Real: Alles drin. Irreal: Was Politik behauptet, was drin ist.

Die erfolgversprechendste Art für jede Organisation, die Zukunft anzugehen ist, so viele gute Ideen wie möglich auszuprobieren und sich von den jeweils schlechtesten so schnell wie möglich wieder zu trennen. Bei Apple tut man das, indem man unzählige Prototypen baut. Die meisten anderen Unternehmen tun es, indem sie ein paar Prototypen bauen, den besten auswählen und von da an mit Kundenfeedback von Version zu Version besser werden („Done is better than perfect“). Das System ist das gleiche: Wer bereits vorher glaubt, die Antwort auf die Fragen der Zukunft zu kennen, arbeitet nicht mit Ideen sondern mit Ideologie. Und das ist eine Methode, bei der nur sicher ist, dass selbst ein nur relativ optimaler Erfolg praktisch unmöglich zu erreichen ist, d.h. nicht einmal tatsächlich umgesetzte Ideen können ihr volles Potenzial entfalten, weil ihre Beschränkung immer bereits eingebaut ist.

Willkommen in der Politik.

Nur ist die Politik daran gar nicht allein schuld. Ich möchte das an einem Beispiel erläutern, natürlich anhand der Euro-Krise, die zumindest für irgendetwas nützen soll.

Da ist einmal die real existierende Politik. Sie versagt mehr oder weniger vollständig: Allen Krisenländern geht es immer schlechter. Nehmen wir Spanien, deren Ministerpräsident Rajoy gerade in Berlin zu Gast war, und der dabei (wie nicht lange zuvor sein irischer Amtskollege) den Spagat vollbringen musste, einerseits darauf zu verweisen, wie großartig konsequent er die ihm von den europäischen institutionellen und nationalen Großmächten aufoktruierten „Reformen“ umsetzt, und andererseits um Hilfe zu bitten, weil die Realität sich nicht an die Pläne der Ideologen hält. Unter den Reformen bricht die spanische Wirtschaft genauso zusammen wie die griechische, die portugiesische und mit ein paar Abstrichen auch die irische. Die Programme funktionieren nicht, nirgendwo und unter keinen Bedingungen. Die Zahlen zeigen das.

Aber natürlich wäre diese Realität nur dann ein Baustein in der Politik zum Beispiel unserer Bundesregierung, wenn es dabei um Ideen ginge und nicht um Ideologie.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Reformbemühungen Spaniens gewürdigt. Deutschland habe „große Hochachtung und große Bewunderung“ für das, was Spanien zur Bewältigung der Schuldenkrise auf den Weg gebracht habe, sagte die CDU-Politikerin nach ihrem Treffen mit Spaniens Ministerpräsidenten Mariano Rajoy in Berlin. Sie sei überzeugt, dass die Reformen Wirkung zeigen würden.

Zeit.de

Warum soll sie sich mit der Realität beschäftigen, wo sie doch überzeugt ist? Die Wahrheit ist, dass die spanische Wirtschaft in einer Größenordnung zusammenbricht, die sich kaum noch beschreiben lässt. Das Land ist in allen wichtigen Bereichen von Produktion, Handel und Arbeit um Jahrzehnte zurückgeworfen und implodiert. Merkel lügt. Und lügt. Und lügt.

Gleichzeitig gibt es in deutschen Medien spürbar weniger Berichte aus den Krisenländern. Wie dramatisch die Lage in Europa ist, wird in Deutschland nirgendwo wirklich sichtbar. Insofern könnte ein Besuch des SPD-Kanzlerkandidaten Steinbrück in Athen ein Schlaglicht darauf werfen, denn immerhin verbrachte er einen guten Teil seiner Zeit in Einrichtungen zur Armenspeisung. Stattdessen kümmern sich die Journalisten, die ihn begleiten, um ganz andere Fragen: Obwohl Steinbrück zumindest in homöopathischen Dosen ernsthafte Ideen zur Überwindung der Krise vorgebracht hat, ist die einzige Frage, die Journalisten dabei interessiert, wie sie mit seiner Kandidatur zusammenwirken.

Als Beispiel das Leitmedium Spiegel Online:

Die Jugendarbeitslosigkeit ist auf Rekordhoch, die Investoren scheuen den Gang zurück ins Land. Daheim in Berlin würde manch einer den Hellenen gerne den Geldhahn zudrehen. Steinbrück nicht. Er will dem Misstrauen gegenüber der griechischen Regierung etwas entgegensetzen, das ist das Hauptanliegen seines Besuchs. Er sagt: „Das Land braucht mehr Zeit, um seine Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen.“ Steinbrück, der Barmherzige.

Es ist ein Kurs mit Risiko. Der SPD-Mann weiß, dass jene Frau, die er beerben will, andere Töne anschlägt. Angela Merkel gefällt sich seit Beginn der Krise als eiserne Kanzlerin. Wann immer sie sich zur Zukunft Griechenlands äußert, pocht sie auf Einhaltung der Brüsseler Bedingung, das Defizit auch über massive Sozialreformen in den Griff zu bekommen. Kein Geld ohne Gegenleistung – das ist ihr Credo. Beim Wähler fährt sie damit bislang ganz gut.

Abgesehen davon wie lustig es ist, „Brüsseler Bedingungen“ von den deutschen Bedingungen zu trennen fällt auf, dass die Realität durch die Brille von Spiegel Online nicht mehr als solche wahrgenommen wird, sondern nur noch als Leinwand, vor der sich das Spektakel des deutschen Wahlkampfes entfaltet. Dass die „Brüsseler Bedingungen“ in keinem Land positive, sehr wohl aber in jedem Krisenland katastrophale ökonomische und soziale Folgen haben ist vollkommen unerheblich angesichts der Tatsache, auf welche der Lügen und Inszenierungen der (oftmals durch eben dieselben Medien bedingt) im Ahnungslosen verharrende Wähler doller hereinfällt. Politik ist mit Inhalten hier gar nicht zu machen: Dass Politiker selbst um den Preis der Wahrheit, selbst um den Preis realen (aber unsichtbaren) Leidens erfolgreicher an Ideologien festhalten als sich um die Lösung realer Probleme zu bemühen liegt auch daran, dass Medien es so wollen. Die gute Geschichte schlägt gute Politik. Ob Merkel in Wahrheit lieber gute Politik machen würde ist zweitrangig – es lohnt sich schlicht nicht. Wenn sie die Zahlen aus den Krisenstaaten zum Anlass nähme, Fehler zu korrigieren und echte Verbesserungen herzustellen, würde ihr das von den Medien und so letztlich den Wählern negativ angerechnet. Sie wäre eine Umfallerin. Weil sie die Realität ernst genommen hätte.

Noch einmal: Würde die vorherrschende europäische Politik an Zahlen gemessen, dann müsste man Merkel ihre Worte von den spanischen Fortschritten pausenlos um die Ohren hauen. Im Vergleich zu ihrem Allzeithoch 2007 hat die spanische Industrie mehr als 30 Prozent weniger Output. Der Stand ist schlechter als der von vor 20 Jahren. Fortschritte? My ass! Wen wollt ihr hier eigentlich verarschen?

Ach ja, uns alle.

Das Schlimme dabei ist nicht nur, dass es funktioniert. Das Schlimme ist, dass es sich längst als ein System etabliert hat, welches die echte Lösung von Problemen bestraft, während es die Lügen von Ideologen belohnt.

In der Realität ist das schlecht.

Mein letzter Text zu den Piraten

Die Piraten haben also den Beweis angetreten, dass sie inhaltlich arbeiten können und sich mit den „Bochumer Beschlüssen“ eine Art Grundsatzprogramm vervollständigt.

Partei-Grundsatzprogramme bestehen rein rhetorisch oft aus viel heißer Luft, nicht nur bei den Piraten, wirklich füllen kann sie eine Partei nur durch konkrete politische Arbeit, das kann man den Piraten kaum anlasten. Aber ich würde mich gern ein bisschen mit dem beschäftigen, was da konkret beschlossen wurde.

