Die will das doch!

Ich weiß nicht, ob Angela Merkel John Lennon mag. In jedem Fall hat sie einiges mit ihm gemeinsam. In einem Interview (in diesem Youtube-Video etwa ab Minute 2:20) erklärt er seine Strategie, die angeblich auf einem alten chinesischen Buch über Kriegführung basiert*.

Der Krieg wird immer innerhalb der Burg verloren […]. Deshalb schließt man nie alle Tore. Man lässt ein Tor offen. So weiß man, wo der Feind hereinkommt – und kriegt ihn dort.

Lennon erklärt so seine Taktiken wie „lange Haare, Genitalien“ und ähnliches Zeug. Gib dem Feind einen Punkt zum angreifen und mach in der Zwischenzeit weiter mit dem, was wirklich wichtig ist.

Ich glaube, man kann mit der gleichen Taktik erklären, warum Joachim Gauck unser Bundespräsident wird. Es ist pure und (leider) brillante Taktik der Kanzlerin.

Die FDP habe Merkel erpresst und Joachim Gauck als Nun-doch-noch-Bundespräsident wäre die erste große Niederlage von Angela Merkel, ihre „größte Schmach“ gar – so in etwa liest sich die Presse zum Thema des Tages. Ich möchte dem respektvoll widersprechen.

Angela Merkel muss seit Wochen gewusst haben, spätestens seit der unseligen Mailbox-Affäre, dass ein Rücktritt Christian Wulffs möglich oder gar wahrscheinlich ist. Es wäre bizarr anzunehmen, sie hätte nie einen Gedanken daran verschwendet, dass sie danach einen neuen Kandidaten braucht.

Wenn wir uns das Ergebnis ansehen, stellen wir fest: Das Kandidatenproblem ist schnell abgeräumt worden. Es ist zur Zufriedenheit einer übergroßen Mehrheit im Land gelöst. Und es wirkt, als hätte die FDP sich zum ersten Mal seit Jahren in einem Punkt durchgesetzt, bei dem sie den größten Teil der Bevölkerung hinter sich hat. Alles das zum Preis einer Entscheidung, bei der Merkel sich nur vorwerfen lassen muss, sie wäre spät „zur Vernunft gekommen“, sie hätte erst später als andere erkannt, was richtig ist – also genau das, was sie am Beispiel Atom und am Beispiel Mindestlohn durchexerziert hat, ohne dass es ihren Popularitätswerten irgendwie geschadet hätte. Es hat ihr, im Gegenteil, wahrscheinlich eher genutzt, dass sie nicht als beratungsresistent gelten kann.

Und ich soll tatsächlich glauben, sie hätte das nicht so geplant? Pah! Sie hat einen Präsidenten, der ihrem Lager in Wahrheit näher steht als dem rot-grünen. Sie hat der FDP ein politisches Konjunkturpaket geschenkt, denn es sind noch zwei Jahre hin bis zur Wahl, also noch viel zu früh um diese Partei endgültig abzuschreiben – selbst wenn im Moment weder ein Weg noch das Personal erkennbar sind, mit dem diese sich berappen soll. Und Merkel wird am Ende wahrgenommen werden als eine, die sich nicht aus egoistischen Gründen der vernünftigen Lösung in den Weg gestellt hat. Sie hat ein Tor geöffnet für Häme, aber sie hat die Lage trotzdem unter Kontrolle behalten. Das war nicht selbstverständlich nach dem Wulff-Debakel.

*Ich war mir sicher, es ist „Die Kunst des Krieges“ von Sun Tzu, aber ich finde das Zitat da nicht. Vielleicht hat Lennon es auch einfach erfunden.

SPIEGEL-ONLINE stellt Griechen Katastrophen-Überschrift aus

Die so genannte Troika scheint – als letzte, aber immerhin – zu bemerken, dass ihr Programm für Griechenland nicht funktioniert – also das festzustellen, was außer ihr längst alle wissen (als Beispiel ein Wirtschaftsweiser vor mehr als einem halben Jahr). Das steht nun auch im Bericht des IWF: Mit diesen Programmen sind die „Sparziele“ nicht zu erreichen, weil sie zum Beispiel die Konjunktur völlig falsch prognostiziert haben (-5,5% statt real -12%).

