Europa, das ich meine

Ich weiß, alles unterhalb eines Manifests wirkt manchmal unentschlossen, aber weil alle inklusive mir selbst nun schon seit Jahren fordern, es müssen einmal eine Debatte darüber geführt werden, was Europa eigentlich ist, werde ich ein paar zarte, halb geschlüpfte Gedanken in die Runde werfen. Und meiner Meinung nach ist das Thema Freiheit.

Die europäische Freiheit erscheint mir mit meinem zugegeben beschränkten Horizont einzigartig. Im direkten Gegensatz zu Joachim „Liberty Joe“ Gauck glaube ich zwar nicht, dass unsere Freiheit nicht nur eine Freiheit „von etwas ist, sondern auch eine Freiheit zu etwas“ – aber ich glaube ganz im Gegenteil, dass unsere Freiheit nicht nur eine Freiheit zu etwas ist, sondern auch eine Freiheit von etwas. Die höchste Form.

Die Freiheit zu etwas ist die erste, die sich die Menschen erkämpfen. Die Freiheit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, ihr Leben zu fristen, zu lernen, zu lieben wen sie wollen und zu leben wie sie wollen. Für mich ist dies das Grundversprechen zum Beispiel des „American Way of Life“: die Freiheit, zu tun was man will, so lange es niemand anderen in seinen Rechten verletzt. Tolle Sache. Und keineswegs selbstverständlich: In weiten Teilen der Welt ist das aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen völlig undenkbar. Jeder Mensch ist immer auch ein Objekt der Umstände, unter denen er lebt, und Freiheit kann aus meiner Sicht nur dann Freiheit sein, wenn sie tatsächlich allen offen steht (wenn ein Land strukturell drei Millionen Arbeitslose hat, dann mag dem einzelnen der Weg in Erwerbsarbeit offen stehen, aber eben nicht allen gleichzeitig. In diesem Punkt ist die Gesellschaft strukturell unfrei).

Das ist die „Freiheit zu …“. In Europa leben wir den sozialdemokratischen Traum, auch frei zu sein von vielen Dingen. Wir leben relativ frei von der Angst vor Gewalt, sei es politische in Form der Diktatur oder ordinär kriminelle (wir werden nicht mehr verschleppt und als Sklaven verkauft). Wir verarmen nicht sofort, weil wir eine Zeit lang arbeitsunfähig krank sind oder den Job verlieren (wenn auch immer schneller). Wir und vor allem unsere Kinder sind durch Bildung einigermaßen sozial mobil und nicht auf ewig in die soziale Schicht ihrer Eltern gefesselt (auch wenn das für Deutschland in Europa mit am wenigsten gilt), das heißt wir leben relativ frei von ständischen Hierarchien. Aus meiner Sicht ist das die noch größere Errungenschaft, die noch größere Freiheit, die auf der ersteren aufbaut, sie aber noch eine zivilisatorische Stufe höher hebt. Ich meine aus dem Kopf, der Gedanke kommt von dem amerikanischen Anthropologen David Graeber (in seinem gigantischen Buch „Schulden – Die ersten 5000 Jahre“), dass Platon, wenn er mit einer Zeitmaschine im Heute landen würde, die meisten Erwerbsarbeiter ob ihrer Verschuldung nicht von Sklaven würde unterscheiden können.

Auf jeden Fall von Graeber kommt die Definition von Freiheit, die den freien Menschen vom Sklaven unterscheidet: die Freiheit, soziale Beziehungen eingehen zu können. Das ist es, was den freien Menschen vom unfreien unterscheidet. Es ist das Recht, das nur der König und der Sklave nicht haben. Der eine, weil er Gott gleich ist, der andere, weil er den Toten gleich ist. Beides hat keinen Platz in einer zivilisierten, demokratischen Gesellschaft (außer natürlich Prince Charles, aber nur als Folklore. God Save The Queen!). Die Beziehung eines freien Menschen zu einem Sklaven ist eine, die einzig auf Besitzverhältnissen beruht (im eigentlichen Sinne also „rational“ ist, auf Verhältnissen beruhend (ratio = Verhältnis)). Es ist außerdem das Verhältnis, mit dem Konservative von Thilo Sarrazin bis zu dem Quoten-Reaktionär auf Spiegel Online, von Hans-Werner Sinn bis zu den niederen Rängen der FDP (d.h. von Rösler abwärts, also alle Aktiven) die Verhältnisse in Europa bewerten. Wer kein Geld hat, der soll eben hungern, sein Land verkaufen oder einfach den Anstand haben zu sterben (der sich inzwischen selbst öffentlich kaum noch zivilisiert gebende stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Martin Lindner forderte tatsächlich im Bundestag, Griechenland solle doch „den Anstand haben“, die Währungsunion zu verlassen. Es ist ein Vorrecht des (eingebildeten) Adels, die Armen unanständig zu finden. Ich weiß, dass sein Spitzname im Bundestag „Eierkrauler“ ist, aber ich schlage trotzdem einen neuen vor: Marie Antoinette). Diese Art Argumentation gibt es selbstverständlich nicht innerhalb von Familien, Gruppen (eine Bundeswehr-Einheit in Afghanistan dürfte nicht deshalb eine andere im Stich lassen, weil diese sich selbst durch eigene Fehler in Gefahr gebracht hat) oder Nationen. Ein Hamburger verlangt nicht von Berlin, es möge das Brandenburger Tor verkaufen, weil es verschuldet ist, Kinder hungern lassen oder ähnliches. Die Beziehung von Hamburg zu Berlin ist keine „rationale“, keine auf berechenbaren Verhältnissen begründete, sondern auf unberechenbaren, sozialen. Es würde nicht einmal der Versuch durchgehen, den einen zum Sklaven des anderen umzudeklarieren. In Europa passiert aber gerade genau das.

