Danke, dass Sie mich kritisieren

Journalisten gehören, das hören sie immer wieder, zu den am meisten verachteten Berufsgruppen überhaupt. Allerdings glauben sie das nicht. Insofern war das auch nie ein Anlass, etwas an ihrer Arbeit zu ändern. Dass selbst in den Online-Angeboten hoch respektierter Zeitungen in den Kommentarspalten oft rüde Kritik geübt wird, hat viele Kollegen in den letzten Jahren eher dazu verleitet, das Internet zu meiden oder Leser im Allgemeinen für nerviges Pack zu halten. Diskussionen zwischen Autoren vor allem von Print-Geschichten und ihren Lesern sind nach wie vor selten, und selbst Online-Redaktionen beachten die Kommentarspalten regelmäßig nicht. Nicht einmal Fehler, auf die in den Kommentarspalten hingewiesen wird, werden in Geschichten verbessert. Jede andere Branche, die derart ignorant mit ihren Kunden umginge, würde nicht nur untergehen, sondern auch noch von der Presse zerrissen.

Ich habe in den letzten Wochen eine Geschichte machen können, die in der Form ein Experiment war. Bei der (unglücklich betitelten) „Livereportage“ konnten Leser die Entstehung der Geschichte verfolgen und bereits dort kritisieren. Und das haben sie getan. Bezeichnenderweise drehen sich danach sehr viele Gespräche, die ich führe, um diese Kritik. Ich werde manchmal fast schon bemitleidet. Und das ist, wenn man es genau betrachtet, bizarr: Das Sammeln von Erkenntnissen und Erfahrung ist das Ziel von Experimenten, die ergebnisoffen geführt werden, und umfangreiche Kritik ist wahrscheinlich der direkteste Weg, den wir dorthin haben können. Ein echtes Problem wäre zu wenig Kritik.

Ich glaube, dass unsere Einstellung zu Kritik, namentlich die oft fehlende Bereitschaft von Medienschaffenden, auf Kritik einzugehen und aus ihr zu lernen, doppelt schädlich ist. Zum einen verhindert sie, dass unsere Produkte besser werden, und zwar besser für die, die sie konsumieren. Und das sind die, die zählen. Zum zweiten wirkt die Einstellung aber auch noch arrogant — vielleicht auch deshalb, weil sie es oft genug einfach ist. In jedem Fall zementieret sie den Graben zwischen Konsumenten und Medienschaffenden, der wie ein Burggraben wirkt, hinter dem Journalisten und Verlage ihre schwindenden Pfründe verteidigen. Aber funktionieren wird das nicht ewig.

Anstatt ein Modell zu verteidigen, das dazu geführt hat, dass unser Beruf zu den meistverachteten der Republik gehört, lohnt es aus meiner Sicht, in die Offensive zu gehen und Modelle auszuprobieren, die es ermöglichen, die systemrelevante Dienstleistung Journalismus erfolgreich und einträglich zu erbringen. Denn Journalismus an sich ist in seiner Wertigkeit unumstritten. Aus der Kritik zum Beispiel an meiner Livereportage kann man auch lesen, dass dem Journalismus im Prinzip sogar gigantische ethische Prinzipien unterstellt werden. Die Vorstellungen davon, welche Kriterien der Qualitätssicherung Verlage haben, sind manchmal bizarr übertrieben. Der Glaube an bestimmte Medienmarken genauso. Nur eben das Vertrauen in einzelne Journalisten eben nicht. Was aus meiner Sicht bedeutet, dass der einzelne Journalist transparenter, öffentlicher, erreichbarer und kontrollierbarer werden muss. Die Antwort auf Kritik, auch unsachliche und sogar ausfällige Kritik kann nicht sein, sich der Kritik zu entziehen. Sie muss im Gegenteil dazu führen, dass wir uns erst recht der Kritik aussetzen, um sie durch unsere offene und kontrollierbare Arbeit zu entkräften. Das wäre ganz nebenbei auch die einzige Möglichkeit, den bisher oft nur behaupteten Qualitätsvorsprung von Profis gegenüber den User-Journalisten zu belegen, wenn es ihn denn tatsächlich gibt.

Kritik ist kein Problem, sondern im Gegenteil die größte Chance des Journalismus in der Übergangsphase, wie wir ihn erleben. Denn Kritik bedeutet auch, dass da Menschen engagiert sind in der Debatte, dass sie uns ihre in der Masse riesige Weisheit überlassen und von uns im Gegenzug zu ihrer Zeit und Energie nur eins verlangen: Respekt.

Die Live-Reportage

Vor ein paar Monaten, auf der Höhe der sogenannten Griechenlandkrise, als ich ein paarmal in verschiedenen Medien zu sehen, zu hören oder zu lesen war, war unter den Mails, die ich bekam, auch die einer Frau, deren Tochter vor drei Jahren in Athen unter bis heute nicht wirklich aufgeklärten Umständen gewaltsam ums Leben kam. Die griechischen Behörden behandelten den Fall lange Zeit als Selbstmord, und die Mutter hatte erstens den Eindruck, es gäbe sehr viele Hinweise darauf, dass ihre Tochter sich nicht selbst das Leben genommen hat, und zweitens, dass die griechischen Behörden sich nicht ausreichend um die Aufklärung bemühten (und die deutschen Behörden sie nicht genug dahingehend unter Druck setzen). Die Mutter schrieb mir, weil sie sich seit drei Jahren an praktisch jeden wendet, der auch nur entfernt mit Griechenland zu tun hat. Sie nutzt, und sagt das auch genau so, jede Gelegenheit, um neue Bewegung in die Untersuchungen zu bringen.

Ich habe ihr freundlich geantwortet, wie leid mir das alles tut. Ich bin selbst Vater von zwei (allerdings noch sehr kleinen) Mädchen, und selbst wenn ich den Schmerz nicht einmal im Ansatz nachvollziehen kann, jagt allein die Vorstellung, ein Kind zu verlieren, kalte Schockstöße des Horrors meine Wirbelsäule hinab. Um ganz ehrlich zu sein, meine Grundstimmung war die: Ich habe unendliches Mitleid mit der Familie. Aber ich habe meine berufliche Laufbahn erstens als Polizeireporter begonnen und weiß, dass solche Albtraum-Erlebnisse die Urteilsfähigkeit schwächen können. Und ich weiß außerdem, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass griechische Behörden den Tod einer Deutschen in Athen nur nachlässig untersuchen. Ich bin in diesem Moment davon ausgegangen, dass die erschütterte Familie ganz einfach nicht wahrhaben will, dass ihre Tochter sich umgebracht hat. Und das fände ich total verständlich.

