Filter-Bubble von innen: Ich sag jetzt auch was zu Krautreporter

Wenn meine internen Berechnungen stimmen dürfte irgendwann gestern Nacht der Moment gewesen sein, an dem jeder einzelne Pixel der Krautreporter-Seite in seiner Form, seinem Inhalt und auf einer philosophisch-politischen Ebene kritisiert wurde. Das muss ein Rekord sein!

Ich habe das möglicherweise nicht in allen Einzelheiten verfolgt, aber nach allem, was ich gelesen habe, leidet das Projekt an

 

Ich erhebe hier keinen Anspruch auf Vollzähligkeit. Ich will auch nicht als hundertster untersuchen, welche Kritik berechtigt ist und welche nicht. Ich würde allerdings festhalten wollen: Dem ersten Anschein nach ist das (noch nicht erschienene) Krautreporter-Magazin möglicherweise nicht perfekt.

Dass das für einige viele offenbar einer Katastrophe gleichkommt, liegt offenbar an einem Gedanken, den Thomas Knüwer in die Worte packt

Die Krautreporter stehen, gerade weil bekannte Namen unter ihnen sind, eben auch in der Verantwortung: Wenn sie scheitern, dürfte es auf absehbare Zeit keine, zumindest aber weniger journalistische Projekte ohne Konzernbeteiligung geben.

Und obwohl das ein eher butterweicher Satz ist („dürfte es auf absehbare Zeit […] weniger journalistische Projekte […] geben“ ist jetzt eher kein Katastrophen-Szenario), halte ich ihn – oder vielleicht besser: das Denken, das er (re-)präsentiert – für falsch.

Zum Stand heute haben die Krautreporter trotz aller ihrer möglichen Fehler die Bereitschaft von bisher knapp 6000 Menschen errungen, zusammen 360.000 Euro für Journalismus auszugeben. Das mag gemessen am selbstgesetzten Ziel von 15.000 Unterstützen und 900.000 Euro zu wenig sein – wenn das aber nicht, auch im Fall des möglichen Scheiterns der Krautreporter, noch mehr Journalisten darauf bringt, in absehbarer Zeit mit ihren guten Ideen neue Businessmodelle zu versuchen, dann sind das Problem sicher nicht die Krautreporter, sondern mangelnde Ideen.

Um es mal klar zu sagen: Ich halte Krautreporter für einen riesigen Erfolg.

Da draußen gibt es, nun nachgewiesen, hunderttausende Euro, die gern für guten Journalismus ausgegeben werden wollen. Warum dieser Nachweis ausgerechnet dazu führen soll, dass es in Zukunft weniger Bereitschaft (auf beiden Seiten) zu journalistischen Projekten gibt, ist mir ein Rätsel. Fällt denn niemandem was Geiles ein, das für 300.000 zu machen ist?

Insofern wundert mich die Heilserwartung, die an ein Projekt gehängt wird, das aus meiner Sicht vor allem ein völlig legitimes Experiment ist; Das nicht ohne Konzept antritt, sondern mit einer These: „Guckt mal, was passiert, wenn Journalismus unter okayen Bedingungen gemacht wird – wir glauben nämlich, Ihr werdet das mögen!“ Journalismus-optimierung in relativer Sicherheit und ohne Renditedruck – das reicht unter anderem mir dazu, 60 Euro dafür auszugeben. Per Kreditkarte. Und das, obwohl im Moment weder die vollständige Gleichberechtigung der Frauen noch die proportional faire Berücksichtigung von Journalisten mit Migrationshintergrund sichergestellt sind.

Oder, um es einmal so zu sagen: Ich glaube nicht, dass Krautreporter jemals alles können wird. Ich glaube aber, dass sie bestimmte Sachen ganz besonders gut können werden, und die sind locker die 60 Euro wert. Und ich hoffe, dass Krautreporter nicht das einzige großartige Journalismus-Projekt bleibt, sondern dass da viele folgen – in der Masse dann auch inklusive der Lösung aller Probleme von der Diskriminierung bis zu den Zahlungsmodalitäten.

Zunächst bin ich aber dankbar, dass einer einfach mal angefangen hat.

Wenn Sie mir also bitte folgen wollen, zu den Krautreportern geht es hier entlang. 
 

*PS. Dieser Mann hat sicher recht:

Jetzt doch: Kostenlos-Kultur im Netz – die deutsche Huffington Post

Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mich nicht provozieren zu lassen von der deutschen Huffington Post, die ich in praktisch jeder Hinsicht für unsäglichen Müll halte, aber wie das so ist: Nachdem nun die wenigen an sich normalen unter den Menschen, die für die deutsche „HuffPo“ schreiben, anfangen sich zu rechtfertigen (z.B. Nico Lumma hier und Karsten Lohmeyer hat gleich seinen bisher einzigen HuffPo-Beitrag zum Thema „Rechtfertigung für seinen bisher einzigen HuffPo-Beitrag“ geschrieben), fühle ich mich genötigt, ein paar Logikprobleme anzusprechen.

Kurz die Ausgangslage: Die deutsche Huffington Post will eine neue Form Journalismus bieten, an der vor allem neu ist, dass es für die Beiträge kein Honorar gibt. Stattdessen könnten Autoren die Reichweite der Plattform nutzen, auf sich Aufmerksam zu machen. Die Rechte an dem Text gehen dabei an die HuffPo (der Autor braucht eine Genehmigung, wenn er ihn z.B. auf seinem eigenen Blog auch nochmal veröffentlichen will), Kosten eventueller Rechtsstreitigkeiten bleiben am Autoren hängen.

Nico Lumma findet das irgendwie normal und nicht viel anders, als wenn er einen Gastbeitrag für die FAZ schreibt und wenn ich ihn richtig verstehe nicht einmal viel anders, als wenn er in seinen eigenen Blog schreibt. Karsten Lohmeyer findet das eine neue Art von Journalismus und zumindest das Experiment wert und „bettelt“ (das schreibt er) am Ende des Artikels um bezahlte Aufträge oder zumindest darum, ihm auf Twitter zu folgen.

Ich finde, beide haben Unrecht und die Huffington Post ist in jeder Hinsicht eine Zumutung.

Und das hat ein paar sehr einfache Gründe: Die US-amerikanische Mutter der deutschen HuffPo (bei der Arianna Huffington die Herausgeberin ist und nicht Cherno Jobatey) war eine Antwort auf die durchgedrehte rechte Blogszene der Staaten. Sie bündelte politisch liberale Stimmen als Gegengewicht. Weil sie dabei immer erfolgreicher wurde, entwickelte sich daraus das Geschäftsmodell mit der unbezahlten Arbeit. Die deutsche HuffPo beginnt gleich mit dem Geschäftsmodell und lässt die Politik weg. Nico Lumma sieht in der Gründung dann auch den Versuch, eine Meinungsplattform zu etablieren. Ich kann das nicht erkennen. Ich sehe den Versuch, ein billig produziertes Anzeigenumfeld zu basteln. Das ist ein fundamentaler Unterschied, weil der Unternehmung die innere Zielsetzung fehlt. Sie ist ausschließlich funktional interessiert. Ich möchte das mal an einem Bild durchdeklinieren.

Nehmen wir an, ich wäre ein Journalist und würde für die HuffPo schreiben dürfen. Eine Bezahlung bekomme ich nicht, mein Honorar ist nur die Aufmerksamkeit, die ich generiere. Diese Aufmerksamkeit kann ich dann möglicherweise woanders zu Geld machen. Dadurch passieren zwei Dinge: Erstens mal muss ich versuchen, so viel Aufmerksamkeit wie möglich zu generieren. Ich werde also jedes Mittel wählen, meine Geschichte so dramatisch wie möglich zu erzählen. Als Beispiel bietet sich wieder Lohmeyer an, dessen Überschrift ist „Steinigt mich, ich schreibe für die Huffington Post“. Und was für die einzelnen Geschichten gilt, gilt auch für die ganze Seite, die auf eine noch hässlichere Art aufgeregt ist als Rainer Brüderle am Veggie-Day. Bei näherer Betrachtung ist auch klar, warum das gar nicht anders sein kann: Wenn die deutsche HuffPo keine Agenda hat sondern nur ein Unternehmen ist, aber die meisten Autoren nicht in Geld bezahlt werden, sondern in Werbefläche für sich oder ihre Sache, dann besteht das Medium letztlich aus nichts als aneinandergeklatschten Anzeigen. Das ist nicht „Journalismus 3.0“, wie Lohmeyer es nennt, es ist haargenau das Gegenteil: Journalismus definiert sich ziemlich genau dadurch, dass er eben nicht den Inhalt des Berichts davon abhängig macht, was die Folge des Berichtes ist. Wenn ich einen Text schreibe, um damit eine bestimmte Handlung zu bewirken, ist es Werbung. Wenn ich einen Text schreibe, damit mich jemand anders bucht, für ihn einen Text zu schreiben oder einen Vortrag zu halten, dann ist es Werbung und nicht Journalismus, auch nicht Punkt null (ich möchte übrigens nie wieder hören, irgendwas wäre irgendeine Zahl Punkt null. Ich finde das affig).