Als oller Sozi nehme ich einmal stellvertretend den Bereich „Arbeit und Mensch“ aus den Bochumer Beschlüssen. Und ich kann vorweg schonmal sagen, dass ich schockiert bin, richtig tief schockiert, nicht allein ob der bizarren handwerklichen Qualität der Beschlüsse, sondern auch wegen der Inhalte. Aber gucken wir uns den Abschnitt kurz in seiner Gesamtheit an.

Arbeit und Mensch

Arbeit ist für uns nicht nur eine handelbare Ware, sondern immer auch die persönliche Leistung eines Menschen. Es ist daher ein Gebot der Menschenwürde, dass jeder Mensch frei entscheiden kann, welchen Beruf er ausüben will und welche Arbeit er an- nehmen will, aber auch, dass diese Leistung entsprechend gewürdigt wird.

Die technologische Entwicklung ermöglicht es, dass nicht mehr jede monotone, wenig sinnstiftende oder sogar gefährliche Aufgabe von Menschenhand erledigt werden muss. Wir sehen dies als großen Fortschritt, den wir begrüßen und weiter vorantreiben wollen. Daher betrachten wir das Streben nach absoluter Vollbeschäftigung als weder zeitgemäß noch sozial wünschenswert. Stattdessen wollen wir uns dafür einsetzen, dass alle Menschen gerecht am Gesamtwohlstand beteiligt werden und werden dazu die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens prüfen.

Und nun der Reihe nach:

Arbeit ist für uns nicht nur eine handelbare Ware, sondern immer auch die persönliche Leistung eines Menschen.

Fasse ich das richtig zusammen als „Arbeit ist mehr wert als nur das Geld, das man dafür bekommt“? Merken wir uns das kurz.

Es ist daher ein Gebot der Menschenwürde, dass jeder Mensch frei entscheiden kann, welchen Beruf er ausüben will und welche Arbeit er annehmen will, aber auch, dass diese Leistung entsprechend gewürdigt wird.

Ich meine, das kann man im Gesamtkontext nur so verstehen: Menschen sollten keine Arbeit annehmen müssen, die sie nicht ausführen wollen. Der falsche Bezug bei der Leistung (gemeint ist wohl „ihre Leistung“ nicht „diese Leistung“, die im Annehmen der Arbeit bestände, die man annehmen will) überdeckt wahrscheinlich die Forderung, dass Arbeit leistungsgerecht entlohnt werden soll? Da sich die Piraten nicht grundsätzlich vom Kapitalismus verabschieden nehme ich an, sie meinen auch hier vor allem, dass Menschen nicht durch materiellen Druck zu unangenehmen Arbeiten gezwungen werden sollen? Sondern dass diejenigen wenig sinnstiftenden, monotonen und gefährlichen Arbeiten, die noch keine Maschine übernehmen kann, dann wenigstens besonders gut bezahlt werden sollen? Das wäre eine kongruente Haltung – irgendwie gefühlt jedenfalls –, aber es steht da nicht. Da steht, dass jeder arbeiten soll, was er will, und das soll „entsprechend“ gewürdigt werden. Zusammen mit dem ersten Satz, der klarstellt, dass Arbeit mehr ist als eine bezahlte Ware, könnte die entsprechende Würdigung dann auch sein zu sagen: „Du machst das doch eh so gerne, das bezahlen wir nicht?“ Oder eine staatliche Stelle, die morgens einen Abgesandten an die S-Bahn stellt, der sich bei den zur Arbeit eilenden für ihr Engagement bedankt? Ich weiß es nicht.

Die technologische Entwicklung ermöglicht es, dass nicht mehr jede monotone, wenig sinnstiftende oder sogar gefährliche Aufgabe von Menschenhand erledigt werden muss. Wir sehen dies als großen Fortschritt, den wir begrüßen und weiter vorantreiben wollen.

Das gilt spätestens seit der Erfindung des Rasenmähers. Oder so. Mehr heiße Luft geht nicht, aber richtig böse wird es erst jetzt.

Daher betrachten wir das Streben nach absoluter Vollbeschäftigung als weder zeitgemäß noch sozial wünschenswert.

Wie bitte? Das Streben nach Vollbeschäftigung ist sozial nicht wünschenswert? Das Streben? Das ist ja nun totaler Unfug. Wahrscheinlich ist gemeint, der Zustand der Vollbeschäftigung selbst wäre nicht wünschenswert (was auch immer an „absoluter Vollbeschäftigung“ noch absolut voller als voll sein soll).

Ich nehme an, hier ist mit Vollbeschäftigung nur die landläufige, engere Definition gemeint, nämlich der Produktionsfaktor Arbeit – also der Zustand, in dem jeder Arbeitswillige auch Arbeit hat. Das finden Piraten sozial nicht wünschenswert? Oder missverstehen sie die Definition von Vollbeschäftigung und meinen eigentlich, es solle nicht jeder arbeiten müssen, weil das … was auch immer? Weil manche eben was Besseres zu tun haben? Ich entferne mich hier vom Text der nur sagt, „das Streben nach Vollbeschäftigung“ sei unzeitgemäß und nicht sozial wünschenswert, aber ergibt das einen Sinn? Ich kann die Partei in beiden Fällen nicht wählen, denn ich finde sowohl das Streben nach Vollbeschäftigung als auch die Vollbeschäftigung als solche sehr wünschenswert, gerade auch sozial, aber wer formuliert denn diesen Quatsch? Der Schwarm? Arbeitsgruppen? Der Parteitag? Und das wird dann so verabschiedet? Puh.

Stattdessen wollen wir uns dafür einsetzen, dass alle Menschen gerecht am Gesamtwohlstand beteiligt werden und werden dazu die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens prüfen.

Statt Arbeit lieber ein ordentliches Bedingungsloses Grundeinkommen. Steht da wirklich: Stattdessen. Es ist das Streben danach, strukturelle Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sozial nicht wünschenswert, stattdessen soll lieber jeder „gerecht am Gesamtwohlstand beteiligt werden“ – nicht dadurch, dass er die gerechte Chance erhält, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern offensichtlich einfach durch Geld. Die Arbeit des Menschen ist – wir haben uns das oben gemerkt – mehr als nur handelbare Ware, offensichtlich deshalb, weil es nach Ansicht der Piraten sowieso nicht genug davon gibt, und deshalb wird sie rationiert: Es ist nicht zeitgemäß und wünschenswert, dass alle arbeiten, deshalb werden einige fürs Nichtstun bezahlt.

Das ganz Merkwürdige bei den Piraten ist für mich, dass bei mir das Gefühl bleibt, das können sie gar nicht gemeint haben. Das muss ihnen so durchgerutscht sein, sie wollten etwas ganz anderes sagen. Sie können vielleicht einfach nicht so gut Beschlüsse formulieren. Aber dafür steckt da zu viel Arbeit drin, zu viele Stunden und Augenpaare und Gedanken und was auch sonst noch. Das ist so verabschiedet und veröffentlicht – das gilt. Und für mich sind die Piraten damit nicht nur unwählbar, sondern ein echter politischer Feind. Ich bin dieser Partei von Ferne mit einiger manchmal schmunzelnder Sympathie begegnet. Ich fand sogar das Chaos eine ganze Weile lang okay. Aber wer behauptet, Arbeit sei mehr als nur das Geld, das man dabei verdient, um gleichzeitig zu sagen, Vollbeschäftigung sei nicht zeitgemäß und sozial erwünscht, weil die Leute schließlich auch ein irgendwie benamstes Arbeitslosengeld bekommen und dann machen können, was sie wollen – der hat mit der Realität von Menschen keinen Kontakt mehr. Ich empfinde es als zynisch, einem Langzeit-Arbeitslosen mitzuteilen, er solle doch einfach ein bisschen mehr Lebenskünstler sein, ein bisschen mehr wie Johannes Ponader, das sei jetzt sozial so erwünscht und zeitgemäß.

Ich glaube, dass sich die Würde eines Menschen auch über seine Arbeit definiert, darüber, dass er sein Leben mit seiner Arbeit fristen kann. Ich halte Vollbeschäftigung für ein extrem soziales und legitimes Ziel. Aber was weiß ich schon, ich halte es ja auch für vernünftig, dass ein Bundesparteitag in der Lage ist, ordentliche Beschlüsse zu Problemen zu fassen, die dieses Land wirklich hat, die seine Bewohner wirklich haben – und sich nicht mit Zeitreisen abzukaspern.