Allerdings habe ich die Energie der Mutter, Marion Waade, extrem unterschätzt. Sie schrieb mir noch einmal die Eckdaten des Falles rund um den Tod ihrer Tochter Susan (die zum Zeitpunkt ihres Todes knapp 27 Jahre alt war), wir haben telefoniert, und ich habe angeboten, mir zumindest einmal die Unterlagen anzusehen, auch um zu gucken, ob ich ihr mit meinem Bauerngriechisch irgendeine Unterstützung sein kann (mein Bauerngriechisch ist allerdings mit – teilweise handschriftlich verfassten – juristischen Unterlagen völlig überfordert). Und es ist ein Berg von Unterlagen – faul waren die Behörden jedenfalls nicht.

Dabei musste ich allerdings feststellen, dass eine ganze Reihe von Vorwürfen eine Grundlage haben. Das muss nicht heißen, dass sie stimmen, aber es gibt eine ganze Menge Fragen zu stellen. Nur als Beispiel, und um zu verdeutlichen, wo meine Überlegungen anfangen: Susan Waade soll sich erhängt haben, aber im Sitzen. Sie ist nach Ansicht der Polizei nicht von einem Hocker oder einer Kiste gesprungen, sondern hat sich sitzend so in die Schlinge eines aufgeknüpften Wollschals gelehnt, dass sie daran erstickte. Das ist technisch wohl möglich, aber es erscheint einigen Experten als unwahrscheinlich, zumal sie keine Betäubungsmittel genommen und wohl auch keinen Alkohol getrunken hatte. Es bleibt eine Frage zurück.

Und Fragen sind das, worauf Journalisten anspringen. Oder nicht?

Ich bin damals von Frau Waade weggefahren mit dem Versprechen, mir Gedanken zu machen. Und das habe ich getan. Und dabei stößt man sehr schnell auf ein Problem. Denn in Wahrheit springt der Journalismus längst nicht mehr auf Fragen an, sondern nur noch auf Antworten. Um diese Geschichte zu schreiben, würde ich mich entscheiden müssen und Partei ergreifen, denn wie soll man sonst als Autor diese Geschichte vorschlagen? Die Möglichkeiten sind in Wahrheit begrenzt: „Eine junge Frau wird ermordet und die Behörden schlampen bei den Ermittlungen – Skandal“? Oder als „Eine Berliner Familie glaubt, ihre Tochter ist ermordet worden und verlangt Aufklärung“, menschelnd, traurig, anklagend? Diese Geschichte hat es tatsächlich mehrfach gegeben, die Waades waren zum Beispiel bei Stern TV. Aber es ist eben nur die Hälfte der Geschichte. Warum, fragte ich mich, kann ich nicht die Geschichte vorschlagen: „Eine junge Frau kommt gewaltsam ums Leben, ob Mord oder Selbstmord weiß ich nicht, aber ich würde gerne darüber schreiben, ich würde gerne berichten, ohne dass Ende zu kennen“?

Es fällt für einen Freien wie mich schon schwer, mir eine Redaktion auszudenken, der man so etwas vorschlagen kann. Und das ist aus meiner Sicht ein Verlust für den Journalismus und den Beitrag, den Journalismus zu einer funktionierenden Gesellschaft beitragen kann. Es stellt die Reihenfolge auf den Kopf: Vor allem wir Freien müssten die echte Arbeit machen, bevor wir sie überhaupt für einen Auftrag vorschlagen können, die Recherche bis hin zur These vollendet haben, bevor wir Geld dafür verlangen können. Oder aber, und das ist es, was passiert: Wir müssen eine Geschichte vorschlagen, von der wir nicht sicher sein können, ob sie wahr ist – und stehen hinterher realistischerweise unter dem Druck, die recherchierten Fakten so zu beleuchten, dass wir für den Chefredakteur die Erwartung an die These befriedigen können – denn er hat mit der These seine Ausgabe geplant. Da läuft etwas falsch. Ich hatte also das Gefühl, da wäre eine Geschichte, die es sich zu erzählen lohnt, aber die Geschichte hatte eben kein Ende, keine These, keine echte Richtung. Diese Geschichte ist kompliziert, ausufernd, nicht klar zu greifen – genau so, wie das Leben eben ist. Aber der Journalismus nicht.

Ein paar Tage später bin ich mit der Idee aufgewacht, dass das vielleicht schon die Antwort ist. Warum erzählt man diese traurige Geschichte nicht ausufernd und kompliziert, warum gibt man nicht allen Lesern, die es interessiert, die Möglichkeit, sich ein Bild zu machen, ohne sich vorher zu entscheiden? Ohne es vorher in Rahmen zu pressen wie „Skandal“ oder „menschliche Tragödie“? Warum berichtet man nicht das, was man herausfindet, während man es herausfindet, egal, wie wichtig oder nebensächlich das jetzt für irgendeine These ist? Das Internet gibt uns die Möglichkeit, warum probieren wir es nicht aus?

Ich habe Timm Klotzek von Neon zu einer unmöglichen Zeit am frühen Morgen eine SMS geschrieben, und er rief ein paar Minuten später zurück. Er mochte die Idee, aber er hatte auch Bedenken. Sie haben es sich bei Neon nicht leicht gemacht und den Vorschlag ein paar Wochen lang hin und her gewendet, denn natürlich hat diese Geschichte viele Anteile, die nach einer boulevardesken Crime-Story riechen, die eigentlich nicht zu Neon und neon.de passt. Umso mehr muss ich mich bei ihnen für das Vertrauen bedanken, dass ich es schaffen könnte, ohne eine billige, sensationsheischende Geschichte daraus zu machen, die Neon mehr schadet als nützt (und die ersten Kommentatoren auf neon.de sind tatsächlich sehr, sehr kritisch deswegen – und das macht die Seite aus meiner Sicht zum besten denkbaren Ort dafür).