Dabei ist dann auch klar, warum es sich hierbei eben nicht um ein System handelt, indem der klassische Gastbeitrag zur Regel erhoben wird. Ein Gastbeitrag setzt eine Struktur voraus, in der der Gast die Ausnahme ist – die unabhängige Stimme. Nico Lumma zum Beispiel ist eine solche unabhängige Stimme, und er erhebt sie regelmäßig zum Beispiel auf seinem Blog. Er schreibt dort und für die HuffPo, weil er bestimmte Vorstellungen davon hat, wie die Welt sein sollte, und dafür hat er natürlich lieber viel Publikum als wenig. Das ist alles gut. Aber kein Journalismus, sondern politische PR. Da habe ich überhaupt nichts gegen, ich bin sogar sehr oft seiner Meinung (Disclosure: Ich war ein paar Jahre lang gemeinsam mit ihm in der SPD), aber es ist Werbung für eine (wenn auch gute) Sache. Das kann nicht die Zukunft des Journalismus sein, weil es eben kein Journalismus ist. Wenn diese Art Beiträge aber das Herz der HuffPo sind (garniert von ein paar aufgebohrten Agenturmeldungen. In dem Moment, wo ich das hier schreibe, ist der Aufmacher unter einer Überschrift von der Größe eines Scheunentores eine eher schmierige dpa-Geschichte über die Quadratmeterzahl der Dienstwohnungen deutscher Bischöfe), dann ist das Herz der HuffPo PR und nicht Journalismus.

Und der nächste Schritt ist dann der allerwitzigste: Wenn die HuffPo-Macher Journalisten auffordern, das Schreiben für die HuffPo als Werbung für sich selbst zu betrachten, dann müssen sie nach der unternehmerischen Logik davon ausgehen, dass diese Autoren die Arbeitszeit als Werbekosten verstehen. Und Werbekosten müssen von irgendwem bezahlt werden, denn Kosten bleiben sie ja. Das Geschäftsmodell der HuffPo ist also, dass andere, klassische im Sinne von: bezahlende Medien indirekt (Lohmeyer schreibt „über Bande“) für den „Journalismus 3.0“ der HuffPo bezahlen. Uncooler geht es gar nicht, schon gar nicht, wenn man bedenkt, dass die deutsche HuffPo dafür mit dem Burda-Verlag kooperiert, der so die Zerstörung seines eigenen Geschäftsmodells querfinanziert.

Das also bleibt: Die HuffPo will sich inhaltlich bestückt sehen von Leuten, die eine Werbebotschaft haben für ein – irgendein – Ziel, im Zweifel für die eigene Dienstleistung. Dabei müssen sie auch noch die Rechte an ihren Werken aufgeben. Dabei gehen die Macher explizit davon aus, dass ihre Autoren von anderen bezahlt werden. Dass ein solcher Autor per Definition eigentlich nie die innere Unabhängigkeit haben kann, die einmal die mentale Voraussetzung für Journalismus war, ist offensichtlich. Und dann führt es auch noch dazu, dass die Geschichten in ihrem Kampf um Aufmerksamkeit schreiend, blinkend und aufgetakelt daherkommen wie Olivia Jones nach zehn Herrengedecken.

Nein, ich bin nicht dafür. Ich halte das für ein obskures Unterfangen, das im US-Kontext möglicherweise sinnhaft begonnen hatte (inzwischen ist das auch nur noch eine hässliche Sammlung völlig übergeigter Überschriften und mäßig relevanter Youtube-Videos) aber hier selbst im besten Fall überwiegend, eigentlich möchte ich sagen: praktisch ausschließlich destruktive Wirkung entfalten kann und wird. Für keinen einzigen Journalisten wird es sich lohnen, kostenlos für die HuffPo zu schreiben, stattdessen wird es höchstens eine Abwurfstelle für professionelle, anderweitig bezahlte Meinung-Haber und -Äußerer sein.

HuffPo, mach es dir doch einfach selbst.

 

PS. Um das ganze noch ein bisschen meta zu machen freue ich mich, dass die Kollegen von Carta diesen Beitrag crossposten. Das ist nämlich der Unterschied: Ich kann hier machen, was ich will – und es gehört mir auch hinterher noch. Die Redaktion von Carta kann kuratieren, was zu ihrer Linie passt, und ich kriege ein bisschen mehr Aufmerksamkeit für mein Weltbild. So wird ein Schuh draus. Allerdings natürlich auch kein Geschäft.

Jetzt live: Abschalten

Wenn die Journalistin Danae Coulmas sich in Athen oder Thessaloniki in ein Taxi setzte, dann passierte es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder, dass der Fahrer sie an ihrer Stimme erkannte. Und sich bei ihr bedankte. Denn Danae Coulmas war während der Jahre der griechischen Obristen-Junta eine der wenigen Stimmen der echten, freien Information gewesen, die es noch gab. Sie war Radiojournalistin beim staatlichen Rundfunk, und die Menschen hörten ihre Sendung, um herauszufinden, was tatsächlich in der Welt los war. Und im diktatorisch regierten Griechenland. Denn sie sendete aus Westdeutschland: Danae Coulmas war beim griechischen Dienst der Deutschen Welle. Griechenland selbst hatte in dieser Zeit keinen unabhängigen Rundfunk. Und für viele Griechen ist bis heute die Deutsche Welle (und damit – in diesen Tagen mag das für manche unerwartet sein – auch Deutschland an sich) ein echter Freund im Kampf für die Freiheit.

Coulmas, die ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Junta 1975 in den griechischen diplomatischen Dienst eintrat und später als Dichterin und Übersetzerin viel größeren Ruhm erlangte, ist im vergangenen Jahr für ihre Verdienste um die Kultur gewürdigt worden. Die Ereignisse der vergangenen Tage zeigen hingegen, wie schnell es geht, dass „unabhängige“, zumindest unabhängig berichtende Medien ab-, aus- oder gleichgeschaltet werden. In Griechenland ist seit gestern Nacht der Staatsrundfunk ERT mit seinen Fernseh- und Radioprogrammen nicht mehr auf Sendung. Die Regierung hat ihn abgeschaltet, weil er zu teuer war.

Die Erfahrung zeigt, dass wenig auf der Welt wertvoller ist als eine funktionierende Demokratie, und für eine funktionierende Demokratie ist der freie Fluss der Information konstituierend. Nur ein informierter Bürger kann eine sinnvolle Entscheidung treffen. Insofern ist das Argument schwierig anzuwenden: zu teuer. Demokratie ist keine Frage des Preises. Ob speziell die Leistung des ERT unter demokratischen Bedingungen billiger zu haben wäre mag ich nicht beurteilen, es mag durchaus erstrebenswert sein. Ihn aber einfach abzustellen ist ein Akt der Diktatur – eben unabhängig davon, ob mir oder irgendwem das Programm passen oder nicht. Das eigentlich Schlimme daran ist aber: Dieser Akt der Diktatur passt genau in die Logik der sogenannten Euro-Rettung, nach der jede Art von staatlicher oder gar demokratischer Aktivität teurer Luxus ist, der zugunsten privater Gewinne zu unterbleiben hat. Über die Handlungen der Euro-Retter hat noch nie in Europa jemand abgestimmt. Bezahlen mussten die Bürger sie trotzdem.

Dabei sind alle gestiegenen Staatsschulden überall – inklusive der deutschen – direkt auf die Rettung privater Banken zurückzuführen. Es sind eben haargenau „die Privaten“, die diese Krise verursacht haben. Die Bürger zum Beispiel in Griechenland bezahlen dafür nicht nur bitterlich in Geld, sondern auch mit dem Verlust der Möglichkeit demokratischer Einflussnahme. Es gab kein Euro-Referendum, stattdessen eine massive Einflussnahme auch des Auslands auf die Parlamentswahl und nun offensichtlich eine Beschneidung der freien Information. Griechenlands alte Garde ist immer noch an der Macht, die niemand prägnanter verkörpert als der amtierende Ministerpräsident Samaras, der auch noch als politischer Hütchenspieler jahrelang jede Bemühung um eine Lösung der griechischen Staatskrise blockiert hat. Jetzt schließt er Rundfunksender. Demokratie ist ihm offenbar zu teuer.

Was bleibt ist der fatale Eindruck, dass Demokratie in Europa nur noch für solche Staaten vorgesehen ist, die sie sich leisten können. „Wir müssen aufpassen, dass die Demokratie auch marktkonform ist“, hatte Angela Merkel einmal ihr Verhältnis zur Staatsquote beschrieben. Bizarrer Weise schafft Europa unter ihrer Führung, diesen Satz auch noch so auszulegen, dass von jeder der möglichen Welten das Schlimmste übrig bleibt: Die Demokratie ordnet sich dem Markt unter und verabschiedet sich da, wo sie „zu teuer“ wird. Und gleichzeitig verabschiedet sich der Markt und man rettet private Pleitebanken mit Steuergeld, ohne dem Steuerzahler dafür eine Gegenleistung zu bieten – ganz besonders nicht in Form von demokratischen Mitspracherechten.