Das sieht Johannes Ponader anders, der auf Twitter wieder die Medien dafür verantwortlich macht, dass nicht jeder bejubelt, was die Piraten da beschlossen haben.

Medien, die uns für Zeitreisen schelten und gleichzeitig Machtpolitik & Hierarchisierung als Professionalisierung loben. Finde den Fehler.

Ich sag mal so: Ich finde den Fehler.

Wenn Obama Europäer wäre

Die Rede, mit der Barack Obama seine Wiederwahl als US-Präsident akzeptierte, steigert sich in den letzten anderthalb Minuten in einem Crescendo über dem Applaus seiner Anhänger in eine Ode an die Stärke Amerikas, an die Großartigkeit der Union, die Vielfalt, die Einzigartigkeit jedes Einzelnen.

I believe we can keep the promise of our founders, the idea that if you’re willing to work hard, it doesn’t matter who you are or where you come from or what you look like or where you love. It doesn’t matter whether you’re black or white or Hispanic or Asian or Native American or young or old or rich or poor, able, disabled, gay or straight, you can make it here in America if you’re willing to try.
I believe we can seize this future together because we are not as divided as our politics suggests. We’re not as cynical as the pundits believe. We are greater than the sum of our individual ambitions, and we remain more than a collection of red states and blue states. We are and forever will be the United States of America.

Es fällt schwer, diese Rede zu hören und nicht einfach auf der Stelle in diese Vereinigten Staaten auswandern zu wollen. Der Mann ist wahrscheinlich der größte Rhetoriker unserer Zeit. So fällt erst auf den zweiten Blick auf, dass alles das, was er anspricht, um uns herum, in Europa, besser ist – abgesehen von diesem einzigartigen Spirit, diesem amerikanischen Geist, der aus jeder seiner Zeilen aufsteigt und den Zuhörer unwiderstehlich in die Höhe zieht. Diese Rede ist auch deshalb so bemerkenswert, weil wir sonst eben keine Führungspersönlichkeiten erleben – politisch oder sonstwo – die derart virtuos Emotionen auslösen und mit ihnen umgehen können, ohne dabei negativ zu werden. Obama hält eine Bierzelt-Rede, ohne dabei einen Gegner zu benötigen. Er macht niemanden nieder. Alle Emotion, alle Kraft kommt aus ihm selbst. Es ist eine durch und durch positive Rede. Es wird nicht geschimpft, sich nicht empört, sie zieht keine vermeintliche Größe aus dem Sich-erheben über andere. Sie ist ganz allein groß, weil sie auf einer großen Idee basiert.

Es fällt manchmal auch chwer zu glauben, dass diese Idee bescheiden ausfällt im Verhältnis zur europäischen Idee. Verschiedene Völker und Lebensentwürfe, die friedlich zusammenleben? In Wohlstand? Wenn wir uns vor Augen führen, dass wir dabei in jüngerer Vergangenheit Weltkriege und den Zusammenbruch des Kommunismus überstanden haben, nebenbei viele Flüchtlinge aus aller Welt aufgenommen, verschiedene (Staats-)Religionen miteinander versöhnt und auch noch David Hasselhoff durchgefüttert haben, trotzdem in der Regel medizinische Versorgung und Bildungseinrichtungen geschaffen und eine einmalige kulturelle Vielfalt bewahrt haben, dann fragt man sich, was ein begnadeter Rhetoriker wie Obama im Dienst der Vereinigten Staaten von Europa wohl auslösen könnte. Was wäre, wenn dieser in jeder Hinsicht reiche, unvorstellbar schöne Kontinent eine echte Einheit bilden würde?

Vielleicht ist der amerikanische Traum, wie Obama ihn formuliert, nicht besonders anspruchsvoll:

We want our kids to grow up in a country where they have access to the best schools and the best teachers.
A country that lives up to its legacy as the global leader in technology and discovery and innovation, with all the good jobs and new businesses that follow.
We want our children to live in an America that isn’t burdened by debt, that isn’t weakened by inequality, that isn’t threatened by the destructive power of a warming planet.

Diese Ziele sind wahrscheinlich für den durchschnittlichen Europäer näher als für Amerikaner – jedenfalls in Nicht-Krisen-Zeiten. Wir sind reicher, besser gebildet, haben weniger Schulden, bessere Infrastruktur und spielen die interessantere Version von Fußball. Aber wenn es uns besser geht als ihnen, dann sollte doch die europäische Idee, die unter widrigeren Umständen so viel mehr Fortschritt, Wohlstand und Frieden gebracht hat, doch eigentlich noch mehr Begeisterung auslösen. Stattdessen scheint es, als würden mehr und mehr Menschen dieses Europa für überholt und die Rückkehr zum Nationalstaat für wünschenswert oder zumindest für unausweichlich halten.

This country has more wealth than any nation, but that’s not what makes us rich. We have the most powerful military in history, but that’s not what makes us strong. Our university, our culture are all the envy of the world, but that’s not what keeps the world coming to our shores.
What makes America exceptional are the bonds that hold together the most diverse nation on earth.
The belief that our destiny is shared; that this country only works when we accept certain obligations to one another and to future generations. The freedom which so many Americans have fought for and died for come with responsibilities as well as rights. And among those are love and charity and duty and patriotism. That’s what makes America great.

Der Gedanke ist so messerscharf wie schön: Es ist nicht, wie man es sonst hört, die Vielfalt als solche, die Amerikas Kraft ausmacht. Es ist das Band, das die Vielfalt zusammenhält. Der Glaube an ein geteiltes Schicksal. Ich glaube, das zeigt im Umkehrschluss die Schwäche unseres heutigen Europas: Der Glaube, man könne das alles letztlich besser allein, als Nation, ohne diese und jene gerade schwache Nation, ohne diese oder jene drückend starke.

Henry Kissinger hat einmal gesagt, er weiß nicht, wen er anrufen soll, wenn er Europa sprechen möchte. Das ist ein Problem, natürlich, aber es wäre lösbar – wenn Europa wüsste, was es überhaupt sagen will.

Homophocus

Es gibt Menschen, die spielen großartig Fußball. Und es gibt Menschen, die sind dämlich. Eins ist nicht kausal für das andere, aber beides passiert oft parallel: Während die einen Fußball spielen, nutzen andere das, um sich auf den Rängen oder rund ums Stadion aufzuführen wie Vollidioten – inklusive verschiedener Formen körperlicher und verbaler Gewalt. Das ist nicht der Untergang des Abendlandes, aber es ist einer seiner eher unangenehmeren Aspekte. Und nach Meinung des Leiters des Ressorts „Debatte“ der Nachrichtenmagazinsimulation Focus ist es eine schützenswertere Form der Selbstverwirklichung als der offene Umgang der Fußballspieler mit ihrer sexuellen Identität. Der Mann heißt Michael Klonovsky, und er argumentiert in der aktuellen Focus-Ausgabe nicht nur dagegen, dass schwule Fußballprofis ihr Coming Out haben sollen, sondern auch gleich dagegen, dass die homophobe Grundstimmung rund um den Profifußball überhaupt ein Thema sein soll.

Das Fußballstadion aber ist eine archaische Sphäre. Auf dem Platz
imitieren Männer das Jagdrudel von ehedem und kämpfen gegen ein
anderes Rudel. Die Ränge bilden den Ort der Parteinahme, der
emotionalen Aufwallung, der Enthemmung, der Triebabfuhr. Das Stadion
gehört zu den raren Klausuren, wo der von Verhaltensvorschriften und
Tabus umstellte moderne Mensch sich noch gehen lassen kann. Die
Fankurve ist die letzte Bastion gegen den Totalitarismus der
Toleranzerzwinger. Hier hüten von den Medien sonst gern übersehene
Normalos das heilige Feuer des temporären Menschenrechts, sich
danebenzubenehmen, zu fluchen, zu höhnen, sich maßlos zu echauffieren
und dem Gegner unzivilisierte Beleidigungen zuzubrüllen.