Ich habe das noch nie gemacht, ich kenne auch niemanden, der so etwas schon einmal gemacht hat, und dafür gibt es gute Gründe. Der beste ist: Es kann schiefgehen. Es ist ja nichts wirklich geplant. Es gibt kein Script. Und ich kann jeden gestandenen Reporter verstehen, der sich nicht dem Risiko aussetzen will, zehn Tage lang darüber zu berichten, dass er vor verschlossenen Türen steht und dass niemand mit ihm reden will. Aber die Wahrheit ist doch auch: So, wie es heute ist, wo wir nicht wissen, was Journalisten tun, bis sie es uns „herausgeben“ – wo wir nicht überprüfen können, welche Informationen sie tatsächlich haben und wie sie sie interpretieren, stehen die Journalisten vielleicht gefühlt besser da, aber ihre Auftraggeber, die Leser, nicht unbedingt.

Wenn ich eine Geschichte darüber gemacht hätte, dass Susan Waade wahrscheinlich umgebracht wurde, hätte das eine schöne, respektierte Reportage werden können. Wenn ich eine Geschichte darüber gemacht hätte, dass Susan Waade sich wahrscheinlich selbst umgebracht hat, ihre Eltern es aber einfach nicht wahrhaben wollen, genauso. Und das, obwohl ich nicht weiß, welche Version stimmt, es vielleicht nie wissen werde und trotzdem der festen Überzeugung bin, dass dieses eine Geschichte ist, die es wert ist, erzählt zu werden. Und bei der sich die Leser ihre eigenen Gedanken machen werden, sollen und können.

Bei all dem muss allerdings eine Sache immer im Vordergrund stehen: Es geht um das Schicksal eines Menschen. Und das ist die eine Sache, die ich auf jeden Fall erzählen möchte: Die Geschichte von Susan Waade, einer eigensinnigen, freiheitsliebenden, manchmal starrköpfigen, großherzigen und abenteuerlustigen jungen Sängerin aus Berlin, die nichts mehr liebte als die Musik. Und das allein ist es mehr als wert.

Am 21. geht es los, und zwar hier: www.neon.de/alle/livereportage

Du bist neue Medien

Mit Christian Wulff ist nur der zweitbeste Kandidat Bundespräsident geworden, zumindest, wenn man die Meinung der Bevölkerung zugrunde legt – aber was könnte man denn eigentlich sonst zugrunde legen? Irgendetwas muss es da geben, irgendeine Erklärung, an die sich viele der Wahlmänner und -frauen in der Kabine geklammert haben, als sie ein Kreuzchen da gesetzt haben, wo sie wussten, dass es der Souverän – wir, das Volk – nicht haben wollte. Irgendwie müssen sie es sich innerlich schöngeredet haben, anders kann man ja sonst nicht mehr in den Spiegel schauen. Und erstaunlicherweise haben sie damit der Demokratie aus meiner Sicht einen Dienst erwiesen. Denn sie haben gezeigt, dass zwar die politische Klasse des Landes weitgehend vergessen zu haben scheint, was Politik eigentlich ist – aber wir nicht. Und dass das Desinteresse an den Winkelzügen dieser Klasse nicht Politikverdrossenheit ist, sondern Politikerverdrossenheit. Aber wer sagt denn eigentlich, dass wir diese Politiker überhaupt noch brauchen?

Politik ist am Ende nur die Kunst, möglichst große Einigkeit herzustellen. Und wir hatten eine weit gehende Einigkeit: Den Umfragen nach wollten plusminus zwei Drittel der Deutschen Joachim Gauck als nächsten Bundespräsidenten. Und das wiederum – und hier liegt der Knackpunkt – offenbar deshalb, weil sie sich von ihm versprochen hatten, er könne Einigkeit in Deutschland herstellen. Was, wenn man es richtig bedenkt, eine genau so schöne wie bizarre Vorstellung ist: In einem Amt, dessen ganze Gestaltungsmacht darauf beruht, dass man Reden hält, bedeutet die Fähigkeit, Einigkeit herzustellen, ja letztlich nur: Der Mann wäre nach unserer Ansicht in der Lage gewesen, die Dinge so in Worte zu fassen, dass wir festellen, dass wir uns in den meisten Fragen ohnehin einig sind. Genau wie in dem tiefen, berechtigten Glauben an die Macht des Mediums Wort für den Fall, dass wir es in wichtigen Fragen einmal doch nicht sind (auf die Frage, wie er zum Krieg in Afghanistan steht, sagte Gauck „ich ertrage ihn“. Das war für mich nicht nur das Schlaueste, was ich dazu gehört habe, sondern vielmehr meine eigene Haltung, für die ich noch keine Worte gefunden hatte. Das zu hören war für mich einen Moment lang wie nachhause kommen).

In der Welt der Politiker gelten beide Prinzipien in Wahrheit nichts. Im Gegenteil: Anstatt Einigkeit herzustellen, gilt es als karrierefördernd und unumgänglich, Unterschiede „zuspitzen“ zu können. Und die Macht des Wortes ist der Fähigkeit gewichen, Zuspitzungen oder teflonartige Nichtpositionen in Soundbytes als Statements für die Tagesschau abzusondern. Es lässt sich ja nicht von der Hand weisen, dass die Wahrscheinlichkeit eher hoch ist, dass selbst aus Philipp Mißfelder im Sinne einer politischen Karriere „noch einmal irgendetwas wird“. Und das liegt nicht unwesentlich an dem, was Politiker als „die Gesetzmäßigkeiten der Medien“ verstehen. Die allerdings ändern sich gerade für immer.

Die große, öffentliche und unaufhaltsame Kampagne ganz normaler Menschen, die gefragt und ungefragt ihre Präferenz für ein notorisch langweiliges Amt erklären, zeigt, dass Menschen ein Interesse daran haben, wer sie regiert. Die sinkenden Wahlbeteiligungen zeigen, dass sie allerdings nicht das Gefühl haben, durch Wahlen etwas zu verändern. Dass sich ausgerechnet bei einer Wahl, bei der das Volk gar nicht zur Urne gerufen wird, so viele Menschen emotional oder gar mit Briefen und Online-Kampagnen engagieren, liegt aus meiner Sicht an einer einfachen Tatsache: Durch die besondere Konstellation dieser Bundespräsidentenwahl sah es während eines begrenzten Zeitraumes so aus, als würden die ganz normalen Menschen mit ihren Wünschen tatsächlich gehört werden. Jemand, der seine Meinung irgendwo online veröffentlichte, konnte davon ausgehen, einen winzig kleinen Beitrag zum großen Meinungskanon beizusteuern. Aus denen, die im politischen Betrieb durch die „Gesetze der Medien“ eigentlich als Empfänger der Botschaft vorgesehen sind, wurden zu Sendern ihrer eigenen. Das, und nur das, sind neue Medien.