Ich habe eingangs die kulturelle Leistung von Danae Coulmas erwähnt, und das ist es, worauf ich eigentlich hinauswollte: Der Markt ist selbstverständlich nur ein Werkzeug, um eine demokratische Gesellschaft zu ernähren und zu informieren. Er ist kein Selbstzweck. Es ist schlimm, das überhaupt sagen zu müssen. Vor allem, weil auch die demokratische Gesellschaft kein Selbstzweck ist: Sie ist nur die für uns beste Möglichkeit, dem Menschen als kulturellem Wesen ein bisschen Raum zu geben. Wir überwinden den Hunger und die Unterdrückung, um Raum zu haben für etwas besseres. Wir lösen die dringenden Probleme zuerst, um zu den wichtigen Aufgaben zu gelangen. Freiheit ist ja nicht das Ende der Entwicklung, sondern eigentlich erst ihr wahrer Anfang. Danae Coulmas hat es richtig gemacht: Natürlich müssen Faschisten abtreten, überall – und die Freiheit, die folgt, füllen wir mit Kultur.

Das ist es, was diese Krise Europas uns vor Augen führt: Dass wir Schritt für Schritt jedes Gefühl verlieren und offenbar auch verlieren sollen für das Wichtige, das Richtige. Da sind die Kosten eines Rundfunks plötzlich als Frage so dringend, dass die wichtige Aufgabe des Rundfunks hintanstehen muss. Da schmerzen die drückenden Schuldzinsen eines Landes so akut, dass demokratische Beteiligung warten muss. Kultur? Wenn wir es uns leisten können. Dann ganz bestimmt.

Nur, dass sie bis dahin nicht mehr da ist. Denn wer es ständig verschiebt, das Richtige zu tun, weil er es sich gerade nicht leisten kann, der wird an dem Tag, an dem er es sich leisten könnte, verlernt haben, was es ist.

Mein dir deine Bildung!

Das neueste Werk des jungen deutschen Autoren Paul Ronzheimer,

GEHEIMBERICHT ENTHÜLLT
So hat uns Zypern betrogen!
So schlimm ist es mit der Geldwäsche wirklich

ist sein bis heute vielleicht vielschichtigstes, stilistisch wie auch inhaltlich. Schon formal sprengt er bisher für unverrückbar gehaltene Konventionen. Nehmen wir den schon früh im Text auftauchenden Dreiklang aus Behauptung, Tempowechsel und etwas, das Ronzheimer (offenbar in Anspielung auf das Konzept „Realität“) „Fakten“ nennt:

Experten prüften im Auftrag des Europarats im März den zyprischen Bankensektor, fassten in einem Report (liegt BILD vor) ihre Ergebnisse zusammen. Sie analysierten Daten von insgesamt 390 Topkunden mit mehr als zwei Milliarden Euro Einlagen bei sechs zyprischen Banken.

Schon die schiere Größe könnte einem Angst machen, wenn man bedenkt, dass jeder dieser 390 Topkunden offenbar mehr als zwölf Milliarden Euro über sechs Banken verteilt hat. Insgesamt reden wir hier also über mindestens 390 mal zwölf Milliarden, das sind 4,68 Billionen Euro! Oder um insgesamt doch nur zwei Milliarden, das wird hier nicht ganz klar, aber weg von diesen … Dings hin zu den „Fakten“.

Die erschreckenden Fakten:

• Von 14 000 Firmen sind allein 12 000 Briefkastenfirmen.
• Laut Register soll es auf Zypern insgesamt „nur“ 270 000 Firmen geben. Allerdings wurden allein seit 2010 mehr als 56 000 gegründet.

Diese 390 Topkunden haben also 14 000 Firmen, von denen … nein, Moment: Es gibt auf Zypern „nur“ 270 000 Firmen, von denen die 390 Topkunden … nein. Also die 14 000 … aber davon 56 000 neu … Sie bemerken den virtuosen Umgang des Autors mit verschiedenen Ebenen von sogenannten „Fakten“.

Großartig ist aber auch der Einsatz einer einzigartigen Form von „Realität“.

• Eine Überprüfung in Datenbanken zeigte, dass von 390 Kunden alleine rund 10 Prozent politisch exponierte Personen sind, aber von den Banken nicht als solche gekennzeichnet werden.

Ich weiß nicht, wie viele Versuche man brauchte, um in irgendeinem Land der Welt bei den größten Banken zu suchen, bis man eine findet, die unter den „Topkunden“ nicht zehn Prozent „politisch exponierte“ hätte – aber was das ist und wie man sie kennzeichnet hätte der Autor nach meinem Geschmack auch gerne noch imaginieren können.

• Die Prüfer deckten auch kriminelle Geldwäsche auf. So geht aus einigen Dokumenten etwa hervor, dass einer der Kunden der „Bank of Cyprus“ ein verurteilter russischer Betrüger ist. Er soll fünf zyprische Banken genutzt haben, um Gelder in Höhe von 31 Millionen Dollar zu waschen.

Die zyprische Regierung hatte während der Krise im März immer wieder beteuert, dass das Land kein Schwarzgeld-Problem habe und die Vorwürfe gelogen seien.

Das ist ein ziemlich gewagter Sprung von einem (!) (irgendwo?) verurteilten Russen zum „Schwarzgeldproblem“ eines ganzen (nichtrussischen) Landes, das dann offenbar dazu führt, dass

„der Bundestag die Hilfen für die Pleite-Insel (insgesamt 10 Milliarden Euro) nie hätte freigeben dürfen!“

Ich werde kurz mal nicht darauf eingehen, dass es sich bei den „Hilfen“ wie immer um Kredite handelt, denn ich sehe ein, dass Ronzheimer sich offenbar in der Verantwortung sieht, die Faschos in der Kommentarspalte zu füttern.

Offensichtlich hat sich Paul Ronzheimer bei seinem unermüdlichen Versuch BILD-Leser gegen Südeuropäer aufzuhetzen inzwischen davon verabschiedet, auch nur den Anschein erwecken zu wollen, so etwas wie Argumente, Fakten oder Logik zu verwenden. Er tippt einfach irgendetwas und schreibt seine Schlussfolgerung ohne Zusammenhang dazu. Und die ist, wie man aus der Diskussion um die Reparationszahlungen für Griechenland weiß (obwohl er selbstverständlich Anfragen zu dem Thema von mir nicht beantwortet, aber immerhin andere) ja nur „seine Meinung“ – was für ihn bedeutet, dass man sie nicht weiter begründen muss. Er hat sie einfach.

Als eine unlustige Form des Dadaismus ist Ronzheimers Text möglicherweise stilbildend. Meinem Verständnis nach bildet sie sogar eine neue Gattung, die ich gerne „Ödöismus“ nennen würde. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie (besonders aber nicht ausschließlich in Bezug auf ihre Gesamtaussage) in sich unschlüssig, schlecht geschrieben und mindestens ein bisschen schmierig ist.

Mannmannmann, muss das unangenehm sein, so zu sein.

Schamlose Werbung für mein tolles neues elektrisches Buch!

Heute ist mein eBook „Hände weg von Griechenland“ in der Reihe Campus Keynotes erschienen. Ich finde das persönlich aus vier Gründen aufregend, von denen drei statthaft sind.

Hände weg von Griechenland Cover
Hände weg von Griechenland

Erstens, zweitens und drittens: Die Situation in der Krise in Griechenland ist verfahren, und das hat Auswirkungen weit über das kleine Land hinaus. Nicht deshalb, weil irgendetwas, das in der griechischen Wirtschaft oder der Wirtschaftspolitik passiert direkt schwer wiegende Auswirkungen auf Europa hätte. Das Land macht weniger als drei Prozent der Wirtschaftsleistung der EU aus, vergleichbar mit Hessen. Wenn Griechenland sich morgen in einen Frosch verwandeln würde, fühlte sich das für den Rest Europas an wie eine Rezession (außer für Waffenproduzenten. Aber wer hat Mitleid mit Waffenproduzenten?).

Die Auswirkungen sind andere: Der Umgang Europas mit der Krise zeigt den Umgang Europas mit dem gemeinsamen Projekt. Wenn Europa sich schlecht behandelt wird es ihm gehen wie einem Menschen, der seine Vereinbarungen mit sich selbst nicht einhält: er kollabiert oder er wird ein Arschloch. Er verliert seine Gesundheit oder seine Werte.