Da „hineinzumaßregeln“ (was bedeuten würde … ja, was eigentlich? Homophobie als Verein offensiv anzuprangern und abzulehnen?) griffe also in die „temporären Menschenrechte“ ein. Wenigstens auf dem Fußballplatz soll man ihn, den Stellvertreter des Normalos auf Erden, mit diesen Schwulenproblemen in Ruhe lassen.

Homosexuellen-Probleme sind in letzter Zeit in der Öffentlichkeit
ausgiebig behandelt worden: von der Hinterbliebenenrente bis zur
Erbschaftsteuer, vom Ehegatten-Splitting bis zum Adoptionsrecht.
Angesichts der Tatsache, dass die Probleme der Schwulen und Lesben für
die Zukunft dieser Republik eher sekundär sind, vielleicht zu
ausgiebig.

Das gehört nicht nur zum Albernsten, sondern auch zum Schlimmsten, über das ich mich diese Woche aufrege.

Ich ärgere mich in diesem Fall auch über mich selbst, das mal vorweg. Ich bin ein eher behäbiger, heterosexueller Pseudo-Mini-Macho mit viel Unverständnis allem mir Fremden gegenüber. Ich verstehe einen Großteil aller sexuellen Orientierungen und Fetische ohnehin nicht. Ich habe keine Ahnung von schwuler Kultur oder Subkultur. Mir ist sogar unangenehm, dass sich Hape Kerkeling dauernd als Frau verkleidet, obwohl ich nicht einmal weiß, ob das irgendwie damit zusammenhängt, dass er schwul ist. Mit anderen Worten: Es gibt keinen schlechteren Verteidiger der Schwulenrechte als mich. Aber die simple Tatsache, dass es offenbar im 2012 in Mitteleuropa immer noch ein Diskussionsthema ist, wer sein Coming Out haben kann, soll und darf und wer nicht bedeutet, dass wir alle, auch der Allerletzte und Schlechteste – kurz: ich – aufgefordert sind, Typen wie Herrn Klonovsky zu sagen: Das ist eben nicht nur falsch, was Sie sagen, das ist eine alte Scheiße. Stellen Sie das ab!

Aber der Reihe nach: Sport ist die vielleicht großartigste Metapher auf das Leben, die wir haben. Der Kampf um Erfolg, den eigentlich jeder nur gegen sich selbst gewinnen kann. Die Momente der Größe, die Momente der Niederlage. Und die graue Zeit dazwischen. Diese unerklärliche Mischung aus Team-Geist und Egoismus, die Helden auszeichnet. Die Unerklärlichkeit des Lebens, die Zufälle, die Millimeter, die Ungerechtigkeit, das Glück. Wenn da unten Menschen spielen und Millionen dafür bekommen, dann deshalb, weil es so großartig ist, dabei zuzusehen und zu spüren, was das Leben alles sein kann, wenn man dafür kämpft. Was wir alles sein können. Und mehr als das: Was wir sein können, ohne dabei Regeln zu brechen. Innerhalb der Gemeinschaft. Wenn wir Fair Play zur Grundlage jedes Sports machen, dann nicht deshalb, weil es das Spiel spannender macht – sondern weil es das Spiel erst möglich macht. Egal ob ein Fußballspiel mit 55.000 Menschen im Volksparksstadion, die Stadt Hamburg, die Bundesrepublik Deutschland oder den Rest der Welt – all das funktioniert nur, weil es das „temporäre Menschenrecht der Triebabfuhr auf Kosten anderer“, wie es Herr Klonovsky propagiert, eben nicht gibt. Nicht einmal im Debattenressort des Focus.

Die Argumentation des Herrn Klonovsky wäre genauso auch auf ausländische Spieler anwendbar: Wir reden viel über die Probleme von Ausländern in Deutschland, warum sollte man sich da nicht wenigstens im Stadion zu rassistischen Ausfällen hinreißen lassen dürfen? Schließlich passiert das ja. In der Logik des Debattenressortleiters sollte man ausländischen Spielern vermutlich zunächst raten, ihr Ausländischsein zu verheimlichen („Schmink dich doch einfach über, Demba Ba! Und dann nennen wir dich Daniel Bahr!“) und ansonsten die Klappe zu halten. Ich möchte das eigentlich gar nicht Argumentation nennen, sondern das wütende Schluchzen eines frustrierten Reaktionärs nach Kontakt mit diesem ekligen Zeug, das zwölf Monate im Jahr draußen vor der Tür wartet … der Realität.

Um es einmal zu sagen: Wir gehen praktisch alle davon aus, dass Beziehungen, Familie, Ehe – Liebe! – ein zentraler Punkt unseres Daseins auf diesem Planeten sind. Der Default-Modus eines Hotelzimmers ist Doppelzimmer. Von Menschen zu verlangen, sie mögen bitte auf einen zentralen Teil ihrer Existenz verzichten oder ihn zumindest unter extremem Öffentlichkeitsdruck verheimlichen, damit der homophobe „Normalo“ auf der Tribüne nicht ihretwegen sein temporäres Menschenrecht aufs Arschlochsein ausüben muss, ist unmenschlich, unvertretbar und widerlich. Punkt. Ich möchte nicht in der Haut derjenigen stecken, die heute als Fußballer mit sich ringen, ob sie ihr Coming Out haben sollen. Ich kann ihnen das nicht abnehmen. Aber ich kann feststellen, dass die Tatsache, dass es so schwierig ist, eindeutig ein Fehler im System Profifußball ist – und kein Fehler der schwulen Spieler. Ich weiß nicht, wie das letztlich gehen wird, aber: Natürlich müssen wir den Fehler abstellen, nicht die sexuelle Orientierung der Spieler.

Selbstverständlich weiß ich auch, dass die armseligen Gestalten beim Focus solche Dinge nur schreiben, damit sich mal wieder irgendjemand für sie interessiert. Aber, wie gesagt, es geht dabei auch um mich selbst. Ich bin viel zu oft still, wenn Menschen diskriminiert werden, weil ich eben nicht zu der diskriminierten Gruppe gehöre. Und das tut mir leid. Das geht so nicht.

Insofern: Homophobe Arschlöcher aller Länder, verpisst euch aus meinem Stadion!

Endlich reden wir mal über Sex: fickt euch!

Es ist eine Liste von Ekligkeiten: CDU-Partei … ähem, „freunde“ von Christian Wulff setzen das Gerücht in die Welt, seine neue Frau hätte eine „Rotlichtvergangenheit“, und bei passender Gelegenheit drucksen deutsche Medien so lange um die Tatsache herum, dass es vollkommen indizienfreie Gerüchte gibt, bis irgendwann zumindest alle mal darüber schreiben können, dass wieder andere möglicherweise irgendetwas hätten, dass sie berichten könnten. Diese Geschichte ist letztlich in die Öffentlichkeit gelangt, weil Günther Jauch in seiner Sendung den BILD-Vize damit konfrontierte, dass die Berliner Zeitung schrieb, die BILD hätte möglicherweise irgendwelche Informationen? Der Schwager einer Freundin der Arbeitskollegin des Bekannten von Dingenskirchen sicher auch, aber den fragt ja keiner.

In meiner persönlichen Liste der Ekelpriorität stehen die Parteifreunde noch ein bisschen höher – also in der realen Welt niedriger, Prioritäten sind ja nur eine Ableitung der Wirklichkeit –, aber ich schaffe es kaum, mich über diese niedersächsischen Provinzpusteln aufzuregen, weil ich ein noch viel grundlegenderes Problem mit dieser Geschichte habe. Und zwar dieses: Leben wir wirklich immer noch in Zeiten, in denen wir Hexenjagden veranstalten auf Frauen, weil sie (in diesem Fall: angeblich) einmal Prostituierte waren? Verstehe ich das richtig, dass ein deutscher Ministerpräsident sich nicht in eine/n Prostituierte/n verlieben und sie/ihn heiraten darf?