Unter welcher Überschrift schreibt man das zusammen, wenn man möchte, dass die Schuld am Verfehlen der Sparziele als „mangelnder Sparwille“ der irgendwie schülerhaft verantwortungslosen Griechen missverstanden wird, SPIEGEL ONLINE? Genau!

Troika stellt Griechen Katastrophen-Zeugnis aus

Dabei stellt die Troika dabei sich selbst ein Katastrophen-Zeugnis aus.

Ich krieg die (Rechnung für die) Krise

Im Prinzip ist die Vorstellung nur folgerichtig, dass Griechenland unter die Aufsicht verantwortungsbewussterer Völker gestellt werden sollte – jedenfalls dann, wenn man die Berichterstattung zum Thema glauben wollte. Und Angela Merkel hat sich sehenden Auges in die Situation gebracht, dass sie ihrem Wahlvolk eine Politik verkaufen muss, die mit der Realität wenig gemein hat, weil sie bis heute die Aufgabe scheut, die Probleme der Euro-Zone richtig zu erklären. Das hat absurde Folgen: Weil die wahren Hintergründe – die Konstruktionsfehler des Euro – nicht erklärt wurden, kann die wahre Krise auch nicht bekämpft werden, und gleichzeitig müssen die Staatschefs, die sich zu immer neuen Gipfeln treffen, jedesmal vorspielen, sie glaubten tatsächlich an die erreichten Kompromisse, bis sie ein paar Tage später wieder zerrieben sind.

Dabei sprechen die Fachleute die Wahrheit ganz gelassen aus. In der FAZ antwortet der Chefvolkswirt von Goldman Sachs Jan Hatzius trocken auf die Frage:

Was haben wir aus Ihrer Sicht für eine Krise?

Eine der Zahlungsbilanz, die wesentlich aus dem Aufbau privater Schulden resultierte und die über private Kapitalzuflüsse in die Euro-Peripherie finanziert wurde.

Denn das ist der Kern. In einer Währungsunion mit großen Produktivitätsunterschieden, wo beispielsweise Deutschland bei 125 des Mittelwertes liegt und Griechenland bei 85 Prozent – und das sind noch nicht einmal die extremsten Werte nach oben und unten – verschieben sich die Leistungsbilanzen. Das Geld, das aus den weniger produktiven ab- und in die produktiveren fließt muss irgendwo hin, und wie wir wissen ist es zum Beispiel in Deutschland nicht in Löhne geflossen, sondern als Investition wieder zurück in die europäische Peripherie – in Immobilien in Spanien oder in griechische Staatsanleihen. In Finanzprodukte. Hans-Werner Sinn, der mich so sehr nervt, dass ich gerade keine Lust habe das genaue Zitat rauszusuchen, nennt das sinngemäß „Porsche Cayenne gegen Schuldverschreibungen verkaufen“ – und es funktioniert nur, weil die Institute, die all diese „Finanzprodukte“ verkaufen, das Risiko auf die Steuerzahler abwälzen. Die Arbeitnehmer bezahlen, wenn etwas schiefgeht, im Moment in Spanien, Griechenland, Irland und Portugal, aber spätestens mit der unausweichlichen griechischen Umschuldung auch in Deutschland. Die Politik baut Rettungspakete für die Banken, während die griechischen Staatsschulden trotz aller so genannten „Hilfen“ nur weiter steigen. Wenn diese Krise durch Staatsverschuldung ausgelöst wäre, müsste Spanien besser dastehen als Deutschland, weil der spanische Staat besser gewirtschaftet hat als der deutsche. Aber darum geht es eben nicht. Deshalb ist die Krise auch durch Konsolidierung nicht zu lösen (unbenommen der Tatsache, dass im griechischen Staatswesen sehr viel schief gelaufen ist und noch läuft, aber das ist eben ein anderes Problem).

Die bizarre Leistung der Kanzlerin ist, dass sie es geschafft hat zu verschweigen, dass die Grenzen dabei nicht zwischen Ländern verlaufen, wie es in der Diskussion um „die Griechen“ (aber letztlich genauso um Spanien und Italien) glauben macht. Sie verlaufen zwischen oben und unten, zwischen Zinszahlern und Zinsempfängern – und die Nationalstaaten samt ihrer Regierungen sind vor allem willfährige Helfer beim Sichern der Gewinne.