Tatsächlich verliert Griechenland gerade die Reste seiner ohnehin suboptimalen wirtschaftlichen Gesundheit und verfällt in elendes Siechtum. Und Kerneuropa, leider unter deutscher Führung, verordnet den Ländern in Sünd-Europa das exakte Gegenteil dessen, womit Deutschland „besser als andere durch die Krise gekommen ist“, wie auch die Kanzlerin nicht müde wird zu betonen. Deutschland handelt gegen wirtschaftliche Vernunft, zumindest dann, wenn man die Vernunft auf ganz Europa anwendet. Ein Gesamteuropa aus gleichberechtigten Partnern. In Griechenland, Portugal, Spanien und einer ganzen Reihe von anderen Ländern wird das verstanden als Zeichen dafür, dass die Länder Kerneuropas kein Europa der Partner wollen. Die griechische Krise, zu der ja eine ganze Reihe von teilweise bizarren, kriminellen oder zumindest widerlichen Fehlleistungen der Elite des Landes beigetragen haben, gibt den Regierungen Kerneuropas dabei fadenscheinige Vorwände. Die „faulen, korrupten Griechen“ halt. Das ist albern, aber es verfängt. Und all diese Dinge auseinander zu klamüsern braucht ein bisschen Platz – mehr jedenfalls, als selbst ich ihn mir in meinen notorisch zu langen Blogbeiträgen hier nehme.

Deshalb bin ich irre glücklich darüber, Teil dieses großen Versuchs zu sein, ob sich nicht ein neues Format findet, das ich „die spannenden drei Kapitel eines Sachbuchs“ nenne (mein Buch hat übrigens fünf Kapitel. Ich bin offensichtlich nicht gut darin, mir Namen auszudenken). Diese Form der überlangen Reportage, „für den New Yorker zu lang und für ein Buch zu kurz“ finde ich ausprobierenswert. Ich habe keine Ahnung, ob das Format jemand außer mir lesen will. Ich mache es manchmal, aber ich halte auch eine perfekte Angelstelle für eine, an der außer mir keine Angler sind – obwohl ich weiß, dass das der Grund ist, warum ich praktisch nie einen Fisch fange. Soll heißen: Ich sehe ein, dass ich manche Dinge tue, die andere so nicht tun. Wo war ich? Ach ja: Experiment. Gute Sache. Ich bin dabei.

Und drittens habe auch ich immer noch keine Lösung für diese Urheberrechtsfrage. Ich weiß, dass mein eBook wie jedes andere kopiert und weitergegeben werden kann, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Und ich fände das einerseits nicht in Ordnung, weil das Schreiben meine Arbeit ist und ich prinzipiell finde, das Arbeit bezahlt gehört. Ich bin hier in einer doppelt komfortablen Situation, weil ich erstens dieses Buch nebenbei nachts geschrieben habe (und so lang ist es ja nicht), also nicht davon leben muss, und mich zweitens ja ehrlich über die Verbreitung der Botschaft freue. Sie ist mir ungleich viel wichtiger, als Geld damit zu verdienen (ich spreche auch auf Veranstaltungen zum Thema, ohne Geld dafür zu bekommen). Da das alles für mich ohnehin ein unplanbares Experiment ist, habe ich auch nicht geplant, Geld damit zu verdienen. Ich freue mich ehrlich über jeden einzelnen Leser, wo und wie auch immer er gelesen hat.

Aber um es noch einmal deutlich zu sagen: Ich finde, wer ein Buch schreibt, sollte bezahlt werden. Ein Verlag, der in diesem Fall mit der Idee an mich herangetreten ist, das Buch wunderbar lektoriert hat und nun Vertrieb, Werbung und alles mögliche dafür übernimmt, sollte damit Geld verdienen können. Und mein Agent Alexander Simon, der dafür sorgt, dass ich mich nicht durch Verträge quälen muss, die ich nicht verstehe und mit denen ich nichts zu tun haben will, sollte Geld mit mir verdienen können. Ich bin jetzt Teil dieser Debatte und freue mich drauf, weil ich glaube, dass wir Lösungen brauchen.

Viertens – jetzt kommt etwas dummes – war ich heute morgen einigermaßen geplättet, als ich feststellte, dass ich als Gründungsmitglied der Reihe Campus Keynotes quasi zum ersten und sicher einzigen Mal in einer Reihe mit Paul Krugman stehe, den ich sehr verehre. Das ist natürlich albern, aber es macht mir genau gleich viel Angst wie Freude, und das ist ein tolles Gefühl. Es erinnert mich an den einzigen Fallschirmsprung, den ich je gemacht habe. Mannmann, ich werde echt alt.

PS. Rechts oben kann man mein Buch gleich bei Amazon bestellen, und wenn man es über diesen Knopf macht, kriege ich – wenn ich die AGBs richtig verstanden habe – nochmal ein paar Cents mehr! Hallo!

Liebe Piraten, wie mache ich das jetzt mit meinem Ebook?

Ich schleppe seit einiger Zeit eine Mischung aus Unwohlsein und Freude über die breite Diskussion um die Piraten mit mir herum, und im Moment kumuliert sie in meinem Kopf zu einem Haufen, den ich gerne abtragen würde. Das hat drei Gründe:

Zum ersten bin ich selbst politisch auf einer hyperlokalen Ebene aktiv – im SPD-Distrikt (der Hamburger Name für „Ortsverein“) Altona-Altstadt – und freue mich gleich dreifach über die Piraten. Sie schaffen es offensichtlich, Nichtwähler wieder für Politik zu interessieren, sie reißen Diskussionsfelder auf, die von vielen langjährigen Mitgliedern der anderen Parteien oft gar nicht als solche verstanden werden (nämlich den Unmut mit der Parteiendemokratie selbst) und sie haben es geschafft, dass in den Diskussionen um Netzfreiheit, Urheberrechte und andere Aspekte der neuen digitalen Öffentlichkeit eine weitere, gewichtige Stimme teilnimmt. Ich freue mich also, dass es die Piraten gibt und darüber, dass sie etwas sagen. Allerdings lässt mich das, was sie sagen und was sie nicht sagen, meist vollkommen ratlos zurück.

Das liegt daran, dass sie zu den Fragen, die sich mir aktuell stellen, entweder nichts zu sagen haben oder es gut verstecken. Dabei sind Fragen dabei, auf die sie Antworten geben können sollten.

Ich habe ein kleines Buch geschrieben, natürlich über Griechenland. Es wird als Ebook erscheinen, (übrigens unter dem Titel „Hände weg von Griechenland“) in einer Reihe von kurzen Ebooks zu Sachthemen. Ich werde dafür hier noch ausgiebig werben, aber für mich war das Besondere eben, dass es in Zukunft möglicherweise einen Markt gibt für Sachbücher, die nur ein Drittel bis die Hälfte eines „normalen“ Buches lang sind. Ich habe viel zu oft Bücher gelesen, die gut angefangen haben, und beim fünften Kapitel stellte man fest, dass die Idee des Autors nur für vier Kapitel gereicht hat. Aber bisher musste man als Autor dann eben noch so viel Zeug dazuschreiben, bis es sich gelohnt hat, das ganze Ding zwischen Buchdeckel zu packen. Ich hoffe, das ist in Zukunft anders. Aber meine Frage ist: Die Piraten fordern, ich solle das „nichtkommerzielle“ kopieren meines Werkes als natürlich betrachten und mir andere Geschäftsmodelle suchen, als das Buch einfach zu verkaufen. Ich zitiere aus den Zielen auf der Webseite der Partei:

Wir sind der Überzeugung, dass die nichtkommerzielle Vervielfältigung und Nutzung von Werken als natürlich betrachtet werden sollte und die Interessen der Urheber entgegen anders lautender Behauptungen von bestimmten Interessengruppen nicht negativ tangiert. Es konnte in der Vergangenheit kein solcher Zusammenhang schlüssig belegt werden. In der Tat existiert eine Vielzahl von innovativen Geschäftskonzepten, welche die freie Verfügbarkeit bewusst zu ihrem Vorteil nutzen und Urheber unabhängiger von bestehenden Marktstrukturen machen können.

Das lässt mich einigermaßen ratlos zurück. Nochmal, ich bin eigentlich eine Art Sympathisant. Mir liegt viel an der ständigen Weiterentwicklung der Demokratie und der gesellschaftlichen Teilhabe. Ich habe sogar den Eindruck, ich trage meinen Teil dazu bei. Ich finde die Behauptung, es herrsche „im Internet“ eine „Kostenlos-Kultur“ falsch und albern. Aber nachdem die Piraten in Deutschland und überall sonst, wo es sie gibt, seit Jahren diese Diskussion führen, ist das der Stand ihrer Forderungen? Ihre Forderung ist, ich soll mir gefälligst was Neues ausdenken?

Nicht ganz. In den Politik-FAQ findet man noch das hier:

Wie sollen die Künstler dann an ihr Geld kommen? – Die müssen ja auch irgendwie leben.

Unter anderem wird die Idee der „Kulturflatrate“ diskutiert. Zusätzlich bieten Konzerte, Fanartikel, Spenden und staatliche Kunstförderung weitere Einnahmemöglichkeiten. Auch andere Modelle werden hier diskutiert.
Die Schallplatte kostete in den 80ern 18 DM, die CD kostete in den 90ern 29,90 DM, heute kostet ein Lied 99 ct. Im gleichen Zeitraum sind die Vervielfältigungskosten hingegen exorbitant gesunken.

Das ist es, was ihnen bisher eingefallen ist? Und was mache ich jetzt? Ich hätte an diesem Punkt längst zwei Dutzend konkrete, miteinander konkurrierende Ideen in der Diskussion erwartet. Bei einem Thema, das offensichtlich ein Kernthema dieser (in Schweden) 2006 gegründeten Partei ist? Das ist echt wenig!