Ich habe hier ein ernstes Problem, und ich rege mich seit Tagen mehr und mehr darüber auf, mit welcher Scheinheiligkeit wir pausenlos Menschen sowohl nach ihrem Sexualleben als auch nach ihrer Sexualität bewerten und dabei im- und explizit mit Werten und Begriffen um uns werfen, die in der Debatte nichts verloren haben. Ich will das gerne begründen.

Um eins vorweg zu nehmen: Ich werde im Folgenden beschreiben, dass ich die Vorwürfe gegen Bettina Wulff schon deshalb für eklig halte, weil sie implizieren, eine „Rotlichtvergangenheit“ würde sie als First Lady disqualifizieren. Dabei ist mir vollkommen bewusst, dass Bettina Wulff keine solche Vergangenheit hat und die ganze Diskussion nur auf niederträchtigen Gerüchten basiert. Ich möchte nicht implizieren, ich hielte es für möglich, dass sie eine solche Vergangenheit hat. Ich bin völlig davon überzeugt, dass sie sie nicht hat. Mein Punkt ist, dass ich glaube, es könnte durchaus eine First Lady geben, die ähnlich gut geeignet für diese Funktion ist wie Bettina Wulff (vor deren Haltung in der Krise rund um den Rücktritt ihres Mannes ich einen unendlichen Respekt habe) und die eine Vergangenheit als Wasauchimmer hat.

Aber zum Punkt: Es gibt offenbar kein valides Datenmaterial zur Prostitution in Deutschland, erst recht nicht zu den Freiern. Die Daten bei Umfragen variieren derart, dass sie völlig sinnlos sind. Aber ich wohne wenige Minuten von der Reeperbahn entfernt. Ich persönlich halte die Umfragen, die sagen, etwa die Hälfte aller Männer in Deutschland hat schon für Sex bezahlt für nicht weit hergeholt. Rein von den Zahlen her muss man sagen, Prostitution ist in dieser unserer Gesellschaft fest verankert. Ich weiß, dass Sexarbeit mit besonderen vor allem psychischen Belastungen einhergeht, ich meine es absolut nicht respektlos wenn ich sage: Es ist ein ganz normales Gewerbe. Aber das ist es. Prostituierte zahlen Steuern und erfüllen offensichtlich eine gesellschaftliche Funktion. Und wenn es eine Ehe zwischen einer Hure und einem Spitzenpolitiker gibt, dann würde ich jederzeit darauf wetten, dass die Hure im ehrlicheren Gewerbe beheimatet ist. Wenn es eine Vergangenheit gibt, die einen Menschen als Bundespräsidenten (oder dessen bessere Hälfte) disqualifiziert, dann aus meiner Sicht jeder Posten in der niedersächsischen CDU zehnmal eher als Sex in unzähligen Positionen in einem Hannoveraner Puff.

Noch einmal: Bettina Wulff hat keine Rotlichtvergangenheit. Sie ist nur sexier als es in der niedersächsischen CDU ertragen wird. Wahrscheinlich ist da was dran, dass wenn man geil aussieht oder keine Probleme damit hat, hübsche Frauen abzuschleppen, man gar nicht erst in die Gefahr gerät in die Junge Union einzutreten. Aber Gerüchte über eine junge Frau verbreiten, um ihrem Mann zu schaden? Buäh, seid Ihr eklig!

Jedenfalls: Der falsche Anwurf, der da kam um dem damaligen Ministerpräsidenten Wulff zu schaden hatte die Stoßrichtung, seine Urteilsfähigkeit in Zweifel zu ziehen. Wer sich in eine Nutte verliebt, das soll man wohl denken, der hat sich auch sonst nicht unter Kontrolle (und ist möglicherweise sogar erpressbar). Anders kann ich die mutwillig platzierten Gerüchte nicht verstehen. Was zu Ende gedacht bedeutet: Eine Nutte kann keine Frau sein, in die ein ernsthafter Mann sich verlieben kann. Schließlich ist sie eine Nutte. Und der Mann kann deshalb nur auf sie hereingefallen sein, wahrscheinlich deshalb, weil in ihrer Gegenwart zu viel von seinem Blut nicht in seinem Gehirn ist. Der Sex hat in willenlos gemacht.

Als ernsthafte Ehefrauen für Spitzenpolitiker kommen also nur solche infrage, die zumindest aus Sicht ihrer eigenen Männer nicht so geil sind. Da ist dann die Junge Union natürlich wieder weit im Vorteil.

Nur halb unabhängig davon führen wir gerade wieder eine Debatte darüber, was eigentlich eine Ehe ist, warum sie heilig und unter der besonderen Schutz des Grundgesetzes ist und warum sie nur zwischen Mann und Frau möglich sein soll. Und hier erreicht mein persönlicher Ärger seinen Höhepunkt.

Als heterosexueller, verheirateter Christ mit zwei Kindern möchte ich bitte einmal explizit darauf hinweisen, dass ich die quasi synonyme Nutzung der Begriffe „Ehe“ und „Familie“ für offensichtlich überholt und deshalb unredlich halte. Ich kann auch nicht den Hauch eines Hinweises erkennen, warum nicht zwei Männer, zwei Frauen, jede Kombination von und mit Transsexuellen oder eben ein Mann und eine Frau egal welcher sexueller Ausrichtung heiraten können sollen. Als Bürger glaube ich, die Ehe ist die freiwillige Übernahme von Verantwortung für einen Partner. Als Christ glaube ich, die Ehe ist das Sakrament der Uneigennützigkeit, der Liebe, der Hingabe. Ich glaube, die Geschichte hat gezeigt, dass Familien auf tausende Arten entstehen, und weder die Ehe noch die Tatsache, wer nun gerade am Zeugungsakt eines bestimmten Menschen beteiligt war haben nachhaltig viel Einfluss darauf, ob und wie eine Familie funktioniert. Sie ist mehr als das. Jesus Christus hatte zwei Väter, und er ist meiner Meinung nach ein guter Typ geworden.

Das alles gehört nur bedingt zusammen, aber eben doch auf eine Art. Ich beobachte, dass wir in ein Denken zurückfallen, das so lange überholt ist, dass es schon wieder frisch wirken könnte. Ist es aber nicht: Bettina Wulff ist eine derart beeindruckende Frau (wenn ich an ihr Lächeln während seiner Rücktrittsrede denke, salutiere ich ihr in Gedanken), dass es schon total egal sein müsste, was auch immer sie mit 18 oder 28 gemacht hat – wenn sie hätte, was sie nicht hat. Und wenn wir es verwerflich finden, dass Frauen und Männer anderen sexuelle Dienstleistungen verkaufen, dann sollen wir bitte alle damit aufhören, solche in Anspruch zu nehmen, und nicht diejenigen verurteilen, die offensichtlich vorhandene Bedürfnisse befriedigen.

Wir glauben an die Liebe, sogar an die besondere, die eine, die zur Ehe wird. Meine erste Bitte wäre, dass selbst CDU-Mitglieder auch dann daran glauben, wenn eine Frau daran beteiligt ist, die geil ist. Ich versuche ja, mich in diese Welt hineinzudenken. Und klar der Christian war einer von euch Politik-Nerds, und er hat entgegen aller Regeln und Wahrscheinlichkeiten eine Bombe abgekriegt. Da kann man schonmal misstrauisch werden. Aber deshalb gleich Gerüchte streuen? Ich würde sagen: Behaltet das in Zukunft für euch, Ihr verklemmten Wichser.

Wir haben eine Übereinkunft: Das Sexualleben eines Menschen geht niemanden etwas an, so lange erwachsene Menschen freiwillig miteinander umgehen. „Das geht niemanden etwas an“ bedeutet nicht, dass wir nicht darüber reden können. Wahrscheinlich reden wir viel zu selten darüber, so selten, dass Bundespräsidenten schon von Haus aus wirken müssen, als würden sie sich nicht gerne das Gehirn rausvögeln lassen. Und wenn wir nicht jungen Heteropaaren vorschreiben wollen, dass sie zumindest einen Kinderwunsch haben müssen, um heiraten zu können, hat sich das Argument der „Keimzelle der Familie“ zur Ablehnung der Homo-Ehe aus meiner Sicht erledigt. Es ist einfach nicht mehr wahr: Familien entstehen dauernd und überall. Es werden Kinder nach besoffenen One-Night-Stands geboren, ohne dass wir diese Form des Sexualkontakts deshalb als Keimzelle von irgendwas unter einen besonderen Schutz des Grundgesetzes stellen müssten oder wollten.