Wie stark diese neuen Sender, wir alle, sind, wenn wir uns einer Sache einig sind, zeigt die Tatsache, dass die Anhänger der alten „Gesetze der Medien“ genau das tun mussten, was sie am schlechtesten können, weil es in ihrem Gesetzbuch nicht vorkommt: zuhören. Die Macht der Worte hat sie zumindest dazu gezwungen. Und wenn wir das einmal schaffen, warum nicht immer wieder?

Ich glaube, dass sich letztlich alle Probleme der Medien darauf zurückführen lassen: Sie sollten ein Vehikel des Austauschs von Informationen zwischen Menschen sein. Aber Austausch hat zwei Richtungen, und das sehen die alten Gesetzmäßigkeiten bis heute nicht vor. Dabei brauchen wir nur auf die Qualität von Kommentaren unter Beiträgen im Internet nachzusehen, um das Gesetz der neuen Medien zu lernen: Wenn an dem einen Ende ein Mensch steht, der sich zu erkennen gibt, dann wird der am anderen Ende sich im Regelfall auch benehmen wie ein Mensch. Steht aber an dem einen Ende nur eine Institution, eine Funktion, eine gesichtslose Maschine, führen sich auch Kommentatoren in vielen Fällen in einer Art auf, die weit jenseits ihres alltäglichen Umgangs liegen dürfte.

Für Politiker gilt das neue Gesetz der Medien – der Zwang zum Zuhören – umso mehr, weil wir sie ja überhaupt nur als Medium der Übertragung unserer Wünsche, Lebens- und Gesellschaftsmodelle nach oben in ihre Position gewählt haben. Wer von ihnen, egal wie unbewusst, sich nur als Sender einer Botschaft zu uns versteht, als Institution, der wird es im Zeitalter der neuen Medien bald so unerträglich schwer haben wie die Medienhäuser, die nur in eine Richtung funktionieren – und sie werden möglicherweise nicht einmal wissen, was ihnen zugestoßen ist.

Aber wir wissen, was ihnen zugestoßen ist: wir.

Auf Kommentare antworten

Texte hat es vor „dem Internet“ gegeben. Videos hat es vorher gegeben. Radiobeiträge auch. Und bei aller Freude an echt multimedialen Inhalten glaube ich persönlich, dass die journalistischen Möglichkeiten noch nicht im Ansatz so gut genutzt werden, wie sie es könnten. Man kann eine Weile darüber diskutieren, ob das Internet ein Medium ist (ich bin der Überzeugung: nein, es ist ein Marktplatz), aber in jedem Fall bleibt meiner Meinung nach, dass das Netz dem Journalismus noch nicht besonders viel hinzugefügt hat. Wie denn auch, wenn sich die größten Häuser der Branche immer noch weit gehend darauf beschränken, entweder vorhandenen „Content“ einfach online zu stellen, oder aber zusätzliche Inhalte zu Preisen zu produzieren, über die gestandene Journalisten lachen müssten, wenn es nicht so traurig wäre. Nein, aus meiner Sicht ist im Netz eigentlich nur eine Sache wirklich neu. Aber die ist so gut, dass sie allein alle Energie wert war, die in die Entwicklung von Online-Journalismus bisher geflossen ist. Es ist die Kommentarspalte.

Natürlich liebe ich die Tatsache, dass ich zu jeder Tages- und Nachtzeit in meinem bescheidenen Rahmen alles schreiben kann, was ich will. Und selbstverständlich mag ich lieber dafür gelobt werden, als kritisiert. Aber das hat an meinem Beruf relativ wenig geändert. Erst seitdem ich die Reaktionen auf das, was ich schreibe, als organischen Teil eines Textes betrachte, und das Antworten auf Kommentare als Teil der (in diesem Fall freiwilligen, unbezahlten, aber dennoch) Arbeit, hat sich tatsächlich etwas weiterentwickelt, das unbedingt weiterentwickelt werden musste. Der direkte Austausch mit Lesern, Kritikern, Gegnern und manchmal auch Spinnern hat meiner Meinung nach das Medium Geschriebenes Wort wieder zu einem echten Teil des öffentlichen Diskurses werden lassen, an dem mehr als ein paar Auserwählte teilnehmen. Und das ist wertvoll.

Aber es ist – darum darf man nicht herumreden – unendlich mühsam. Es gibt eine Menge Menschen, mit denen zu diskutieren anstrengend ist, die manche Dinge, die aus Sicht eines Autoren glasklar sind, nicht verstehen wollen oder können, was natürlich genauso gut daran liegen kann, dass sie nicht ganz so klar sind, wie der Autor sie sieht – aber früher hätte er das gar nicht gemerkt.

Das führt aus meiner Sicht nicht unbedingt dazu, dass Autoren durch das direktere Feedback besser werden. Manche sicher, viele nicht. Es hat einen viel direkteren Effekt, der offensichtlich schwer in Worte zu fassen ist, und der deshalb meist negativ umschrieben wird als der Faktor, der macht, dass „klassische Medienhäuser das Internet nicht verstehen“. Und der Satz ist, leider, sehr wahr. Die Kommentarspalte macht deutlich, warum.

Denn die nach unten offene und von überall zugängliche Kommentarspalte zeigt einen im Netz angebotenen Text als das, was er im Print nur unsichtbar war: Als Treffpunkt für eine Vielzahl von Menschen, die sich für Momente Gedanken um das selbe Thema machen. Eben als Knotenpunkt in einem Netz. Während Texte früher nur in eine Richtung abstrahlten, vom Sender zum Empfänger, wie es die klassischen Kommunikationswissenschaften lehren, strahlen die Gedanken heute in jede Richtung, vom Autoren zu Lesern, von Lesern zu Lesern und von Lesern zum Autor. Das Medium ist aus meiner Sicht nicht das Netz, aber das Netz ist der Marktplatz, auf dem das Medium Wort in unendlich viele Richtungen verteilt und zurückgespielt werden kann. Und das wirklich Lustige daran ist: Nur dann macht es wirklich einen Sinn.