An der Fehlkonstruktion des Euro ändert all das nichts. Kein Rettungspaket macht auch nur kleine Schritte in die richtige Richtung. Aber um die Illusion aufrecht zu erhalten, werden Sparpakete installiert, die dazu führen, dass mitten in Europa Menschen ohne Heizung der Winterkälte trotzen müssen, weil das Heizöl so teuer geworden ist. Es ist eine Schande. Und ein „Sparkommissar“ ist das letzte, was es in dieser Situation noch braucht.

Reconstructing Heveling

Es ist wirklich schwierig zu entscheiden, welcher Abschnitt des irrenfulminanten Textes des CDU-Bundestagsabgeordneten Ansgar Heveling im Handelsblatt zu Geistigem Eigentum Urheberrecht Irgendwas mit Internet am schönsten ist. Aber ich entscheide mich für das hier:

Welche Hybris! Lasst euch gesagt sein: Das Wissen und vor allem die Weisheit der Welt liegen immer noch in den Köpfen der Menschen. Also, Bürger, geht auf die Barrikaden und zitiert Goethe, die Bibel oder auch Marx. Am besten aus einem gebundenen Buch!

Ich liebe zunächst das Aufgeregte. Der Autor ruft, er klagt, er prangert an! Er wechselt außerdem mittendrin den Empfänger seiner Botschaft, von „den Googles und Wikimedias“ zu den Bürgern. Also, dem Bürger, woran mir besonders gefällt, dass „der Bürger“ in der Einzahl abgegrenzt wird von „den Köpfen der Menschen“ in der Mehrzahl, die voller Weisheit sind, was folgerichtig dazu führt, dass der Bürger offensichtlich die Weisheit nicht im Kopf hat sondern aus einem Buch zitieren muss, eigentlich sogar scheißegal welchem, so lange es gebunden ist und nicht aus dem Kindle-Store.

Aber wenn man diese Barrikade fände, könnte man dann nicht vielleicht auch aus dem Handelsblatt zitieren?

Kai Diekmann beschimpfen

Den Impuls, den Chefredakteur der Bild-Zeitung telefonisch zu beschimpfen kann man schwerlich jemandem übelnehmen. Und grundsätzlich müssen Journalisten bereit sein, Kritik an ihrer Arbeit zu ertragen, selbst wenn sie nicht ganz sachlich vorgetragen wird – und sei es nur deswegen, weil Journalisten auch davon leben, selbst Kritik in allen möglichen Formen vorzutragen. Dass allerdings der Bundespräsident auf die Idee kommt, einem Journalisten zu drohen, gleich die Verbindungen zu dem gesamten Verlag abzubrechen, ist in einer Größenordnung dämlich, die an seiner Eignung zweifeln lässt. Hat er wirklich geglaubt, das käme niemals heraus? Selbst wenn Diekmann es nicht so herumerzählt hätte, dass es nun in allen Zeitungen steht (und ich gehe davon aus, dass anders eine Nachricht auf seiner Mailbox nicht öffentlich werden konnte, oder ist das naiv, Rupert Murdoch?), hätte sich doch mit Sicherheit zumindest in der Branche herumgesprochen, was für ein schlechtes Gewissen Wulff in Bezug auf seinen Hauskredit offensichtlich hat. Vielleicht ist Erpressbarkeit ein zu großes Wort für den Zustand, der dann eingetreten wäre, aber wäre es diesem Bundespräsidenten tatsächlich lieber gewesen, ausschließlich ein paar ausgewählte Bild-Mitarbeiter wüssten um diese Schwachstelle in seiner Kreditbiografie? Das macht mir noch mehr Angst als die kleinen, streng riechenden Details die da Tag um Tag ans Licht kommen.