Ehe und Familie sind nicht das gleiche, wie es die Rechtsprechung in Deutschland immer noch impliziert und wie es konservative Politiker explizit behaupten. Ich finde meine Töchter ganz toll und möchte nicht ohne sie sein, aber sie sind nicht der Grund, warum ich meine Frau geheiratet habe. Der Grund, warum ich meine Frau geheiratet habe, ist meine Frau. Und ich kann nicht erkennen, warum eine lesbische Frau nicht denselben Grund haben sollte, ihre Frau zu heiraten. Ich bin nicht besser als sie. Und jedem, der gegen die Homo-Ehe mit „der Familie“ argumentiert möchte ich sagen: nicht mit meiner. Wir fühlen uns kein bisschen schlechter geschützt nur deshalb, weil anderer Leute Liebe vor dem Gesetz genau so viel Wert ist wie unsere.

Fakten, Fakten, Fakten … oder wie heißen diese Stimmen in meinem Kopf?

Vergangene Woche legte die irische Zentralbank eine Studie vor zu den Sparprogrammen der europäischen Krisenstaaten. Es ist in jeden Fall eine gewaltige Fleißarbeit gewesen, sich durch die Papiere so vieler Länder zu wühlen, tatsächlich Umgesetztes von vorerst nur Angekündigtem zu trennen und das ganze in eine lesbare Form zu bringen. Und eine Aussage lässt sich sehr einfach daraus ableiten: Niemand spart so viel wie Griechenland.

Das ist eine Nachricht, die vielleicht nicht so richtig zu dem Strom an Geschichten passt, die Athen in den vergangenen Jahren und Monaten „mangelnden Sparwillen“ unterstellt haben, aber es ist doch eine Nachricht, die den normalen deutschen Steuerzahler ein bisschen beruhigen könnte. Eigentlich eine gute Nachricht, auch wenn es traurig ist, dass sie überhaupt für jemanden neu ist. Man hätte es wissen können. Aber hier kommt die knifflige Frage: Woher sollen die Leute das wissen? Der Tenor in den Massenmedien war ja wirklich ein anderer. Wer hätte es ihnen sagen sollen?

Damit kommen wir zum Wirtschaftsressortleiter des Focus, Uli Dönch. Er schreibt unter anderem Kolumnen auf Focus Online, die wahrscheinlich von manchen Menschen als „launig“ umschrieben würden. Das heißt, die steile These ist ihm wichtig. Vor drei Wochen zum Beispiel schrieb er über Griechenland

Sie können nicht sparen – und wollen es auch gar nicht. Stattdessen geben die Griechen immer gern anderen die Schuld: Früher den USA, heute Deutschland, morgen vielleicht den Eskimos

Die Zahlen sind schlecht. Unfassbar schlecht. Und das, obwohl wir Rest-Europäer Griechenland mit gut 380 Milliarden Euro unterstützt haben. Es hat nichts genützt. Im Gegenteil: Der Verschwender-Staat wächst weiter, die korrupte Bürokratie wuchert wie nie – nur die ohnehin dürftige private Wirtschaft kollabiert.

Das ist ein Widerspruch: „Sie können und wollen nicht sparen“, sagt Dönch. „Die größten Sparer Europas – und das mindestens seit dem Zweiten Weltkrieg“, sagen die Zahlen. Und in der Beurteilung wirtschaftlicher Vorgänge besteht eine Einigkeit darin, dass die realen Zahlen wichtiger zu nehmen sind als das, was in Uli Dönchs Kopf vor sich geht. Aber das bedeutet in der Folge, Dönch kann entweder keine Zahlen lesen, oder er versucht es gar nicht erst. Ich sage es noch einmal: der Leiter des Wirtschaftsressorts des Focus seit zwölf Jahren.

In der Folge ist sein Text, der bei sauberer Recherche vielleicht einfach eine Polemik gewesen wäre, ein reines Hetzpamphlet. Er nutzt den billigsten Trick, den er finden kann, nämlich die Polemik eines griechischen Autoren gegen die griechische Motzmentalität (boah, meta, motzen gegen’s Motzen!) und konstruiert aus ihr den endgültigen Beweis: Wenn ein Grieche schon Griechenland kritisiert, muss das ja stimmen – findet lustigerweise ein Autor, der sonst Griechen gar nichts glaubt.

Die Hetze des Uli Dönch ist eine rassistisch konnotierte. Das, was er schreibt, wertet ganze Völker ab, soll demütigen und verächtlich machen. Es ist auch nicht das erste Mal, er ist auf einer Art Kriegspfad, möchte den Griechen am liebsten die Souveränität entziehen, sie aus dem Euro werfen gemeinsam mit den anderen „Euro-Schwächlingen“, den „unreifen Südländern“, den „heißen Kandidaten des Griechenland-Ähnlichkeits-Wettbewerbs“. Die Menschenverachtung seiner Sprache gehört für mich zum Ekelhaftesten, das ein deutsches Mainstream-Medium zu bieten hat.

Zum Glück steht es nur im Focus.

Ich muss Journalist sein, ich halte ja das Mikrofon

Nur theoretisch: Wozu wären Journalisten da, wenn sie Angela Merkel auf einer Auslandsreise nach Kanada begleiten? Sicher um zu berichten, was sie dort tut. Wie zum Beispiel die Agentur AP, die berichtet (zu lesen z.B. hier)

Sie halte das Vorgehen Kanadas, Haushaltsdisziplin zu wahren und nicht auf Pump zu leben „auch für das richtige Lösung in Europa“, sagte Merkel am Mittwoch in Ottawa bei einem Empfang des deutschen Botschafters. So müssten die Probleme in Europa angegangen werden.

Nun ist Kanadas ökonomischer Erfolg eindeutig. Auch durch die Krise ist das Land gut gekommen. Wenn man die Kanadier fragt, wie sie das gemacht haben, klingt das aber ein bisschen anders als bei Merkel. Zum Beispiel in der Vorstellung des aktuellen Staatshaushaltes:

The Government’s sound fiscal position prior to the crisis provided the flexibility to launch the stimulus phase of Canada’s Economic Action Plan, which was timely, targeted and temporary in order to have maximum impact. This plan was one of the strongest responses to the global recession among the Group of Seven (G-7) countries.

Denn tatsächlich hat Kanada erfolgreich – und aufgrund von vorhergehend sehr sorgsamer Haushaltsführung aus einer Position mit Haushaltsüberschüssen kommend – das stärkste Konjunkturpaket aller Industrienationen aufgelegt, nämlich in einer Größenordnung von 4 Prozent des BIP. Das ist klassisch keynesianische, antizyklische Wirtschaftspolitik, mithin das exakte Gegenteil von dem, was Merkel in Europa durchsetzt und per Fiskalpakt zum Gesetz gemacht hat. Kurz: Merkel lobt eine Politik als vorbildhaft, die sie selber – in den Worten eines englischen Diplomaten – „praktisch für illegal erklärt hat“.

Das könnte man mal erwähnen. Und AP ist keineswegs allein damit, einfach Merkel nachzubeten und Kanadas Politik damit als ein Beispiel des Gegenteils von dem zu verkaufen, was sie ist – in den meisten Medien wird mit diesem Tenor berichtet (als ein Beispiel: auf tagesschau.de klingt es ganz genau so). Eine kleine Einordnung Merkels falscher Behauptungen wäre dann vielleicht auch so etwas wie ein Hinweis darauf, warum man eigentlich heute noch Journalisten braucht.

Endspiel

In einem interessanten Interview mit den Tagesthemen erklärt Paul Krugman anschaulich das Dilemma der Politik, vor allem der deutschen.

Entweder wird Deutschland zustimmen müssen, alle Mittel zu ergreifen, um den Euro zu retten. Oder aber man lässt den Euro scheitern. Beide Szenarien sind unrealistisch, und doch wird eines von beiden eintreten.