Wir haben uns an die Phrase gewöhnt, dass der Buchdruck für die Aufklärung das entscheidende Medium war, aber in Wahrheit ändert das Medium an der Realität der Welt gar nichts. Veränderung gibt es erst, wenn zwei Menschen – in diesem Fall: zwei Aufgeklärte – sich miteinander verbinden, austauschen und so die neue Erkenntnis Realität werden lassen. Ein einzelner Aufgeklärter, der allein zuhause sitzt und liest, hat einen netten Abend. Zwei, die sich erkennen und feststellen, dass sie eine gemeinsame Überzeugung teilen, sind die Keimzelle der Entwicklung der Welt.

Der Sinn, Informationen auszutauschen, besteht darin, seinen Platz in der Welt zu finden, seine Umgebung zu verstehen und sich oder die Umgebung so anzupassen, dass ein Leben daraus wird. Einen Gedanken zu lesen, in zu verarbeiten und für sich selbst zu akzeptieren macht im Kopf des Lesers einen Unterschied. Aber nur da – in einem Paralleluniversum. Wenn Journalismus für sich in Anspruch nimmt, das Handwerk des Beschreibens der Welt zu sein, zum Zwecke der Befähigung der Menschen zum Umgang mit der Welt, dann ist der eigentliche Sinn nicht nur der, Menschen zu informieren. Die Menschen müssen sich über die Informationen erst austauschen, bis sie wirklich sinnvoll werden. Wir sind Stofflieferanten, aber damit Stoff etwas nützt, müssen die Menschen sich Kleider daraus nähen. Aber der Umgang der Häuser, die „das Internet nicht verstehen“, war eben bisher genau gegenteilig: Die Auseinandersetzung in den Kommentarspalten, die Diskussionen, das Kleidernähen aus dem Stoff Information, werden an vielen Stellen immer noch missachtet oder ganz ignoriert. Das ist einigermaßen dämlich.

Ich habe das schon einmal geschrieben, und ich werde mich daran messen lassen: Ich glaube, dass ein Stefan Niggemeier, der einen Artikel schreibt und dafür 953 Kommentare bekommt (bis selbst er ermattet die Kommentarspalte schließen muss), die bessere Medienmarke ist als eine, die 953 Artikel schreibt und dabei nur einen Kommentar bekommt, den sie wirklich liest, beachtet und der sie zum Reagieren verleitet. Und bessere Marke heißt: Den einen wird es in 20 Jahren noch geben. All die anderen nicht.

Linktipp (4)

Die Journalisten Christian Frey und Kai Schächtele sind auf eigene Faust (und auf eigene Rechnung) unterwegs von Kapstadt nach Johannesburg und werfen einen Blick hinter die Kulissen der WM. Darüber berichten sie auf ihrem Blog „Die WM – Ein Wintermärchen?“, unter anderem in großartigen Audio-Slideshows. Es ist großartig. Und hat, nebenbei, verdient, dass man die beiden mit einer Spende unterstützt, damit sie die Kosten wieder rauskriegen (und hoffentlich noch ein bisschen mehr).

Vier Sätze für den Journalismus

Großmeister Dirk von Gehlen, Chefredakteur von jetzt.de, macht über seinen Blog eine Umfrage unter bloggenden Journalisten. Da fühle ich mich angesprochen. Auch deshalb, weil er mich darauf angesprochen hat. Und weil selbst ich nicht machen kann, dass der VfL Bochum ordentlichen Fußball spielt, finde ich, wenigstens bei dieser anderen Sache könnte ich mitmachen und vier Sätze vervollständigen. Hier sind die Sätze.

Das sollte jeder Journalist heute lernen:

Nutzerbeteiligung macht den Journalismus besser, wenn …

In zehn Jahren werden wir uns darüber wundern, dass in der heutigen Debatte …

So könnte ein Geschäftsmodell für den Journalismus von morgen aussehen:

Und das sind meine Antworten.

Das sollte jeder Journalist heute lernen: Das Selbstbewusstsein, dass er ein lebenswichtiges Produkt herstellt. Und das Handwerk, es ordentlich zu machen.

Nutzerbeteiligung macht den Journalismus besser, wenn … man es erkennen und damit leben kann, dass viele Nutzer schlauer sind als man selbst.

In zehn Jahren werden wir uns darüber wundern, dass in der heutigen Debatte … die Unterscheidung zwischen analog und digital so eine große Rolle gespielt hat. Es geht um den Inhalt, nicht um die Form, in der er vorliegt.

So könnte ein Geschäftsmodell für den Journalismus von morgen aussehen: Nachrichten werden mit einem Laser auf Bratwürste tätowiert, so dass man sie vor dem Essen lesen kann. Das ist aber, wie gesagt, nur ein Modell. Es wird noch eine Million andere geben.

Das Lena-Prinzip

Man konnte den Eindruck haben, Lena Meyer-Landrut wäre so etwas wie eine postmediale Erscheinung, so wie es Barack Obama im US-amerikanischen Wahlkampf 2008 war, als es ihm gelang, seine Botschaft weit über die herkömmlichen Kanäle direkt zu verbreiten (damals war zum Beispiel die Entscheidung für Joe Biden als Kandidat für das Vizepräsidentenamt über eine Art SMS-Mailingliste verkündet worden, so dass seine Anhänger es praktisch vor der Presse wussten). Obama ist es gelungen, seine Botschaft, die anders war als die „Politics as usual“, ohne den Filter der Politikberichterstattung „as usual“ vorbei an die Wähler zu bringen.

Die Lena-Realität ist eine andere, einfachere, auch wenn sie viel mit der Obama-Situation gemeinsam hat. Und sie war eine Lehrstunde für Medienschaffende, aus der sich einige Schlüsse ziehen lassen. Denn während Medienschaffende in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer mehr dazu übergegangen sind, das Medium für die Botschaft zu halten, hat der Erfolg vom LML (und zwar der allgemeine Erfolg, nicht der Sieg in Oslo) einmal mehr deutlich gemacht, dass das ein Fehlglaube war und bleibt. Lena Meyer-Landrut hat auf den ganz normalen Medienkanälen triumphiert, zuletzt sogar in der Bild-Zeitung, die sich lange schwer damit tat, wie schlecht man sie im Raab-Umfeld behandelte. Die Wucht dieser unwiderstehlichen 19-Jährigen war selbst für die Mediendickschiffe zu groß, um sich ihr in den Weg zu stellen.