Nach Helmut Schmidt zählen sich auch Journalisten zur Politischen Klasse, und Wulff mochte offenbar genug darauf vertrauen, dass die kleinen Sauereien innerhalb dieser Klasse möglicherweise zur Verhandlungsmasse werden können, wenn man darüber redet, wie „ein Krieg ablaufen soll“, dass sie aber trotzdem dem gemeinen Volk gegenüber geheim bleiben können. Angesichts der langen, erfolgreichen Karriere, die Wulff als Politiker gemacht hat, dürfte er da aus Erfahrung sprechen. Und wenn dem so ist muss die Frage erlaubt sein, wie denn aus dieser Klasse überhaupt ein Bundespräsident hervorgehen will, dem die Bevölkerung dann geradezu naives Vertrauen entgegenbringen soll.

Der Schritt von Wulff, Journalisten einen Deal anzubieten (nämlich den, weiter mit ihnen zusammenzuarbeiten, wenn sie eine Geschichte unterdrücken) ist nur ein weiterer Tropfen Gift in diesem Endlager voller strahlender Fässer. Aber wenn der oberste Repräsentant unseres Staatswesens in seiner für politische Positionen einzigartigen Unangreifbarkeit nicht in der Lage ist, seine Taten seinen wohlklingenden Reden anzupassen, welcher Politiker soll es dann sein?

Allerdings nähme ich das alles hier zurück, wenn sich herausstellte, dass Christian Wulff seit Jahren jeden Tag Kai Diekmann am Telefon wegen praktisch aller Bild-Geschichten beschimpft, und es nur zufällig an diesem einen Tag einmal um seine eigene ging. Es ist ja auch nicht alles juristisch rechtens, was richtig ist.

Der Fall Köhler

Es ist sicher eine interessante Zeit, um Horst Köhler zu sein: Sein Nachfolger als Bundespräsident ist wegen seiner Kleingeistigkeit unter Beschuss, die es ihm offensichtlich nicht erlaubt hat, zu gegebener Zeit dazu zu stehen, dass er sich nach seiner Scheidung aus eigener Kraft kein Walmdachhaus leisten konnte. Und sein, Köhlers, eigener Rücktrittsgrund erhält plötzlich neue Aktualität dadurch, dass die von ihm in einem Nebensatz geäußerte und danach heftig kritisierte Feststellung, die Bundeswehr müsse gegebenenfalls auch ökonomische Interessen Deutschlands verteidigen, möglicherweise dem Realitätscheck unterzogen wird. Denn sollte der Iran tatsächlich die Straße von Hormus für den Schiffsverkehr schließen, können wir uns nur noch entscheiden zwischen der Möglichkeit, unseren Ölverbrauch schlagartig so weit zu senken, dass weite Teile der Wirtschaft zusammenbrechen, oder eben mit Waffengewalt (der Bundeswehr oder stellvertretend anderer Armeen) den Handelsweg freizuschießen, was exakt das Szenario ist, auf das Köhler damals hingewiesen hat – und für dass er als Verfassungsbrecher und Möchtegern-Imperialist angegriffen wurde.

Köhler hat recht behalten. Sein Rücktritt war trotzdem falsch. Aber das wird er sich angesichts seines Nachfolgers wohl selbst am meisten vorwerfen.

Teuer

Bild.de zitiert heute den deutschen EU-Task-Force-Leiter Horst Reichenbach (am Ende eines gewohnt einseitigen Artikels, in dem ein Verbrecher zum „Sinnbild der Krise“ erklärt wird – quasi als anekdotische Evidenz dafür, dass Bild alles mit anekdotischer Evidenz belegt):

Die Rettungsversuche für Griechenland kamen nach Reichenbachs Aussagen zu zögerlich: „Aus heutiger Sicht ist klar, dass die Hilfe nicht so massiv und schnell bereitgestellt wurde, wie es vielleicht objektiv notwendig gewesen wäre.“ Die Fehler seien fehlender Erfahrung geschuldet: „Für diese Situation hatte ja niemand ein Patentrezept in der Tasche.“ Nun rächten sich die Fehler mit höheren Kosten: „Spätes Handeln ist kostspieliger als frühes Handeln“, sagte Reichenbach. “

Reichenbach hat sicher recht, nur dass mit dem fehlenden Patentrezept stimmt so nicht. Eine Stimme wusste ja schon im März des letzten Jahres, was zu tun ist – und hat damit die deutsche Politik so lange vor sich hergetrieben, bis die Katastrophe um ein Vielfaches größer war als nötig.