Er beneide Merkel nicht um ihre Rolle. Dass das erste Szenario – „alle Mittel“ – unrealistisch ist, liegt in der deutschen Innenpolitik. Der deutschen Bevölkerung ist immer wieder versprochen worden, es gehe nur bis hierher und nicht weiter, es werde nicht mehr Geld benötigt und so weiter. In der üblich bizarren Krisenlogik ist das immer wieder ein Grund, warum die Rettungsmaßnahmen nicht reichen: Weil sie endlich sind, wird ihr Ende auch für möglich gehalten und eingepreist.

Ich glaube aber, es gibt einen dritte Möglichkeit, und sie wird seit einem knappen Jahr aktiv vorbereitet. Ich glaube, dass Griechenlands Ausscheiden aus dem Euro – der Grexit –, zwar als wirtschaftlich bedeutend teurere Variante erkannt aber als politische Notwendigkeit betrachtet wird. Merkel muss einen Schwenk zu wie auch immer benannten Euro-Bonds vollziehen, und das kann sie innenpolitisch nur überleben, wenn sie glaubhaft machen kann, wie nah Europa dem Abgrund ist. Das geht nur, wenn Spanien oder gar Italien offensichtlich zu fallen drohen. Und die Spekulation gegen diese Staaten erreicht man am dramatischsten mit dem Grexit (und dem dann wohl zwingend folgenden Ausscheiden Portugals). Um den Euro zu retten muss Merkel ihn sehr viel stärker aufs Spiel setzen. Ich finde diese Überlegungen riskant, finde es überflüssig und bedauerlich – weil es einfacher und viel effektiver gewesen wäre, der Bevölkerung von Anfang an die Wahrheit zum Beispiel über gemeinschaftliche Schulden zu sagen – aber verständlich. Es ist für mich darüber hinaus die einzige Erklärung dafür, dass in Griechenland, aber auch in Spanien, Programme durchgesetzt wurden, von denen jeder zu jeder Zeit wusste und auch gesagt hat, dass sie niemals ausreichen würden.

Anders als vor diesem Hintergrund sind für mich auch die unsäglichen Äußerungen des bayrischen Finanzministers Markus Söder im Gespräch in der BamS nicht zu verstehen.

Ich verteidige ja nicht nur „die Griechen“ in Deutschland, sondern immer wieder sowohl öffentlich als auch privat „die Deutschen“ in Griechenland. Ich tue beides gleich ungern, weil es regelmäßig dazu führt, dass ich Politiker verteidigen muss, deren Politik ich für falsch halte. Aber das ändert ja zum Beispiel nichts daran, dass Wolfgang Schäuble natürlich ein überzeugter Europäer und Demokrat ist, selbst wenn er sich manchmal wünscht, in Griechenland würde zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade keine Wahl anstehen. Wie dem auch sei.

An Athen muss ein Exempel statuiert werden, dass diese Eurozone auch Zähne zeigen kann.

Selbst ein provinziell veranlagter Politiker im Landtagswahlkampf weiß, was er damit provoziert. Die Terminologie ist völlig überflüssig, und sie wird in Griechenland natürlich die erwünschte Reaktion hervorrufen: Den Hinweis auf die Namen der Orte, an denen zuletzt Deutsche Exempel statuiert haben. Söder will das offensichtlich. Ich glaube nicht, dass man dazu etwas sagen muss.

Lehnt dpa die Realität eigentlich ab, oder hält sie sie nur für nicht notwendig?

Es ist nicht, was ich im Innern bin, was mich definiert – sondern das, was ich tue.

Batman

Die Deutsche Presse-Agentur dpa ist eine Art offizielle Institution in der Art, wie auch die Tagesschau eine Institution ist: an Glaubwürdigkeit gemeinhin nicht zu überbieten. Sie ist so etwas wie die Sparkasse unter den Produzenten journalistischer Inhalte: wenig funky – man erwartet dort keine Texte mit literarischem Anspruch –, aber grundsolide in der Recherche und genau in der Umsetzung. Die dpa ist die Art Agentur, auf deren Informationen sich deutsche Diplomaten im Ausland verlassen. Offenbar ist das keine so gute Idee, wie ich bisher gedacht hätte. Denn die dpa macht nicht nur Fehler (wie jeder andere auch), sie macht Fehler an politisch entscheidenden Stellen: da, wo sie der offiziellen politischen Propaganda gut in den Kram passen.

In der vergangenen Woche berichtete die dpa über das Gutachten einer Gruppe von 17 prominenten internationalen Ökonomen (darunter aktuelle und ehemalige deutsche „Wirtschaftsweise“), die vor den extremen Gefahren der aktuellen Euro-Krise in starken Worten warnten und Lösungsvorschläge präsentierten. Tatsächlich übernahmen praktisch alle Medien den dpa-Bericht (zum Beispiel sowohl bild.de als auch faz.net, was als Kombination ohnehin schon verstörend ist). Zunächst las offenbar kein Journalist außerhalb der dpa den Bericht dieser „Euro Task Force“ des Institute for New Economic Thinking (INET) tatsächlich durch, was einigermaßen fatal ist, denn der dpa-Bericht enthielt einen Fehler an einer entscheidenden Stelle:

Eine langfristige Transferunion lehnen sie […] ebenso ab wie Eurobonds.

Dieser Satz ist selbst für einen Amateur wie mich hier überraschend, wenn man sich auch nur eine Sekunde lang mit der Zusammensetzung der Gruppe beschäftigt. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger ist ein Mitglied, der schon lange vertritt, dass Eurobonds notwendig sind. Patrick Artus sitzt der Kommission vor, der seit Monaten wenn nicht Jahren erklärt, eine Transferunion sei völlig unausweichlich und eine gemeinsame Haftung durch das Target-System längst Realität. Und wenn man den Text dann liest stellt man fest, dass das Gegenteil dessen, was dpa behauptet, darin steht: Eine kurzfristige Vergemeinschaftung der Schulden wird als schnelle Maßnahme ausdrücklich gefordert, auch Werkzeuge, die man durchaus als Eurobonds bezeichnen könnte, einzig die langfristige Einführung solcher Bonds halten in der Gruppe offenbar nicht alle für zwingend, deshalb hat man sich auf die Formulierung geeinigt, Eurobands seien „nicht notwendig“. Ablehnung ist etwas völlig anderes.

Das ist ein schwerer Fehler. Stefan Niggemeier hat ihn für den Bildblog nachrecherchiert und dokumentiert, die dpa erklärt er basiere auf ihrer „Interpretation“ des Textes – was bizarr ist. Der Text ist eindeutig (und Peter Bofinger hat ihn dem Bildblog noch einmal bestätigt). Interessant ist, dass erstens die FAZ den Fehler am nächsten Tag in einem von einem Wirtschaftsredakteur gezeichneten Artikel wiederholt – und dann auch noch die Bundesregierung in ihrer Reaktion auf die Forderungen der Euro-Task-Force anmerkt, wenigstens sei man sich bei den Eurobonds einig. Die Fehler der dpa pflanzen sich fort, und zwar in einer Weise, die nicht einfach der Bundesregierung nützt, sondern auch ihre längst von den Realitäten entkoppelte Ideologie unterstützt. Und damit kommen wir endlich zurück zu Batman. Zumindest gleich.

Die Frage ist: Kann es sein, dass hier ein dpa-Mitarbeiter einfach nur einen Fehler gemacht hat? Das ist schwer vorstellbar. Dafür ist der Text der Task Force zu eindeutig, dafür sind auch die Positionen zumindest einiger ihrer Mitglieder zu bekannt. Und dpa selbst nennt ihre Berichterstattung eine „Interpretation“ – warum auch immer die Information, jemand halte etwas für „nicht notwendig“ interpretiert werden müsste. Es wirkt natürlich schräg, dass ein Wirtschaftsredakteur der FAZ noch einen Artikel über die Empfehlungen der Task Force schreibt, ohne ihn zu lesen, aber ich habe ja schon beschrieben, welche Glaubwürdigkeit dpa-Meldungen normalerweise haben. Natürlich muss gerade einem Wirtschaftsredakteur auffallen, was da passiert, aber das Versagen ist zumindest mit Faulheit oder Zeitmangel erklärbar. Und dass unsere Bundesregierung Stellung nimmt zu Texten, die sie nicht gelesen hat, ist … vielleicht Absicht? Immerhin sieht sich die Bundesregierung so in einem Kernstück ihrer Wirtschaftspolitik bestätigt, das sich ansonsten ausschließlich auf Ideologie gründet.