Das ganz große Wunder besteht offensichtlich darin, dass es eine 19-Jährige geschafft hat, sie selbst zu bleiben, obwohl sie jeden Tag auf ihre Natürlichkeit angesprochen wurde. Das ist ein Kompliment an sie, diejenigen, die sie erzogen haben und an das Team um Stefan Raab, dass ihr offensichtlich eine funktionierende Umgebung geboten hat. Es ist kein Geheimnis, dass Menschen vor allem im Fernsehen dann unwiderstehlich sind, wenn sie das leben können, was sie tatsächlich sind. Da unterscheidet sich Lena nicht von Günther Jauch, Stefan Raab bei Schlag den Raab oder dem frühen Paul Potts. Es ist die Steigerung von Authentizität: Authentisch sein kann man auch, während man mit Grippe im Bett liegt oder in Untersuchungshaft sitzt. Aber authentisch zu sein, während man lebt, wofür man offensichtlich geboren wurde, ist für ein Publikum unschlagbar schön anzusehen.

Das hat ein handwerkliche Dimension: Raab hätte die große Lena-Sause gut und schlecht umsetzen können, und es hätte viel zerstört, wenn er es schlecht gemacht hätte. Der endgültige Erfolg lässt sich aber meiner Meinung nach durch Handwerk allein nicht erzwingen – in keinem Bereich.

Wir erleben zum Beispiel gerade, dass eine ganze Reihe von Verlagen Me-Too-Produkte für die in Verlagskreisen immer noch unerklärliche, fast unheimlich erfolgreiche Zeitschrift Landlust auf den Markt werfen. Und ich muss kein Prophet sein um vorauszusagen, dass sie alle schmerzhaft scheitern werden. Weil sie, im Gegensatz zum Original, eben nicht echt sind und es nie sein werden. Dabei können sie durchaus gut gemacht sein. Aber eine Seele lässt sich dann doch nicht kaufen, und das ist am Ende ja sogar beruhigend zu wissen.

Im Umkehrschluss für die Verlage müsste das bedeuten, dass Journalisten statt Managern wieder größeren Einfluss auf die verlegerischen Entscheidungen nehmen müssten, so wie der Vollblut-Entertainer Raab den Erfolg der deutschen Grand-Prix-Beteiligung verantwortet hat.

Tatsächlich wird in unseren Verlagshäusern aber immer noch mehr darüber nachgedacht, welche Inhalte man aufs iPad packen kann, als darüber, welche Inhalte Menschen haben wollen. Ganz so, als wäre das Medium immer noch die Botschaft. Dabei lautet das Lena-Prinzip: Wenn man an die Botschaft glaubt, dann kann man es sich sogar leisten, manche unverzichtbar wirkende Medien komplett zu ignorieren.

Nur ganz schnell

Es tut mir leid, ich bin gerade unglaublich viel unterwegs und habe, mit etwas Glück, dafür auch bald wieder sehr viel zu erzählen. Für den Moment aber nur das hier: Dieser Text von Stefan Niggemeier über die Diskussion um die Tagesschau-iPhone-App ist so scheißgut, dass ich irre sauer bin, dass ich ihn nicht geschrieben habe. Irre sauer.

Und dann gibt es noch das hier:

Wichtig ist auf welchem Platz

Der Berg der Berichte über Apples iPad hat einen Gipfel erreicht, wenn es nicht gar ein Gipfelkreuz ist, was Frank Schirrmacher in der FAS in der ihm eigenen Art unter dem Titel „Die Politik des iPad“ (leider noch nicht online) in einem überragend verwirrten wie verwirrenden Text gemacht hat. Am Ende ist es allerdings durchweg wie bei iPod und iPhone vorher: Es findet die Betrachtung von technischen Daten statt (und wie bei jedem Apple-Gerät wird festgestellt, dass sich die Faszination aus den Daten nicht ableiten lässt) und direkt im Anschluss die bizarre, pseudophilosophische Debatte aus der das Feuilleton hierzulande eine Daseinsberechtigung über die Kritik konsumierbarer Kultur hinaus ableitet. Wir bekommen die politischen Auswirkungen eines Computers erklärt, den weder wir noch die Rezensenten je in der Hand gehalten haben. Es ist drollig. Allerdings finde ich es auch ein gutes Stück weit überheblich, vor allem, weil ich keinen einzigen Text gefunden habe, der sich mit der echten Neuerung auseinander gesetzt hat, die das iPad möglicherweise für Mediennutzer bringt, und die am Ende die echte Neuerung für uns Medienschaffende bedeuten könnte (und damit, nebenbei, uns allen den Arsch retten). Ich habe – auch nach wirklich vielen Gesprächen, die ich im letzten Jahr oder so zu den Themen Print, Online und Tablet-PCs geführt habe – das Gefühl, es liegt daran, dass sich viele Verantwortliche diese Gedanken gar nicht machen. Ich halte es für fahrlässig, aber irgendwie auch für verständlich. Spätestens seit Steve Jobs‘ Keynote aber müsste es eigentlich mit der Gedankenlosigkeit vorbei sein, denn Jobs hat die „Killer-App“ seines iPad klar benannt – und es ist keine App.