Ronzheimer

Man muss aufpassen, dass man nicht anfängt, sich sinnlos über Dinge aufzuregen, die es nicht wert sind. Paul Ronzheimer ist es aus meiner Sicht erstens nicht wert, und zweitens kann ich zu dem Nachwuchs-Reporter der Bild ohnehin wenig beitragen, das Lukas Heinser nicht längst treffender geschrieben hat.

Aber amüsieren darf man sich: Heute schreibt Ronzheimer über den Zuspruch, den er – also Bild – erhalten hat, nachdem er in einer griechischen Talkshow aufgetreten ist.

Natürlich basiert das auf einem Trick. In der Talk-Show hat Ronzheimer getan, was er sonst nicht tut: Er hat unterschieden zwischen der griechischen Bevölkerung und der griechischen Politik – und dass es in Griechenland Applaus für Kritik an der Regierung gibt dürfte nicht überraschen. Die Dreistigkeit Ronzheimers und der Bild, das als grundsätzliche Zustimmung der „Pleite-Griechen“ zur Bild-Berichterstattung zu erklären, überrascht allerdings auch nicht.

Michael Spreng, ehemaliger Chefredakteur der BamS, benannte die Bild-Kampagne gegen Griechenland schon früh als an der Grenze zur Volksverhetzung. Ich stimme dem zu, bin mir allerdings nicht sicher, auf welcher Seite der Grenze dort agiert wurde.

Dass Ronzheimer sich ins griechische Fernsehen setzt und (das ist sogar in dem Video-Beitrag bei bild.de zu sehen und zu hören) behauptet, die Wahrnehmung von Griechen durch Deutsche hätte sich durch die Bild-Berichterstattung nicht geändert, zeigt nicht nur, dass er ein für einen Journalisten disqualifizierendes Desinteresse an der Realität hat. Es zeigt auch, dass er der Bild nicht zutraut, mit den von ihm selbst verfassten Artikeln (nehmen wir einfach mal dieses Beispiel, es gäbe unzählige) irgendeinen Einfluss zu haben. Und es zeigt, dass er selbst Bild nicht liest, denn die Leser reagieren recht offensiv auf die Hetze.

Vielleicht ist das das einzig Gute, was man über ihn sagen kann: Wenigstens liest er die Bild nicht. Aber viel ist auch das nicht.

Bleibt alles anders

Nun ist das Referendum wieder abgesagt. Es waren ziemlich irre Tage in Athen, und ich habe ja meine persönliche Präferenz ziemlich deutlich gemacht: Ich hätte es richtig, wichtig und gut gefunden, wenn endlich die einmal hätten abstimmen dürfen, die die Last tatsächlich tragen. Denn bisher haben unter anderem wir deutschen Steuerzahler zwar großzügig gebürgt und geliehen, tatsächlich bezahlt haben aber bis zu diesem Moment nur die griechischen Arbeitnehmer – darunter auch hunderte Millionen Euro an Deutschland –, und das bitterlich. Die Bevölkerung verarmt, während es den Reichen, den Banken und jenen in der politischen Elite, die das Chaos angerichtet haben, nicht wirklich schlechter geht.

Verblüffend bei dieser an Verblüffungen reichen Woche bleibt allerdings das Ergebnis: Offenbar wird es in Athen eine Regierung der nationalen Einheit geben, die das Rettungspaket ratifizieren und dann Neuwahlen ausrichten wird. Während vor einer Woche noch ein Ministerpräsident mit einer wackligen, dünnen Mehrheit einer vollständig und schändlich blockierenden Opposition gegenüberstand und das Volk vor dem Parlament demonstrierte, ist das Land plötzlich tatsächlich einen Schritt weiter in Richtung Neuanfang. Papandreou hat einen Gordischen Knoten durchschlagen – und wenn er dieses Ergebnis vorausgesehen hat, dann ist er das größte politische Talent der Gegenwart. Ich kann mir das ehrlich gesagt nicht vorstellen, ich glaube eher, dass er in einem Moment tiefer Verzweiflung die entscheidende Auseinandersetzung gesucht hat, ohne wirklich ein Ergebnis im Blick zu haben. Aber unabhängig davon glaube ich, es braucht einen Arsch in der Hose, um das zu tun. Mut beweist man ja nicht dadurch, dass man etwas anfängt, von dem man sicher weiß, wie es ausgeht.