An welche Mittel Menschen wirklich glauben sieht man daran, worauf sie setzen, wenn es für sie eng wird. Das ist so beim ewigen Kampf zwischen Schulmedizin und Homöopathie, aber eben auch bei pro- oder antizyklischer Wirtschaftspolitik. Die deutsche Bundesregierung hat (in der großen Koalition) unter Merkel eindeutig antizyklisch auf die Wirtschaftskrise reagiert (z.B. mit zwei Konjunkturpaketen, Kurzarbeitergeld und der Abwrackprämie), also „auf Pump“ die Nachfrage belebt. Das hat gut funktioniert. Jetzt verlangt sie im Brustton der Überzeugung von allen anderen in Europa das Gegenteil, nämlich im Abschwung zu Sparen. Das hat, für jeden offensichtlich, nicht funktioniert. Nirgendwo. Es treibt ganze Völker ins Elend. Es gibt keinen aufgrund von Zahlen und Fakten argumentierbaren Grund mehr, an diesem Weg festzuhalten – aber eben eine nicht auf Tatsachen basierende Überzeugung, eine Ideologie. Sie wird gern mit intuitiv verständlichen Phrasen erklärt wie „Schulden kann man nicht mit Schulden bekämpfen“ und „wenn der Staat Schulden macht ist das unsozial, weil es die Probleme der Gegenwart auf zukünftige Generation abwälzt“. Beides ist Blödsinn, aber es klingt vernünftig, wenn man fälschlicherweise versucht, die Erfahrungen eines Privathaushaltes mit denen eines Staatshaushaltes zu vergleichen (was Wähler offenbar oft genug tun). Die prozyklische Wirtschaftspolitik, verbunden mit der neoliberalen Ideologie des „schlanken“ Staates, nützt vor allem denen, die den Staat nicht brauchen, weil sie sich besseres leisten können. Auftritt FDP.

Im Zuge der Neoliberalisierung der deutschen Politik ist es den daran interessierten Kreisen in beeindruckender Art und Weise gelungen, falsche Vorstellungen zu vermeintlichem Allgemeinwissen werden zu lassen. Dazu gehört nicht zuletzt, dass Eurobonds schlecht für Deutschland wären, weil sie Deutschland überfordern würden. Die Wahrheit ist genau anders: Ein Zusammenbrechen des Euroraumes würde Deutschland überfordern, wie es durch das momentane System mit nationalstaatlichen Anleihen sehr viel wahrscheinlicher ist, weil einzelne Staaten mörderisch Zinsen zahlen müssen und so zahlungsunfähig werden könnten. Die einzigen, denen das momentane System nützt, sind diejenigen, die die hohen Zinsen erhalten: Banken und diejenigen, denen sie gehören (und denen seit Jahren von den Steuerzahlern regelmäßig der Arsch gerettet wird).

All das den Wählern zu erklären nimmt sich selbst bei SPD und Grünen schon gar kein Politiker mehr vor. Auch dort haben sie vor der vermeintlichen Dummheit der Wähler kapituliert. Anstatt mit echten Informationen um Vertrauen zu werben, anstatt mit echten Lösungen den Euroraum wieder in die starke Stellung zu bringen, die ihm zusteht (ein Euroraum mit gemeinschaftlichen Schulden hätte nach Aussage der Ratingagenturen selbstverständlich ein AAA-Rating und keinerlei Probleme, seine Schulden zu finanzieren, die dann überschaubare 87 Prozent des BIP ausmachen würden). Stattdessen wird argumentativ in einem virtuellen Raum agiert, in dem die Logik der viel zitierten „schwäbischen Hausfrau“ zu Naturgesetzen mutiert ist. Selbst die dpa „interpretiert“ Informationen dabei so, dass sie passen. Die Euro-Krise ist eine Art Ego-Shooter für Politiker geworden, eine eigene Realität. In der echten Realität verdienen derweil Banken weiter Geld mit Geschäften, deren Risiko der Steuerzahler trägt.

Die Frage ist: Ist das Absicht? Auf Seiten der Bundesregierung ganz sicher. Es ist nicht so, dass sie keine soziale Ader hätte: Sie dient immerhin als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für eine Reihe von Menschen, die ansonsten schwer vermittelbar wären. Philipp Rösler ist ja nicht einfach nur nicht ministrabel, um von Dirk Niebel und Rainer Brüderle mal gar nicht erst anzufangen. Das Beste, was man über Guido Westerwelle sagen kann ist, dass man wenig von ihm hört. Ironischerweise ist es diese FDP, die in der möglicherweise letzten Legislaturperiode ihres Bestehens den Schwenk von der antizyklischen, handelnden Bundesregierung in der Großen Koalition zur paralysierten aber mit dem Mund prozyklischen Traumkoalition begründet hat. Es ist jene Fraktion, der die Bundeskanzlerin in einem besonders bizarren Moment versprochen hat, es gäbe keine gemeinsamen europäischen Anleihen „so lange sie (Angela Merkel) lebe“. Da wäre es ein Geschenk, wenn tatsächlich eine derart prominent besetzte Riege wie die der INET ihren Kurs unterstützen würde, der so offensichtlich bisher nicht greift. Da ist es sogar verständlich, wenn sich die Bundesregierung in ihrer Antwort eher auf die erkennbar falsche dpa-Berichterstattung stützt als auf den Text selbst. Es bleibt unethisch, aber verständlich ist es schon. Bleibt die Frage, warum dpa „interpretiert“ anstatt einfach zu berichten.

Es will mir kein einfacher Grund einfallen. Auch bei mehrmaligem Lesen ist es unmöglich, den Originaltext der INET-Task Force falsch zu verstehen – ganz besonders für jemanden, der das, anders als ich, hauptberuflich macht und wahrscheinlich noch viel mehr mit den Positionen der Unterzeichner vertraut ist. Man muss ihn schon unbedingt falsch verstehen wollen. Und dafür fallen mir wiederum nur zwei mögliche Gründe ein: Entweder man ist so gehirngewaschen, dass man widersprechende Positionen nicht mehr bemerkt – was für einen Journalisten hieße, er wäre berufsunfähig. Oder man will jemandem einen Gefallen tun. Dann gilt das mit der Berufsunfähigkeit umso mehr.

Ich weiß, das sind viele Buchstaben für ein vermeintlich kleines Beispiel. Aber es ist nicht klein. Es zeigt, wie Europa von Regierungen an die Wand gefahren wird, die ihre falschen Vorstellungen von der Welt mit falschen „Fakten“ untermauern, assistiert von unfähigen oder willfährigen Journalisten, und sich mit ihren Erklärungen inzwischen so weit von der Realität entfernt haben, dass sie in einer virtuellen Welt agieren müssen, damit ihr Handeln noch irgendeinen Sinn ergibt.

Man ist, sagt Batman, was man tut. Die Vorgängerregierung hatte unter derselben Kanzlerin für Deutschland einen vernünftigen Weg gefunden. Seitdem redet sie aber (in einer anderen Koalition) überzeugt vom Gegenteil, selbst wenn sie dabei wie in diesem Beispiel die Wahrheit um 180 Grad drehen muss – und tut ansonsten am liebsten gar nichts.

In dieser Euro-Krise ist unfassbar viel falsch berichtet worden. Immer wieder argumentieren selbst Minister oder die Bundeskanzlerin öffentlich mit falschen Zahlen – um nicht zu sagen: auf der Grundlage von Vorurteilen. Und suchen Schuldige, wenn sich die Realität nicht ihren Vorurteilen fügt.

Wo ist dieser Batman, wenn man ihn mal braucht?