte (Demjanjuk war nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten emigriert, nannte sich nun John und wurde US-Staatsbürger). Zeugen hatten ihn eindeutig identifiziert, damals, obwohl er es nicht war. Und die Wahrscheinlichkeit, dass heute, noch viel später, die Zeugenaussagen verlässlicher sind, ist eher gering. Er war da – das ist es, was wir beweisen können, in meinem Namen und in Ihrem.

Eine kleine Anekdote aus dem Prozess in Israel muss man vielleicht noch erzählen: Demjanjuk leugnet bis heute, Trawniki gewesen zu sein. Er will über die drei Jahre einfacher Kriegsgefangener gewesen sein. Das Gericht glaubte ihm nicht: In dem Lager Chelm, in dem er saß, hätte er die Zeit unmöglich überleben können, dafür wären die Zustände zu schlecht gewesen.

Das ist die Situation: Ein Kriegsgefangener in einem Lager, in dem die Zustände so sind, dass es als ausgeschlossen gelten muss, dass hier ein Gefangener lange überlebt. Er ist damals 22 Jahre alt und meldet sich freiwillig, um aus dem Lager zu kommen. Wie gesagt: Mit der Arroganz des später Geborenen halte ich trotzdem daran fest, dass es unser Menschsein gebietet, nicht als Aufseher in einem KZ zu „arbeiten“, nicht in einem Vernichtungslager Menschen aus Viehwaggons in Gaskammern zu treiben. Das war verbrecherisch. Aber John Demjanjuk hat sieben Jahre lang in einem israelischen Gefängnis gesessen, seine Hinrichtung vor Augen, für Verbrechen, die er nicht begangen hat. Er ist mehrfach in den USA aus- und wieder eingebürgert worden, hatte Auslieferungen in die Ukraine und nach Deutschland vor Augen und landet nun, als alter, kranker Mann, hier – um von den Leuten verurteilt zu werden, die ihn aus seiner Sicht erst in die Situation gebracht haben, in der er Verbrechen begehen konnte.

Keine dieser Informationen ist geheim. Sie sind so alle – wenn auch nicht alle gleichzeitig – in deutschen Qualitätsmedien zu finden, aber wie das so ist, wenn man nur Fakten, Fakten, Fakten aneinander reiht: Es ist kein Bild entstanden über die Schlagworte „Ivan der Schreckliche“, „KZ-Wächter“ und „Beihilfe zum tausendfachen Mord“ hinaus.

Ich glaube, wir haben den falschen Mann, um ein Exempel an ihm zu statuieren. Aus meiner Sicht ist er kein Unschuldiger, aber er ist auch nicht nur Täter, sondern die Figur seiner eigenen Tragödie.

Er wäre der erste Trawniki, der in Deutschland verurteilt würde – im Ausland sind viele der „Kollaborateure“ zu teilweise langen Strafen verurteilt oder hingerichtet worden. Aber SS-Wächter aus Sobibor sind bereits in Deutschland verurteilt worden: Der Lagerkommandant Franz Stangl und ein weiterer SS-Mann zu lebenslanger Haft, ein weiterer beging vor dem Urteil Selbstmord. Vier SS-Wächter erhielten Haftstrafen zwischen drei und acht Jahren. Vier weitere wurden freigesprochen. Obwohl sie da waren.

Ich hasse die Tatsache, dass ich plötzlich mit einem Nazi-Schergen mitfühlen soll. Aber man kann auch nicht einfach eine Geschichte gar nicht erzählen.

19 Antworten auf „Schuldig. Aber vielleicht nicht so.“

  1. Ist das denn die Möglichkeit, es gibt in Deutschland doch noch einen gescheiten Kommentar zu Demjanjuk?
    Reibe vor Staunen die Augen.

  2. Traurig, vor allem wenn man bedenkt, dass die Täter aus den eigenen Reihen von der (west)deutschen Nachkriegsjustiz nur allzuhäufig verschont wurden und, wenn überhaupt zu irgendwelchen Strafen verurteilt, bald ihre Karrieren unbehellgit fortsetzen konnten.

    Wie sagt doch zum Beispiel Henryk M. Broder:

    “Je länger das Dritte Reich tot ist, umso stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.”

  3. Als so „gezwungen“ sieht die neuere historische Forschung die Trawniki nicht mehr an. Als das wurde im Prozess gewürdigt. Folglich kann ich die Verurteilung nur begrüßen.

  4. @Edgar: wie gesagt, eine Verurteilung ist wahrscheinlich unumgänglich. Wenn man denn so weit ist. Ich bin’s nur nicht.

  5. Schön, dass ich über ppq auf Ihren Blog aufmerksam geworden bin. Kluger Artikel. Ich werde gerne wieder kommen. Es grüßt Sie freundlich Cpt. Apo.

  6. Sehe ich genauso, hätte es nur nicht so schön formulieren können. Demjanjuk ist ein armes mordendes Schwein ganz hinten am Ende der Kette, da hätten wir, in den fünfziger und sechziger Jahren, ganz andere Kaliber richten müssen. Das hier war auch schon wieder eine Art Schauprozeß der deutschen Gutmenschen, die unbedingt einen Greis hängen sehen wollten. Erbärmlich.

  7. Ohne den Fall jetzt zu kennen stelle ich mir nach dem reinen Lesen dieses Artikels die Frage was daran Gerecht sein soll wenn ein SS-Mann der da gearbeitet hat je nach Fall zwischen 3 und 8 Jahren kriegt, ein „nicht-deutscher“ der ja vielleicht doch unfreiwilliger als die da rein geraten ist aber insgesamt 12 Jahre sitzen muss, auch wenn sieben davon nicht bei uns war.