Ich weiß, es steht die Forderung im Raum, einen Runden Tisch mit Urhebern, Verwertern usw. einzuberufen, der Ideen entwickeln soll. Aber hier, ganz konkret in meinem Fall als Urheber bin ich schockiert, wie wenig konkret die Vorschläge bisher sind. Und das ist erst der Anfang.

In meinem Buch geht es um die Frage, ob unter dem Deckmantel der Krise nicht eigentlich die europäische Demokratie abgeschafft wird. In Griechenland ist es so weit, dass die Bürger durch Wahlen keinen Einfluss mehr auf die Politik haben, weil sich die Politiker längst in Verträgen auf eine bestimmte Politik haben verpflichten lassen. Die Gründe dafür sind wirtschaftliche (d.h., Banken, die auf ihr Geld warten). Das ist die Abschaffung von Demokratie, und sie wird von den Regierungen der starken Nationen in Europa gefördert und gefordert. Eine gefährliche Entwicklung. Zu den Piraten findet sich dazu natürlich nichts, wie überhaupt zur Eurokrise, wie überhaupt zu Europa. Ich frage mich, wie lange man sich als junge Partei Zeit nehmen kann oder sogar muss, bis man eine Meinung dazu hat? Die Piraten haben immerhin zwei schwedische Abgeordnete im Europaparlament sitzen.

Und ist es nicht eigentlich so, dass man als tiefenvernetzte Piratenpartei viel schneller die Meinungen der Mitglieder zu einer Parteilinie zusammenfassen kann? Warum dauert es bei den Piraten dann so lang, bis sie mal ein konkretes politisches Ziel benennen? Würde eine politische Festlegung, was man eigentlich im Einzelnen zu Themen denkt nicht auch die unsäglichen Nazidiskussionen ein für alle Mal beenden? Ich glaube nämlich kein bisschen, dass die Partei irgendwo rechtsradikal ist, aber man müsste sich da mal drauf einigen, damit die versprengten Rechtsradikalen austreten oder rausgeworfen werden können. Auf der anderen Seite: Mein unangenehmer Eindruck ist, dass die Freiheit der Piraten bisher auch die Freiheit einschließt, sich für alles gleichzeitig oder entsprechend für gar nichts zu entscheiden. Und „alles gleichzeitig“ schließt eben auch rechtsradikales mit ein. Gar nichts schließt gar nichts aus. Jede Entscheidung für etwas ist schließlich auch eine Entscheidung gegen alles andere, vor allem in der Politik, wo die Abstimmung über einen Antrag letztlich das Werkzeug ist, und Zustimmung oder Ablehnung die einzig möglichen Antworten, auch wenn das unerträglich brutal wirkt angesichts von Diskussionen, innerlichen und äußeren, die in Wahrheit 51 zu 49 stehen und kaum guten Gewissens mit ja oder nein entschieden werden können. Am Ende muss abgestimmt werden. Willkommen im wahren Leben.

Aber das sind offensichtlich die konkreten Probleme einer Partei, die in Wahrheit in ihrer Entwicklung weit hinter ihrem Erfolg zurückbleibt (zum Teil aus meiner Sicht eben gerade auch deshalb, weil sie so unkonkret ist ist und deshalb so viel Fantasie zulässt. Die Piraten sind für jeden das, was er denkt, dass sie es sind) und noch lange nicht im Parteisein angekommen ist. Das wird sich irgendwann alles finden. Wenn wir uns also für einen Augenblick vorstellen, die Partei würde diese Phase relativ gut überstehen und irgendwann tatsächlich Grundsätzliches zur Politik des Landes und Europas beisteuern können. Den Grundsatz der Transparenz zum Beispiel. Wäre größere Transparenz nicht ein riesiger Fortschritt für Europa?

Ich bin sicher, das instinktiv erst einmal jeder zustimmen würde, dass mehr Transparenz für die Politik und für Europa eine gute Sache wäre. Und bei der ersten Nachfrage, in welchem Bereich eigentlich, kämen die meisten von uns ins Straucheln. Was genau ist eigentlich intransparent in Europa? In Deutschland? In der Politik? Wer von uns bekommt eigentlich welche Information nicht? Oder ist es nicht so, dass uns die meisten Informationen einfach gar nicht interessieren? Auf meiner hyperlokalen Ebene der Politik ist es so: Das Problem der Verwaltung eines Bezirks wie Hamburg-Altona (mit 250.000 Einwohnern) ist oft weniger, dass Informationen nicht herausgegeben werden. Es ist eher so, dass zu den allermeisten öffentlichen Veranstaltungen kaum jemand kommt, dass die öffentlichen Papiere on- wie offline praktisch niemand liest und dass es echtes Interesse erst sehr spät im Prozess gibt, wenn die wichtigsten Entscheidungen längst getroffen sind. Das ist verständlich: Wer will sich endlose Anhörungen antun zu Bauvorhaben, die erst in zehn Jahren einmal fertig sein werden? Wer will all die öffentlichen Ankündigungen lesen einfach nur deshalb, weil möglicherweise irgendwann irgendwo etwas dabei ist, mit dem man zutiefst unzufrieden wäre? Transparenz an sich ist sicher richtig, aber wertvoll wird sie ja erst, wenn sie tatsächlich jemand nutzt und all das überprüft, das da transparent gemacht wird.

Das, was die Piraten aus meiner Sicht sein könnten ist also Anstoß geben zu einer neuen Kultur des Teilnehmens an politischen Prozessen. Ein neuer Anlauf in Demokratie, der Versuch, die „etablierten Parteien“ ein Stück weit aus den eingefahrenen Bahnen zu befreien. Das ist der Teil, den ich uneingeschränkt begrüße. Bizarrerweise finde ich die aus meiner Sicht großartigsten Vertreter dieser Kultur allerdings bunt gemischt überall, bisher wegen der kurzen Biografie der Partei natürlich am wenigsten auffällig bei den Piraten. Ich erlebe Menschen, die Jahre und Jahrzehnte lang in Gremien wie dem Ausschuss für Umwelt, Gesundheit und Naturschutz der Bezirksversammlung Altona sitzen und einen guten Job machen, für den sie weder Ruhm noch Anerkennung ernten (aber für drei Stunden plus Vorbereitung gerade mal 21 Euro Aufwandsentschädigung). Es gibt sie unter der Flagge jeder etablierten Partei und auch als Parteilose. Sie sind diejenigen, die tatsächlich mitbekommen, was passiert – weil sie da sind. Sie sind diejenigen, die Transparenz erst wertvoll machen. Sie sind die, die das Versprechen der Piraten wahrmachen. Und sie sind gleichzeitig die, gegen die die Piraten ihre Erfolge einfahren und gegen die sie auch Stimmung machen, nämlich „die Politik“.

In Wahrheit glaube ich, dass die Piraten im Verlaufe ihrer Parteiwerdung ihren Appeal verlieren werden. Und angesichts der Vielfalt von politischer Meinung, die im Moment noch innerhalb der Piraten vertreten wird, angesichts der Tatsache, dass sich dort offenbar bis nach weit rechts verschiedenste Gesinnungen tummeln, bin ich mir auch nicht sicher, ob sich das Projekt als Partei tatsächlich schlau konstituiert hat. Ich glaube, in Wahrheit braucht es für die drei Kernforderungen Transparenz, Teilhabe und eine zeitgemäße Umsetzung von Rechten in der digitalen Welt wahrscheinlich nicht eine Partei, sondern alle. Piraten in allen Parteien sozusagen. Für mich sind die Piraten, wenn ich ehrlich bin, eher eine kulturelle Strömung als eine politische, und so lange sie sich politisch nicht festlegen lassen wollen, so lange sie zu Europa nichts und selbst zum Urheberrecht nichts wirklich zielführendes zu sagen haben, wird das so bleiben. Wenn von den Piraten ein formulierter Vorschlag für neue Urheberrechtsgesetze kommt, wird man sehen, wie weit die Ideen in der Realität tragen.

Ich kann nicht sagen, was danach kommt. Ich halte es nicht einmal für sicher, dass danach etwas kommt. Aber ich hoffe ehrlich, dass die Kultur bleibt und Einzug findet in die Arbeit derjenigen, die sie machen, Piraten oder nicht. Denn selbst wenn man die rechten Spinner und diejenigen abzieht, die nur mal spaßig auf der Erfolgswelle mitschwimmen wollen, sollten da immer noch tausende Piraten, die ernsthaft um eine bessere Demokratie bemüht sind. Ich hoffe, sie bleiben dabei. Auch wenn das zwangsläufig irgendwann heißt, ehrenamtlich elend lange Sitzungen in eher nicht spaßorientierten Ausschüssen hinter sich zu bringen. Wenn dem aber auch nur ansatzweise so sein sollte, dann hätten die Piraten als einzige den Trend zu immer weniger politischer Beteiligung gebrochen, und allein diese Aussicht muss es wert sein, dass die anderen Parteien sie mit offenen Armen willkommen heißen.