Es ist das Allererste, das Jobs sagt, als er sich auf der Keynote mit dem Gerät hinsetzt um es zu demonstrieren: „Dieses Ding zu benutzen ist bemerkenswert. Es ist so viel intimer als einen Laptop zu benutzen.“ Das ist er, der entscheidende Punkt. So viel intimer. Es ist vollkommen unverständlich, warum über diesen Punkt in Verlagen nie gesprochen wird, aber der Schluss drängt sich auf, dass sich Verlage über die Produkte, die sie verkaufen, erstaunlich wenig Gedanken machen.
Bis heute hört man viele als feststehende Wahrheiten begriffene Sätze wie „Die Leute lesen keine langen Texte im Internet“. Es wird teilweise sogar als letztes Rückzugsgebiet der Zeitschrift missverstanden (wie beim Focus, wo der irrwitzig dünne Versuch eines Relaunchs gerade das letzte bisschen eigene Identität getötet hat, was auch immer man von dieser Identität gehalten haben mag). Dabei ist die Länge von Texten zunächst einmal vollkommen irrelevant. Tatsächlich aber habe ich noch nie, weder in Print- noch in Online- noch in integrierten Redaktionen irgendeinen Gedanken dazu gehört, dass die Produkte ganz offensichtlich an völlig unterschiedlichen Orten gelesen werden müssen: Während man zum Beispiel Zeitschriften in der U-Bahn, auf dem Klo oder im Mitarbeiterzimmer beim Frühstück liest, werden die meisten Online-Texte im Büro gelesen, jedenfalls an einem Computer und in sehr vielen Fällen aufrecht sitzend, vollständig bekleidet und nicht selten im Blickfeld von Kollegen. Journalisten können und wollen sich eine Welt wahrscheinlich nicht vorstellen, in der man an seinem Schreibtisch nicht den Playboy lesen kann, die komplette Süddeutsche oder den Spiegel, aber für den größten Teil der Bevölkerung ist es Realität. Allein die in Redaktionen durchaus bekannte Tatsache, dass Videos im Netz (die ja auch mal als der ganz große, heiße Scheiß für Nachrichtenseiten galten) eher abends als tagsüber gesehen werden hätte den Gedanken anstoßen können: Wenn die Medien in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen konsumiert werden, muss das dann nicht Auswirkungen auf den Inhalt haben?
So viel intimer: Aus diesem Satz – von dem ich glaube, dass er stimmt und dass er den wahren Unterschied zwischen dem iPad und jeder Art Laptop ausmacht – folgt eine Menge. Denn Intimität war unter anderem für Zeitschriften aus meiner Sicht ein definierendes Element.
Zeitschriften haben ihren Lesern die große, weite Welt gezeigt und ihnen dabei auch neue Welten eröffnet, sie haben sie mit wohligem Schauern erfüllt, mit Betroffenheit, Faszination, sie mit Freude erfüllt und mit Angst, ihnen in manchen Fällen Hoffnung gegeben und in anderen, in denen sie nahezu Unbegreifliches zu erklären oder zumindest nachvollziehbar gemacht haben, auch über Trauer hinweg geholfen. Zeitschriften werden, genau wie Fernsehnachrichten, emotional verstanden und verarbeitet. Der überwiegende Teil der Zeitschriften beschäftigt sich außerdem mit Hobbies und anderen Themen, die ihre Leser lieben und die ihnen deshalb ohnehin nah sind. Und wenn Henri Nannen von Lieschen Müller als der typischen Stern-Leserin gesprochen hat, dann hat er vor allem den Fehler umgangen, an dem heute der größte Teil der aktuellen Medien krankt: Das Überschätzen des Informationsstandes des Lesers bei gleichzeitigem Unterschätzen der Urteilsfähigkeit. Die meisten Menschen interessieren sich nicht für jeden Winkelzug der Politik. Sie können trotzdem sehr vernünftige (Wahl-) Entscheidungen treffen – oft aus einem Gefühl heraus. Das ist nichts Schlechtes: Emotion ist nichts anderes als eine Reaktion auf der Grundlage von zu vielen über die Jahre erlernten Emotionen, als das wir sie noch einzeln benennen könnten. Wer einen Leser intellektuell nicht unterfordert (wie es das Boulevard-System tut) und gleichzeitig emotional engagiert, der transportiert Informationen auf dem höchsten möglichen Niveau. Gute Dokumentarfilme können das in einzigartiger Weise – vor allem im Kino. Manche Bücher auch. Und Zeitschriften, wenn sie wirklich gut gemacht sind. Natürlich gibt es auch Online-Erzählformen, die eine ähnliche Qualität haben, aber auch sie leiden unter dem Abstand, den der Leser von dem Bildschirm hat. Oder eben: hatte. Bis jetzt.
Das ist eine gigantische Chance für die Produzenten von journalistischen Inhalten. Ich habe an dieser Stelle schon gesagt, dass ich glaube, die meisten Verlage werden diese Chance wieder einmal mit technischen Spielereien verschenken, aber dieses Mal ist noch etwas ganz anders geworden: Zum ersten Mal, seitdem das Internet Mainstream geworden ist, besteht tatsächlich die Chance für neue Unternehmen, sich einen Markt zu schaffen. Bisher waren im Netz ja nur die Verlängerungen klassischer Medienmarken leidlich erfolgreich, ganz neue Wettbewerber sind regelmäßig an der Tatsache verzweifelt, dass sie sich bei den Usern nicht als zuverlässige Lieferanten der gewünschten Inhalte verankern konnten. Bekannte Marken haben es da nicht nur einfacher, sie erfüllen eben die eine entscheidende Voraussetzung, die online bisher offenbar nicht aufzuholen war: Sie stehen dem User nah (Einschub: Ich weiß, dass sich die Nutzergruppen von Online- und Print-Produkten einer Marke manchmal kaum überschneiden, aber ich bin trotzdem davon überzeugt, dass die Marke den reinen Online-Usern ein Gefühl für die Seite gibt, das in Wahrheit mehr aus der Tradition der Marke denn aus den tatsächlichen Inhalten getriebenist. Auch beim 20-jährigen Spiegel-Online-Leser schafft die Marke Spiegel Vertrauen, selbst wenn er das gedruckte Heft nie liest).
Kaum einer Online-Medienmarke ist es bisher gelungen, mit seinen Lesern intim zu werden im Jobs’schen Sinne. Das kann sich nun ändern durch dieses Gerät, mit dem wir das Internet „in der Hand halten“. Denn wir dürfen nicht vergessen: Medien erzählen den Menschen Geschichten von Mord und Totschlag, von Katastrophen und Grausamkeiten, von Angriffen auf ihre Freiheit, ihre Sicherheit oder ihr Geld. Wir wissen, dass Kinder die Grausamkeiten in Grimms Märchen gut abkönnen, wenn ihre Eltern sie ihnen vorlesen, sie dabei also in Sicherheit sind. Wir wissen, wie wichtig die Anchorman der Nachrichtensendungen sind, die uns gleichzeitig mit den Nachrichten über das Elend und die Gefahren der Welt allein durch ihr Gesicht auch die tröstliche Sicherheit vermitteln, dass die Welt morgen noch existieren wird und irgendwie alles gut kommt. Verdammt, wir wissen, dass Günther Jauch der bestbezahlte Journalist des Landes ist – ein Gesicht, dass dafür steht, dass die Welt doch noch irgendwie normal ist. Kurz: Emotion. Sie ist ein Teil des Inhalts. Nicht nur als Abkürzung für den schäbigen Teil des Boulevards, der den Intellekt ausblendet, sondern gleichberechtigt neben der sachlichen Information. So merkwürdig es klingt: Vielleicht ist es ein entscheidender Schritt, dass wir das Internet mit aufs Klo nehmen können.
Und, übrigens: Ich glaube es nicht, aber ich kann auch nicht ausschießen, dass Frank Schirrmacher das mit den Emotionen verstanden hat und seine verwirrten und verwirrenden Texte schreibt, um Menschen wahnsinnig aufzuregen. Ich jedenfalls habe seinen zweimal gelesen, insofern war er einmal mehr erfolgreich.