  8. „Mit der Arroganz des später Geborenen halte ich trotzdem daran fest, dass es unser Menschsein gebietet, nicht als Aufseher in einem KZ zu “arbeiten”, nicht in einem Vernichtungslager Menschen aus Viehwaggons in Gaskammern zu treiben. “

    Sie vergessen sicher das ihm bei dem Angebot der Arbeit diese kleinen Details sicher nicht genannt wurden, insgesamt wussten im 3ten Reich nur sehr wenige von den tatsächlichen Zuständen und Geschehen in den KZs…
    Daher als er dann wirklich als Aufseher im KZ ankam und die wirklichen Umstände realiseren konnte, gab es kein zurück mehr für Ihn… die Arbeit machen oder sterben…

    Und es ist schon keine Aroganz mehr von jemanden zu erwarten zu sterben,…

  9. @Schwarzmaler
    Von Hängen hat ja nun keiner gesprochen; das auch noch mit dem Nazi-Ausdruck „Gutmenschen“ zu schmücken…
    @Klugscheisser
    Dass nur wenige von den KZs wussten, ist nun auch längst als Mythos entlarvt.

  10. „Nazi-Ausdruck Gutmenschen“?

    jetzt ist ralph giordano ausweislich seiner zitate also auch schon ein nazi.

    da staunt man nur noch

  11. Fünf Jahre Haft für Beihilfe zu zigtausendfachem Mord kann man wohl nicht als „Exempel“ bezeichnen, das hier statuiert werde. Zumal es wenig wahrscheinlich ist, dass Demjanjuk die Strafe überhaupt wird antreten müssen. Wozu also das Mitgefühl mit einem Mann, der zudem nicht einmal ein Wort des Mitgefühls für die Opfer des NS-Terrors geäußert hat?

    Nicht dieses Urteil gilt es anzuprangern, sondern die jahrezehntelange Verschleppung der Verfahren gegen NS-Täter, die milden Urteile gegen sie und das öffentliche Beschweigen der Kontinuitäten in den bundesdeutschen Amtsstuben.

  12. @SB: Wie du sicher an der Tatsache gesehen hast, dass der Text anderthalb Jahre alt ist, habe ich nicht das Urteil, sondern den Prozess als Exempel empfunden. Und wozu Mitgefühl? Ist das eine ernstgemeinte Frage?

  13. Ich hatte den Text so verstanden: Diesen Mann zu verurteilen würde bedeuten, ein Exempel zu statuieren. Er ist nämlich alt und krank, und für seine Verbrechen hat er bereits gebüßt – sie sind durch sieben Jahre Haft in Israel und anderes Ungemach abgegolten (z. B. zweimaliger Entzug der US-Staatsangehörigkeit). Zwar war er an der Ermordung zigtausender Menschen beteiligt, aber als „Trawniki“ war er dazu genötigt worden. Zudem kann, moralisch gesehen, ein deutsches Gericht ihn als Nichtdeutschen nicht härter bestrafen als die deutschen Haupttäter.

    So richtig ich es fände, auf die fragwürdigen geschichtspolitischen Implikationen dieses Prozesses hinzuweisen – wie nämlich die deutsche Justiz ihre Reputation mit einem Fall aufzupolieren versucht, der ihr das Interesse der Weltöffentlichkeit sichert, während sie an der Verfolgung anderer NS-Täter kein Interesse zeigt -, so falsch finde ich die Darstellung Demjanjuks als bedauernswerten Greis, der längst für seine Taten gebüßt hat. Die Formulierung „Das ist es, was wir ihm vorwerfen: Er war da.“ lässt das Wichtigste aus: die Funktion der „Trawniki“ in Sobibor. Ihr einziger Zweck dort bestand schließlich darin, „möglichst reibungslos eine große Anzahl an Juden umzubringen“, wie es Rechtsanwalt Cornelius Nestler formulierte, der im Verfahren die überlebenden Opfer des Vernichtungslagers vertrat. Als im Oktober 1943 jüdische Häftlinge und sowjetische Kriegsgefangene in Sobibor einen Aufstand wagten, in dessen Folge fast 300 Menschen aus dem Lager fliegen konnten, schlossen sich auch einige „Trawniki“ der Revolte an. Demjanjuk aber gehörte offenbar zum größeren Teil derer, die die SS bei der Niederschlagung des Aufstands unterstützten. Man kann also wohl umstandslos sagen: Demjanjuk ist ein zigtausendfacher Mörder, und für seine Taten sind sieben Jahre Haft eine lächerliche Strafe (die US-Staatsbürgerschaft ist ihm entzogen worden, weil er die Behörden bei der Antragstellung getäuscht hat – die zeitweilige Wiederzuerkennung haben seine Anwälte mit einem juristischen Trick erreicht, dieses Hin und Her hat er sich also selbst zuzuschreiben).

    Aus meiner Sicht kann auch das Versagen der bundesdeutschen Justiz bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen kein Argument sein, Demjanjuk nicht vor Gericht zu stellen. Zudem hat dieser Prozess dazu beigetragen, das historische Geschehen in Sobibor als das zu benennen, was es war: ein präzendenzloser, industrieller Massenmord, begangen von Menschen, nicht von einer abstrakten Maschinerie – Menschen, die dafür zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Und schließlich hat der Prozess dazu beigetragen, den Opfern der Schoa und deren Angehörigen wieder ein Gesicht und eine Stimme zu leihen.

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