Ich hätte aber trotzdem gerne Geld für mein Buch. Das war echt Arbeit.

Tweet like an egyptian

Das ist beeindruckend clever und beeindruckend schnell: Google hat eine Möglichkeit für Ägypter entwickelt, zu twittern, obwohl das Internet abgeklemmt ist: per Anruf und Spracherkennung! (Nachtrag: Wie betabug in den Kommentaren feststellt, habe ich das falsch verstanden: Speak-to-tweet heißt nicht Spracherkennung, sondern es heißt, dass man eine Sprachnachricht hinterlassen kann, die dann jeder durch klicken auf den Tweet hören kann. Nicht ganz so schick, wie ich dachte).

Auf dem Google-Blog heißt es:

We worked with a small team of engineers from Twitter, Google and SayNow, a company we acquired last week, to make this idea a reality. It’s already live and anyone can tweet by simply leaving a voicemail on one of these international phone numbers (+16504194196 or +390662207294 or +97316199855) and the service will instantly tweet the message using the hashtag #egypt. No Internet connection is required. People can listen to the messages by dialing the same phone numbers or going to twitter.com/speak2tweet.

Mein Textvorschlag wäre: Mister Mubarak, please proceed to your gate immediately – your plane is now boarding!

Ich flattr Richard Gutjahr

Es gibt Momente, in denen kumuliert einfach alles, und während ich in den freien Minuten versuche, alles über die Lage in Ägypten zu erfahren (meine Frau ist halbe Ägypterin, hat eine Menge Familie in Bürgerwehren in Kairo), fällt mir nicht nur schmerzhaft wie nie auf, dass wir so genannte Nachrichtensender haben, die ihr Programm mit Dokumentationen über Wühlmäuse füllen, während die Welt brennt – ich nehme auch in irgendwelchen Nebensynapsen eine ewig wiederkehrende, merkwürdige Diskussion wahr, deren nächste Zotte gerade darin besteht, dem Journalisten undBlogger Richard Gutjahr vorzuwerfen, er würde aus Gründen der Selbstinszenierung nach Kairo fliegen um von dort zu berichten. Das Thema der Diskussion ist „Selbstdarstellung von Journalisten“, und wir erleben es alle paar Wochen wieder, zuletzt beim Afghanistan-Einsatz von Johannes B. Kerner und der Maschmeyer-Doku von Christoph Lütgert.

Ich bin wahrscheinlich der Falscheste, um darüber zu schreiben, aber ich habe trotzdem eine Meinung dazu, und deshalb sage ich sie auch: Ich wünschte, es gäbe mehr Journalisten, die es wagen, sich selbst zu einer Marke zu machen und mit ihrem Gesicht für die Geschichte zu stehen, die sie erzählen. Denn ich glaube, Journalismus unter dem Mäntelchen vermeintlicher Objektivität ist tot.

Ich kenne Richard Gutjahr nicht persönlich, und bisher ist er mir – wie wahrscheinlich vielen – vor allem als Apple-Fanboy aufgefallen, aber ich weiß nicht, warum er deshalb kein guter Journalist sein sollte (ich bin wahrscheinlich nicht so extrem wie er, aber ein Apple-Fan bin ich zugegebenerweise auch). Ich finde, im Gegenteil, einen Journalisten, der seine persönlichen Sympathien und Meinungen offenlegt, im Zweifel glaubwürdiger als einen, der denkt, er wäre objektiv. Denn Objektivität im Journalismus gibt es nicht, sie ist auch gar nicht nötig. Ein Journalist soll misstrauisch, kristisch und fair sein – und sein Handwerk beherrschen. Ansonsten haben wir uns mit der Berufswahl sowieso schon auf eine Seite geschlagen, wir sind Partei: Als Journalisten sind wir für Information, für Meinungsfreiheit und damit prinzipiell auch für die Demokratie.

All das liegt in Ägyten noch am Boden. Ich bin für jeden Kollegen dankbar, der hinfährt, um das zu ändern.

Das heißt nicht, dass jede Art der Selbstinszenierung jedem sympathisch sein muss. Man muss Kerner in Afghanistan nicht mögen, aber man kann ihm auch nicht absprechen, dass er im gegensatz zu vielen anderen tatsächlich hingefahren ist, und das ist keine Selbstinszenierung, sondern seine Arbeit. Christoph Lütgert mag in den Augen vieler Zuschauer zu oft im eigenen Film aufgetaucht sein, und er muss, wie jeder von uns, Kritik an seinem Werk aushalten. Aber er hat einen eigenen, eigensinnigen und engagierten Film gemacht, und das ist sein Job. Ich rede hier nicht über Geschmacks- und Stilfragen, sondern darüber, dass Selbstinszenierung für jeden, der in der Öffentlichkeit arbeitet, zum Job gehört. Und Journalismus gehört in die Öffentlichkeit, anstatt hinter die Mauern der offiziösen Institutionen, die gerne noch heute so tun, als hätten sie irgendwie ein Monopol auf die Interpretation dessen, was in der Welt passiert.

Ich fordere hiermit also alle Werbekunden von n-tv und N24 auf, die Spots bei den Versendekanälen von Wühlmaus-Dokus und krisseligen Wochenschau-Rollen zu stornieren, und stattdessen auf gutjahr.biz Anzeigen zu schalten. Die alten Zeiten sind vorbei.

Heute ein Strunz

Seit zwei Wochen ist Claus Strunz, Chefredakteur des im Prinzip altehrwürdigen Hamburger Abendblattes, nun mit einer Fan-Seite auf Facebook vertreten. Strunz hat sich seit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren unter anderem durch weit reichende Ankündigungen Aufmerksamkeit verschafft – besonders berüchtigt ist dabei sein Plan, aus dem Abendblatt ein „Abendblatt 3.0“ zu machen, wobei nie ganz klar war, was darunter eigentlich genau zu verstehen ist. Im Moment ist die Zeitung – immerhin Hamburgs größte und wichtigste, was angesichts der Konkurrenz allerdings noch nicht viel aussagt – geschlagen mit einem Online-Auftritt, bei dem man die meisten Inhalte über Google-News lesen muss, weil der Verlag etwas davor geschaltet hat, dass er „Bezahlschranke“ nennt. Sie funktioniert genau wie eine Schranke auf einer grünen Wiese, über die ein Trampelpfad läuft: Man muss schon sehr faul sein, um nicht einfach drumherum zu laufen, aber gerade noch nicht faul genug, um einfach wieder nach Hause zu gehen. Vielleicht steht „Abendblatt 3.0“ auch einfach für die angepeilte Zahl der Online-Abonnenten?

Claus Strunz hat also eine Seite auf Facebook, die aktuell 422 Personen gefällt, und postet dort Gedanken und kleine Begebenheiten rund um sein Dasein als Chefredakteur der wichtigsten Zeitung in Hamburg. Und im Prinzip bin ich begeistert von der Idee. Ich habe es inzwischen wahrscheinlich zu oft gesagt, aber ich bin der Meinung, dass Journalisten nicht nur für die Öffentlichkeit arbeiten sollten, sondern auch öffentlich – das heißt sichtbar, erreichbar und als Menschen, nicht (nur) als Teil von Organisationen und Institutionen. Und „The Facebook“, wie George W. Bush es nennt, ist ein sensationell einfacher Weg dahin. Rein technisch gesehen ist Strunz‘ Facebook-Fan-Seite ein richtiger Schritt. Und er ist, so weit ich das weiß, der erste deutsche Chefredakteur, der ihn macht.

Auf der Seite schreibt Strunz über das, was Tolles beim Abendblatt passiert (ein Reporter hat einen Preis gewonnen, das „Zukunftslabor entwickelt eine 1A-iPad-App), stellt die Art Fragen, die sonst Moderatoren in Foren stellen, um eine Diskussion in Gang zu bringen (Ist Assange ein Held oder ein Verbrecher? Ist Ole von Beust im Hamburger Wahlkampf eine Hilfe oder eine Belastung für die CDU?), spricht über Fußball (vor allem darüber, dass er schon vor Wochen gesagt hat, Dortmund wird Meister. Außerdem ist er Fan von irgendeinem der überflüssigen Vereine rund um Platz 14) und streut hin und wieder eine Anekdote ein („Hans-Werner Kilz hat gesagt …“). Fast jeder seiner Beiträge generiert ein paar Kommentare, die meistdiskutierten etwa ein Dutzend, was ich in dieser frühen Phase des Experimentes eine achtbare Größenordnung finde, vor allem, weil wir von der Online-Plattform eines Chefredakteurs reden, dessen Online-Publikation sehr viel dafür tut, möglichst keine Leser zu haben. Für Strunz‘ Facebook-Seite gilt schließlich: Da muss man erstmal drauf kommen.