Die arschlochfreie Kette – oder: Was der Focus nicht hat

Gegen Ende des letzten Jahrtausends kaufte eine Getränkefirma die Rechte an der Marke Afri-Cola, einer alten deutschen Marke, die immer noch eine gewisse Beliebtheit hatte. Und weil Marken in den Augen mancher (Fach-) Leute heute wichtiger sind als der Inhalt, wurde der Geschmack des Getränks an den Mainstream angepasst – mit mehr Zucker und weniger Koffein. Kunden wurden dazu nicht gefragt. Es wurde ihnen nicht einmal mitgeteilt.
Einige Leute machte das ziemlich sauer: Sie gründeten eine eigene Cola-Marke, die weitestgehend nach dem Originalrezept unter dem Namen Premium-Cola inzwischen mehr als 300.000 Flaschen pro Jahr verkauft (was nicht viel ist, aber es ist was).
Aber das ist nicht alles. Wenn man ein kleines Erfrischungsgetränke-Unternehmen vor allem deshalb aufbaut, weil man sich von seinem angestammten Händler betrogen fühlt, dann muss das eigentlich Konsequenzen haben. Bei Premium-Cola hatte es die. Bei Premium-Cola will man alle mit Respekt behandeln und so, dass am Ende alle zufrieden sind mit dem, was sie kriegen: Kunden, Händler, Großhändler, Spediteure, Mitarbeiter – die Stakeholder würde man sagen, wenn man so etwas gerne sagt. Warum etwas machen, und es dann nicht perfekt machen? Ohne Tricks und Rabatte, ohne irgendjemanden auszuquetschen oder zu drängen? Wenn man im Gegenteil, alles genau so machen würde, dass alle Beteiligten mit jedem einzelnen Schritt gut leben können? Weil außerdem nur solche Menschen mitmachen, die es auch wollen? Wie wäre denn die Produktion in einer, wie es einer der Premium-Cola-Beteiligten nennt, „arschlochfreien Kette?“
Seit gestern ist der überarbeitete Focus auf dem Markt. Er ist das Ergebnis von einem Dreivierteljahr Arbeit in drei verschiedenen Teams, aus deren Ergebnissen angeblich ein Best-Of-Potpurri gemischt wurde. Und aus meiner Sicht ist es so: Wenn dies die besten Ideen von drei verschiedenen Teams zusammenführt, die neun Monate Zeit hatten, sich Gedanken zu machen, dann ist das Ende der Zeitschriften in diesem Land besiegelt. Zumindest die erste Ausgabe ist eine unvorstellbar preiswert billig anmutende Mischung aus Designelementen der Mitbewerber – aber nicht einmal gut geklaut. Den Umgang mit Fotografie muss man noch einmal gesondert herausheben, weil er den absoluten Tiefpunkt von allem markiert, das ich je gesehen habe. Es ist bodenlos: langweilig und schlecht, und wenn im ganzen Heft zwei Fotos auch nur entfernt in ihrer Aussage die Geschichte stützen, die sie illustrieren sollen, dann ist das wahrscheinlich Zufall. Im Regelfall ist auf einem Focus-Foto einfach nur eine lächelnde Person zu sehen, egal worum es geht, und dementsprechend absurd und handwerklich abenteurlich sehen die Seiten aus. Eine lächelnde Familienministerin neben der Headline „Züge eines Kulturkampfes“. Ein lächelnder Weißhaariger unter der Head „Von wegen Märtyrer“. Ein lächelnder Guido Knopp unter der Headline „Mit dem Zweiten reist man besser“. Um den Focus überhaupt verstehen zu können muss man alles, was in ihm steht, bereits wissen (um Guido Knopp wird gerade ein Skandälchen um zu teure Dienstreisen konstruiert). Bis hin zur vom Spiegel abgeguckten Personalien-Seite, auf der dann allerdings statt echter oder gar exklusiver Anekdoten auch zusammenhanglose Interviewschnipsel der Schauspielerin Kristin Scott Thomas verarbeitet werden: Focus wirkt inzwischen wie ein Nachrichtenmagazin, dessen Redakteure als einzigen Informationsquellen die selben Medien zur Verfügung stehen wie den Lesern auch. Vielleicht liegt es an der Fallhöhe des Genres Nachrichtenmagazin, aber ich habe noch nie erlebt, dass irgendein Produkt so sehr „Sparkurs“ geschrien hat wie dieser Focus. Was auch immer zwischen den stuhlklebenden und stuhlschiebenden Chefredakteuren dort los ist – dem Heft hat es nicht gut getan.
Ausgehend von dem Ergebnis der langen Entwicklungsarbeit bleibt eigentlich nur die Frage: Will man dort in München tatsächlich ein Nachrichtenmagazin machen?

Ich möchte keinen Vergleich ziehen, sondern ein systemisches Problem aufzeigen, deshalb schlage ich noch einmal den Bogen zu der konsensdemokratischen Premium-Cola, bei der mehr als 170 Menschen sich einig sein müssen über jeden Händler, der sie ausschenken darf (der erste war Harry Schulz von Harrys Lütt’n Grill, und der ist immer noch begeistert), was auf dem Etikett steht und welche Zeitschrift über sie berichten darf (bei anderen bittet man höflich darum, ignoriert zu werden). Man gibt Anti-Mengenrabatte, subventioniert also kleine Händler, für die die Transportkosten sonst im Verhältnis zu hoch wären. Nachhaltig und CO2-neutral ist die Produktion natürlich nebenbei auch, und seitdem man neuerdings auch ein Premium-Bier braut, investiert man auch einen festen Prozentsatz der Erlöse in die Alkoholismus-Prävention. „Die arschlochfreie Kette – oder: Was der Focus nicht hat“ weiterlesen