Europa ist der stärkste Wirtschaftsraum der Welt. Er ist es deshalb, weil nirgendwo sonst ein derartiger kultureller Reichtum auf so engem Raum friedlich und in Freiheit zusammenlebt. In Freiheit von und zu. Wir erleben gerade die Angriffe derer, die mit Freiheit nur das Recht des Stärkeren meinen, sich das Recht zu nehmen. Ihr Trick ist, soziale Verhältnisse in berechenbare, „rationale“ Verhältnisse zu überführen. Es ist die Logik der Sklavenhalter, nach dem am Ende der Ärmste keine Rechte mehr haben kann, weil er Schulden hat (ein extrem lustiger Trick dagegen wäre übrigens, wenn jeder heiratsfähige Nordeuropäer einen heiratsfähigen Südeuropäer heiraten würde, dann wäre das komplette System ausgehebelt, weil Ehen institutionalisierte (berechenbare) unberechenbare (Liebes-)Verhältnisse sind).

Oder sagen wir es so: Nur weil die Arschlöcher es nicht berechnen können, heißt das nicht, dass Europa ein schlechtes Geschäft ist.

6 Antworten auf „Europa, das ich meine“

  1. Hier bin ich jetzt mal wieder gar nicht einverstanden. Aber das hatten wir ja schon, und wir haben eigentlich auch keinen Grund, das noch mal aufzuwärmen.
    Ich komme allerdings nicht umhin, mich zu fragen, ob ich (deshalb?) auch ein Arschloch bin.
    Hast du dazu eine Meinung?

  2. Knihihihi. Ich hoffe nicht! Ich sehe keine Anzeichen, aber ich weiß auch nicht, wie du mit Katzen umgehst.

  3. Die Arschlöcher aus deinem letzten Satz definieren sich über ihren Umgang mit Katzen?
    Ich glaube, ich muss deinen Post noch mal lesen und dann überlegen, warum ich ihn beim ersten Mal so völlig falsch verstanden habe.
    (Falls du Wert darauf legst, mich solange schon mal einzustufen: Gar nicht. Wir waren bisher immer sehr zufrieden damit, einander zu ignorieren. Ich bin ein glühender Verehrer der Harmaty, aber ich weiß nicht, ob das zählt.)

  4. „Ein Hamburger verlangt nicht von Berlin, es möge das Brandenburger Tor verkaufen, weil es verschuldet ist“

    Ich weiß nicht, was Hamburger sagen würden, wenn ein sehr großer Teil der Berliner die Steuer umgehen würde.

  5. EU-Kommissar Hahn: Alle sagen, dass es interessant wäre zu investieren, weil das ein Markt ist, in dem man vieles noch gestalten kann. Aber ein Problem sind zum Beispiel lange Gerichtsverfahren. Die dauern durchschnittlich zehn Jahre, und es ist nicht üblich, Streit außergerichtlich zu klären. In der Region Athen gibt es mehr Rechtsanwälte als in Frankreich. Außerdem gibt es Schwierigkeiten mit transparenten, schriftlichen und haltbaren Bescheiden von Steuerbehörden. Ein Unternehmer geht zu einem Finanzbeamten und will eine Auskunft, er vertraut darauf und investiert. Dann aber läuft er Gefahr, dass der nächste Finanzbeamte das ganz anders sieht. Und bei Genehmigungsverfahren gibt es diesen Kompetenzwirrwarr. Es ist völlig unklar, wann, wo, wie und mit welchen Unterschriften ich Genehmigungen bekomme. Das hält Unternehmer davon ab zu investieren.

    Süddeutsche Zeitung: Wie viele Unterschriften brauchen Sie, um ein Projekt zu starten?

    So zwanzig bis dreißig Unterschriften sind es in Griechenland.

    Und hat Samaras versprochen, das zu vereinfachen?

    Ich habe neben Premier Samaras alle für die Umsetzung des Reformprogramms zuständigen Minister getroffen, also die für Entwicklung, Wirtschaft, Inneres, Umwelt und Finanzen. Sie machen einen entschlossenen Eindruck, die Probleme anzupacken. Ich habe kein Hehl daraus gemacht, dass sie vor allem den Kompetenzwirrwarr in der Verwaltung beseitigen müssen. Für die Müllbehandlung sind allein drei Minister zuständig, nämlich Inneres, Umwelt und Entwicklung, und dann gibt“s die verschiedenen Behörden auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Das Ergebnis ist, dass wir seit Jahren über Müllentsorgung reden und immer noch wilde Mülldeponien haben. Das ist besonders in der Region Attika mit über vier Millionen Einwohnern ein großes Problem.

    Gibt es denn wenigstens den Fortschritt, ein Katasteramt aufzubauen?

    Das gibt es bis heute nicht wirklich, das ist eins der schwierigsten Vorhaben. Im städtischen Bereich wurden 17 Prozent der Flächen vermessen. Sonst nichts. Der zuständige Minister hat mir gesagt, seit dem

    19. Jahrhundert wird an dem Thema gearbeitet. Aber die Landvermessung ist nur ein Problem, als Nächstes kommt dann die Zuordnung der Eigentümer zu den Grundstücken, und da würde es mich nicht wundern, wenn es eine Fülle von Einsprüchen gibt. Bis man einen Status hat und weiß, Herr und Frau A und B besitzen das Grundstück C, wird es noch einige Zeit dauern.

    Tja, Arschlöcher, wohin man blickt …

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