Man muss wahrscheinlich sagen, die Fan-Seite von Claus Strunz ist nicht unbedingt von Inhalten getrieben. Was bisher dort preisgegeben wird, ist banal bis egal. Die Einblicke in die Person des Chefredakteurs oder die besondere Arbeitsweise des Abendblattes, so es die denn gibt, sind bisher nichtig. Und ein ganz großer Humorist ist in den Statusmeldungen bisher auch nicht zu erkennen. Die Debatten, die dort geführt werden, bewegen sich sehr nah an der Nullschwelle der Relevanz, auch deshalb, weil Strunz sich in Debatten nicht einschaltet und außerhalb seiner Leitartikel, zu denen er verlinkt, bei fußballfremden Themen auch keine eigene Meinung durchscheinen lässt – abgesehen davon, dass er ein Anti-Hamburger-Grünen-Plakat der Jungen Union Paderborn abbildet, obwohl die Relevanz der Jungen Union Paderborn in einem Hamburger Wahlkampf dann doch eher zweifelhaft ist. Bisher muss man festhalten, die Leistung des Chefredakteurs auf Facebook besteht praktisch ausschließlich darin, dass es ihn gibt.

Das ist schade. Es deckt sich bisher mit dem Eindruck, den der ungemein selbstbewusst wirkende Strunz bisher bei mir ohnehin hinterlässt: Er ist eine Ankündigungsmaschine, der pausenlos die Bedeutung des Abendblattes zu einer der wichtigsten Zeitungen Deutschlands hochrechnet und es verstanden hat, in der hausinternen Innovationskultur des Axel-Springer-Verlages den Eindruck zu erwecken, er schwämme vorne mit. Das ist für ihn besonders schwierig, weil er vom Chefredakteur der riesigen Bild am Sonntag zum Abendblatt-Chef degradiert wurde. Vor diesem Hintergrund tut er offenbar, was für seine Karriere richtig ist, und das mit einiger Kreativität. Ich möchte das als Leistung nicht schlecht reden. Aber wenn man den Schritt hin zu mehr Offenheit gegenüber dem Leser inhaltlich bewerten will, muss man den Schritt, den er getan hat, mit dem vergleichen, was nötig wäre. Oder gar dem was möglich wäre.

Gerade für die Leser einer Lokalzeitung wäre es ein immenser Vorteil, wenn „seine“ Journalisten für ihn erreichbar, ansprechbar und im weiteren Sinne auch kennenlernbar wären. Natürlich nicht nur die Chefredakteure. Erstes Ziel einer Offensive wie der von Strunz zugunsten der Leser müsste sein, dass er mit seinem Schritt eine Kultur einläuten würde, die dazu führt, dass bald alle Abendblatt-Redakteure mit ihren Lesern kommunizieren könnten, es müssten und im besten Fall – weil das Vorbild so gut funktioniert, oder weil sie die Zeichen der Zeit erkannt haben – auch wollten. Aber das Zauberwort ist hier schon eingeführt: Es bräuchte einen Wechsel der Kultur. Und der ist nicht einmal bei Strunz‘ eigenem Versuch sichtbar. Im Gegenteil: Was er tut, ist in Wahrheit das Gegenteil davon – er zementiert mit seiner Selbstdarstellung die falsche Selbstwahrnehmung von sich selbst als über die Masse erhobener Persönlichkeit. Dem Mediendienst Meedia sagte er zu seinen Beweggründen:

„Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, bei Facebook als Privatperson aufzutreten. Wenn ich ein privates Profil habe, bin ich im eigentlichen Sinne nicht öffentlich, sondern nur für meine Freunde zugänglich. Als Chefredakteur des Hamburger Abendblatts bin ich aber bis zu einem bestimmten Grad eine Person öffentlichen Interesses. Als solche berichte ich auf dieser Seite über meine Arbeit und stelle meine Meinung zur Diskussion. Persönliche Nachrichten behalte ich auch weiterhin meinen Freunden vor.“

Darin steckt der Denkfehler, der dem Journalismus mehr schadet als praktisch alle anderen. Denn ob der Journalist eine Person öffentlichen Interesses ist oder nicht ist vollkommen irrelevant. Natürlich ist Günther Jauch sowohl Journalist als auch eine Person öffentlichen Interesses, schon weil er prominent ist, aber er gibt praktisch nichts von sich preis und hat jedes Recht dazu. Strunz, der weit gehend unbekannt ist, ist keine Person des öffentlichen Interesses, sondern er füllt wie Jauch einen Job aus, der zu einem guten Teil öffentliche Interessen vertritt. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Ich glaube, dass aufgrund des auszufüllenden öffentlichen Interesses an Information, Aufklärung und Unterhaltung durch eine Zeitung ein berechtigtes Interesse daran besteht, was für ein Typ das ist, der den Job macht. Aber er entspricht ganz genau dem Interesse, das Menschen daran haben, zu wissen, wer ihre Kinder unterrichtet oder ob die Putzfrau, die den Schlüssel zu ihrer Wohnung bekommt, vertrauenswürdig ist. Wir würden keinem Lehrer trauen, der sich weigert, mit uns zu sprechen. Wir haben ein Recht darauf, ihn einzuschätzen. Genau so verhält es sich mit Journalisten: Ich habe ein Recht darauf, den Menschen einschätzen zu können, der mir die Politik meiner Regierung erläutern soll. Denn er arbeitet für mich.

Jauch hat es geschafft, diese Vorstellung nebenbei zu erledigen und führt immer wieder Umfragen nach dem vertrauenswürdigsten Deutschen an. Die meisten Journalisten aber leben nur von der Glaubwürdigkeit des Mediums, für das sie arbeiten. Das kann gut oder weniger gut sein, je nachdem, ob man für die Tagesschau oder die Bild-Zeitung arbeitet, in jedem Fall wandelt es sich dieser Tage meiner Meinung nach sehr schnell. Mediennutzer erwarten heute, wie die Nutzer aller anderen Dienstleistungen auch, mehr Transparenz, mehr Interaktion und ein weniger institutionelles Auftreten, und diese Tendenz wird sich fortsetzen, weil immer mehr Unternehmen die Maßstäbe hin zu echter Kundenorientierung verschieben. Gleichzeitig wird es für Unternehmen immer wichtiger, darauf hinzuweisen, was sie besser können als alle anderen, wenn sie nicht einfach billiger sein können als die Konkurrenz. Für Nachrichtenunternehmen bedeutet das auch, sie müssen zeigen, was ihre professionellen Journalisten besser können als Algorithmen bei Google-News, was handwerkliche Nachrichtenproduktion besser macht als industrielle. Dafür sind Lokalzeitungen wie geschaffen, weil sie selber noch Nachrichten machen (einer meiner ersten Jobs war im letzten Jahrtausend als Pauschalist beim Abendblatt. Da habe ich zum Beispiel gelernt, wie man Demonstranten zählt). Um das Handwerk wieder ins Bewusstsein zu rücken, gibt es kaum einen besseren Weg, als den Handwerker in den Vordergrund zu stellen. Wer einmal mit einem guten Schuhmacher gesprochen hat, wird in Zukunft gute Schuhe besser zu schätzen wissen. Es ist also richtig, den Journalisten öffentlich und zugänglich zu machen. Aber als Handwerker, nicht als kleinen König.

Der Grat zwischen „öffentlich zugänglich sein“ und reiner Selbstdarstellung ist nie ganz klar, aber auch so schwierig nicht zu beschreiten. Wenn man es denn will. Und er schließt nicht einmal aus, dass man dabei selbst zum strahlenden Helden wird, immerhin ist Bundeskanzler Helmut Schmidt auch deshalb heute eine Lichtgestalt der deutschen Politik, weil man ihm glaubt, dass er sich selbst als „Leitenden Angestellten der Bundesrepublik Deutschland“ gesehen hat. Dazu gehört allerdings eine Demut, die in der journalistischen Kultur heute so wenig verankert ist wie in der politischen. Schon mit der Wortwahl der „Dienstleistung“ für Journalismus können sich viele Kollegen nicht anfreunden. Es passt nicht in ihre Kultur.

Vielleicht ist es besonders hamburgisch, jedem zu misstrauen, der aus seinem öffentlichen Amt zu viel Glanz zu ziehen versucht, immerhin ist dies die Stadt, in der ein Finanzminister Hans Apel während seiner Amtszeit (und bis heute) mit seiner Privatnummer im Telefonbuch steht und in der Politiker keine Orden annehmen (Helmut Schmidt hat bis heute kein Bundesverdienstkreuz, weil er es mit der Begründung ablehnt, er sei schließlich ein ehemaliger Hamburger Innensenator). Aber bei mir Eindruck, Claus Strunz verwechselt Dienst am Leser mit dem Beeindrucken von Lesern, den Inhalt mit der Show. Und sich selbst mit dem Produkt Claus Strunz, das es zu verkaufen gilt. Ich halte das für aus seiner Sicht sogar ganz schlau. Aber ich hätte ihm den Zacken mehr Mut gewünscht, tatsächlich etwas Neues zu tun.

PS. Claus Strunz hat diesen Beitrag inzwischen auf seiner Facebook-Seite verlinkt und diskutiert ihn. Das finde ich dann schon wieder stark. Respekt!