Es sind aus meiner Sicht zwei Dinge, die ein Volk braucht, um eine Krise durchzustehen: Einheit und eine Aussicht auf das Ziel. Beides war in Griechenland zu Beginn dieser Krise vorhanden, als es erstens hieß „wenigstens trifft es diesmal alle“ und das Ausmaß der durch die Sparvorgaben verschärften Rezession noch nicht absehbar war. Mit einer Regierung der Einheit, Neuwahlen (die ja nicht weniger wert sind als ein Referendum) und einem endlich zumindest halbwegs entschlossen agierenden EU-Europa könnte hier ein echter Schritt getan sein, ein erster nach langer Zeit, und es ist dem Ministerpräsidenten zu verdanken, dass er die Opposition in die Verantwortung gezwungen und die Konsequenzen der zur Verfügung stehenden Optionen spürbar gemacht hat.

Es gibt keinen Weg, Griechenland zu verstehen, ohne zuerst zu lernen, dass in diesem Land schon immer alles erkämpft werden musste. Der offizielle Wahlspruch der Republik Griechenland ist „Freiheit oder Tod“. Vielen Griechen, die ja in der allergrößten Mehrheit so wenig Schuld an der Krise tragen wie ich als deutscher Steuerzahler an den Zuständen bei der Hypo Real Estate, kommt das fesselnde Spardiktat der Troika vor wie eine Besatzung – als Verlust der Freiheit. In seinem erratisch wirkenden Ausbruch hat Papandreou, ob nun bewusst oder nicht, zumindest einmal den schon halb erschlafften Muskel der Freiheit angespannt und gezeigt, dass es eine Wahl gibt. Vielleicht nur eine noch schlechtere, aber es gibt sie. Ich mag das immer noch.

Dem Volk vertrauen

Der griechische Ministerpräsident Georgios Papandreou hat überraschend angekündigt, sein Volk über die EU-Entscheidung abstimmen zu lassen, die zu dem gefühlten Durchbruch am letzten Wochenende geführt hat – und wieder einmal sind Journalisten so irritiert, dass ihnen wie bei SpOn nicht viel mehr dazu einfällt, als zu Titeln: „Papandreou irritiert Griechen mit Abstimmungsplan“. Kronzeugen dafür sind ausgerechnet Abgeordnete jener „Neue Demokratie“ genannten Karikatur einer konservativen Partei, deren verrotteter Umgang mit dem eigenen Staat den schlimmsten Teil der Staatsverschuldung überhaupt erst verursacht hat.

„Wir Vertrauen dem Volk“, sagt Papandreou. Und meiner Meinung nach steigt er spätestens mit dieser Entscheidung in den Olymp derjenigen Politiker auf, die ein Volk tatsächlich führen können in Zeiten unvorstellbarer Not.

Denn natürlich ist das eine Entscheidung, die dem griechischen Volk zusteht. Selbst wenn wir für einen Moment – und nur für dieses Argument – annähmen, das griechische Volk oder zumindest die griechische Politik wären allein verantwortlich für die Krise, in der der Staat steckt (was sie trotz ihrer tausenden Fehler nicht sind), dann bleibt doch die Tatsache, dass diese Lösung nicht getroffen wurde, um Griechenland einen Ausweg zu bieten, sondern vor allem, um den Banken einen zu bieten. Der 50-prozentige „freiwillige Verzicht“ der Banken ist ein gigantischer Hoax. Die griechischen Staatsanleihen werden gehandelt, und sie wurden zuletzt zu Werten unterhalb von 40 Prozent ihres Nennwertes gehandelt. Gehandelt heißt: Von Banken verkauft und gekauft. Wer sie für 40 Prozent kauft und nun 50 Prozent durch unser Steuergeld garantiert bekommt, hat nicht freiwillig verzichtet, er bekommt vom Steuerzahler Geschenke. Darum geht es hier: Ein gigantisches Geschenk der Steuerzahler an die Banken. Das als „freiwilligen Verzicht“ der Banken zu deklarieren ist Betrug am Steuerzahler. Es ging bei all dem nur darum, einen Weg zu finden, der nicht dazu führt, dass die Banken untereinander ihre in unbekannten Wahnsinnshöhen gehandelten Kreditausfallversicherungen (CDS) fällig werden lassen. Sie sind die große Gefahr für das System, nicht Griechenland, das wie oft gesagt für die europäische Wirtschaft so wenig wichtig ist wie Hessen.