Now leaking: The one and only Ich

Vor fünf Jahren, als Xing noch OpenBC hieß, und man eine Einladung brauchte, um überhaupt Mitglied werden zu können und sich entsprechend irgendwie wichtig vorkam, war es das erste Internet-Netzwerk, bei dem ich mich mit meinem echten Namen und meinen vollen Kontaktdaten angemeldet habe. Die Diskussion, die es damals unter Usern gab, war tatsächlich, ob OpenBC wirklich eine Business-Plattform ist, oder ob nicht die meisten der Nutzer sie nur dazu benutzen, sich gegenseitig abzuschleppen. Letzteres sollte die von einigen als hochtrabend empfundene Idee des Netzwerks offensichtlich abwerten. Der Gedanke, dass ein Netzwerk für beides gleichzeitig und noch viel mehr zu verwenden sein könnte, dass im Prinzip die Tatsache von Netzwerken an sich mehr Möglichkeiten eröffnet, als man sich beim Errichten überhaupt vorstellen kann, ist letztlich erst mit dem Durchmarsch von Facebook im Mainstream angekommen, und mit dieser Zentrale der eigenen Identität im Netz ein aus meiner Sicht viel wichtiger Durchbruch: Der echte Mensch mit seinem echten Namen. Für mich persönlich hat dieser Schritt eine ganz besondere Magie, die in viele Richtungen wirkt. Auch auf mich. Und das ist gut so.

Bis dahin galt medientheoretisch die Urlaubsmetapher für den Sender einer Botschaft: Wenn du von deinem letzten Urlaub erzählst, dann erzählst du teilweise völlig anders, je nachdem, wem du erzählst – ob deinen Eltern, deinen Kollegen, den Nachbarn oder einem neuen Liebhaber. Du erzählst andere Dinge, erzählst die gleichen Dinge anders, betonst und gewichtest unterschiedlich. Du eröffnest viele verschiedene Erzählstränge über die selbst, die ausgerichtet sind an dem Bild, das du bei unterschiedlichen Beobachtern hinterlassen willst. Und daran ist nichts auszusetzen, genauso machen wir es auch weiterhin, aber ergänzt durch eine Welt, in der Empfänger in der Lage sind, viel vollständigere und tiefere Eindrücke von einem Sender zu bekommen, weil sie – zum Beispiel wenn sie Freunde auf Facebook sind – plötzlich auch an Erzählungen teilnehmen können, die für sie allein nicht zugänglich gewesen wären, weil der Sender in ihrer Gegenwart in einem anderen Erzählmodus war.

Der echte, große Unterschied zu früher dabei ist: Der Sender der vielen unterschiedlichen Geschichten über seinen Urlaub kann und wird weiterhin in verschiedenen Situationen verschiedene Berichte über seine Abenteuer abliefern. Aber weil es jetzt eine Identitätszentrale gibt, auf die im Zweifel alle seine Empfänger auch gleichzeitig zugreifen können, gibt es plötzlich den Zwang, dass diese Geschichten zueinander passen müssen. Auf Facebook postest du im Zweifel für deine Mutter und deinen besten Freund gleichzeitig, was eine Gesprächssituation ist, die irgendwann vor langer Zeit einmal unangenehm war, ist funktionierende Realität, weil wir kollektiv gelernt haben, was es heißt, eine konsistentere Botschaft zu senden. So ist zum Beispiel an die Stelle der Ängste, dass durch fahrlässig gepostete, peinliche Informationen in sozialen Netzwerken reihenweise keinen Job finden, weil ihre potenziellen Personalchefs sich über deren Partyfotos aufregen, eine Realität getreten, in der Jugendliche lernen, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen ihrer „offiziellen“ und ihrer privaten Persönlichkeit nicht geben muss, besser nicht geben sollte. Und das „privat“ in unserer Welt etwas anderes ist als eine Browsereinstellung oder ein Haken in einem Online-Formular.

Was also für hunderte Millionen junge und ältere Netznutzer auf der ganzen Welt simple Realität ist, mit der sich gut und komfortabel leben lässt, ist für das State Departement der USA offensichtlich eine Überraschung. Bis heute ist in den jüngst von Wikileaks veröffentlichten Dokumenten des US-Außenministeriums nichts aufgetaucht, das man nicht haargenau so dort vermuten musste, aber trotzdem finden sich die US-Diplomaten peinlich gefangen in der Differenz zwischen ihrer offiziellen Persönlichkeit und ihrer privaten. Sie haben ihre Geschichten einem Empfänger so erzählt, dass sie ein Bild von ihnen selbst zeichnet, von dem sie nicht wollten, dass andere Empfänger es von ihnen haben. In der Urlaubsmetapher ist es, als hätten sie am Esstisch ihrer Eltern so von ihrer Urlaubsaffäre erzählt, wie sie es eigentlich ihrem besten Freund erzählen wollten – mit allen schmutzigen Details.

Jede Empörung darüber, dass etwas öffentlich wird, zu dem offenbar zweieinhalb Millionen Menschen Zugang haben, entspricht in etwa einer Empörung darüber, dass jemand mitten in Hamburg mein nicht angeschlossenes Fahrrad klaut. Natürlich ist es verboten. Aber unter den vielen Millionen potenziellen Tätern wird sich immer einer finden, für den das gerade nur die zweite Priorität ist.

Wenn Staaten, die ihren Diplomaten eine ordentliche Arbeit ermöglichen wollen – was immerhin für das Zusammenleben auf diesem Planeten unerlässlich ist –, dann werden sie nicht nur lernen müssen, die neuen Regeln dafür, was privat ist, zu lernen. Es ist zwar heute möglich, 250.000 und mehr Dokumente sehr leicht und schnell zu vervielfältigen und zu veröffentlichen, und das mag eine neue Art von Bedrohung sein, aber die Botschaft aus dem Debakel ist doch eine andere: Kann es denn sein, dass ich zwar zweieinhalb Millionen staatliche Angestellte in meinem Land eine Einstellung über die Welt mitgebe, aber erwarte, dass die Welt sie nicht bemerkt?

Ich habe in den letzten Tagen immer wieder die Beschwerde gehört, amerikanische Diplomaten fürchteten nun, dass ihre Informanten nicht mehr mit ihnen sprechen würden, weil sie Angst haben müssten, ihre Einschätzungen und ggf. Indiskretionen würden öffentlich gemacht. Die Verantwortung dafür scheinen sie bei Wikileaks zu suchen. Ich halte das für abenteuerlich. Denn Tatsache ist wohl: Es spricht auf der einen Seite niemand mit Diplomaten einer fremden Macht, wenn er damit nicht irgendein Ziel verfolgt. Und es hätte auch bisher kaum einer geredet, wenn ihn sein Gesprächspartner wahrheitsgemäß angewiesen hätte: „Reden Sie einfach ganz offen, so als ständen Sie in einer Halle mit zweieinhalb Millionen Zuhörern.“

Ich habe eine Menge Zeug über die Veröffentlichung und über Wikileaks gelesen und gehört, bis hin zu den bizarren Vergleichen von der schrägen Wahl Dirk Niebel bei Anne Will, dann könnten ja auch hunderttausende Patientenakten mit medizinischen Geheimnissen veröffentlicht werden (Herr Niebel, ich weiß, dass Sie es gern hätten, aber der Staat ist kein Privatunternehmen, sondern er gehört uns. So traurig es für die FDP sein mag, aber der Staat ist verstaatlicht und ich sehe überhaupt nicht ein, warum er so selbstverständlich Geheimnisse vor seinem Volk hat). In einem Aufsatz in der Welt kam dann der Hinweis, dass eine Gesellschaft ohne Geheimnisse totalitär ist, was in die gleiche Leere geht, weil erstens ein Staat voller Geheimnisse genau so totalitär ist und es zweitens und vor allem eben genau in die andere Richtung geht, als hier behauptet wird: Nicht die Privatsphäre des Einzelnen gilt es zu durchbrechen, sondern die willkürlich behauptete Privatsphäre des Staates vor dem Einzelnen.

So, wie es die Bewahrer der alten Ordnung gerne hätten, wird es nicht bleiben. Bisher leben wir selbstverständlich damit, dass es irgendwo „eine Wahrheit“ gibt, die wir nie erfahren (in den Dokumenten, hinter den Kulissen), eine „öffentliche Wahrheit“, nämlich das, was offen gesagt wird, das, was in der Zeitung steht – und unsere private Wahrheit, mit der wir leben und arbeiten. Es gibt also zum Beispiel einen Krieg in Afghanistan, es gibt das, was uns Politiker darüber erzählen und es gibt das, was wir über den Krieg zu wissen glauben. Und die drei Wahrheiten unterscheiden sich extrem. Ist das okay so?

Ich glaube, wir haben über Generationen damit leben gelernt. Aber es muss ja nicht so bleiben, wenn es besser werden kann. Wenn Staaten ihre innere und äußere Wahrheit einander annähern müssen, dann ist das ungewohnt, aber richtig.

Was bleibt, ist dass wir einen inkompetenten Außenminister haben und dass die Amerikaner unhöflich und tendenziell sogar arrogant sind, selbst als Diplomaten. Aber an wessen privater Sicht der Welt rüttelt den das?