Die griechische Bevölkerung bekommt für diesen Schritt die nächste Runde eines Sparprogrammes aufgedrückt, das schon heute weite Teile der Bevölkerung in Armut gedrückt und für die Wirtschaft nichts positives bewirkt hat. Die Staatsverschuldung ist weiter gestiegen, woran weiter Banken verdienen. Das ist die Situation, vor der Papandreou steht. Was tut der Führer eines Landes in so einer Situation?

Die wirtschaftliche Lage ist so verfahren, dass niemand mehr vernünftige Prognosen abgeben kann. Aber Wirtschaft ist, nach Ludwig Erhard, zur Hälfte Psychologie. Politik, meiner Meinung nach, zu achtzig Prozent. Papandreou wählt den einzigen Weg, seine Nation zu einen: Ob sie zustimmen oder nicht, sie werden am Ende eine Entscheidung getroffen haben, was ein Wert an sich ist, und sie werden die Verantwortung tragen müssen, was eine Motivation an sich ist. Gegen die Hinterzimmergespräche von Brüssel steht ein Akt der Demokratie.

Zwei Argumente stehen dagegen. Zum einen ist in der repräsentativen Demokratie der Abgeordnete – und mehr noch der Regierungschef – in der Verantwortung, schwierige, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Aber wer wollte behaupten, dass Papandreou das nicht längst in einem Maße getan hat, von dem die gesamte Reihe der Mittelmäßigen zum Beispiel in Deutschland schon beim ersten Anblick abgedreht hätte? Im Verhältnis zum Kabinett Merkel Zwei ist Papandreou längst ein Leuchtturm zwischen lauter Pappkartons. Beweisen muss er nichts mehr, aber er muss den Moment finden, in dem Repräsentation nicht mehr reicht. Bevor es in den Straßen brennt und Leichen auf den Plätzen liegen wie in Syrien. Der Souverän bleibt auch in der repräsentativen Demokratie das Volk.

Der zweite Einwand ist formal: Es tut einer Demokratie in der Regel nicht besonders gut, wenn Bürger über wirtschaftliche Belange abstimmen. In dem US-Bundesstaat Kalifornien haben des die Bürger geschafft, gleichzeitig eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften mit einem der bankrottesten Staatswesen zu verbinden, indem sie per Volksabstimmung regelmäßig Steuern und Abgaben verringert und die Aufgaben des Staates vergrößert haben. In der Regel – zum Beispiel in meiner Heimatstadt Hamburg – dürfen Volksabstimmungen keine Steuern und Abgaben zum Inhalt haben. In Griechenland sind Volksabstimmungen überhaupt nur bei Fragen von überragendem nationalen Interesse erlaubt. Aber meiner Meinung nach ist das hier mehr als gegeben. Was sollte denn von größerem nationalen Interesse sein, als die Möglichkeit, selbst über das eigene Schicksal zu bestimmen?

Es bleibt also, das Papandreou den Ablauf der internationalen Geldpolitik aufhält. Und ich kann das nicht so schlimm finden. Ich gehe davon aus, dass auch dieses Kapitel mit einem weiteren Geschenk an die Banken enden wird. Auf die eine oder andere Art endet es so immer. Die große Volksverdummungsmaschine wird, angeführt von der BILD-Zeitung, wieder einmal verbreiten, die Griechen wären undankbar oder was auch immer sie inzwischen an absurden Begründungen finden müssen, damit die Realität noch zu den Märchen passt, die sie jeden Tag erzählen.

Dem Volk vertrauen – vielleicht wäre das sogar irgendwann mal ein Konzept für uns.