Das mit den Reparationen

Jetzt ist der schlechteste Moment, um über Reparationsforderungen von Griechenland an Deutschland zu reden. Sie verdienen ein würdigeres Umfeld, nicht das längst merkwürdige Wüten aller möglicher Halbbeteiligter. Natürlich ist es falsch, „den Griechen“ vorzuwerfen, sie würden „ausgerechnet jetzt“ mit ihren Forderungen kommen, denn die Forderungen gab es immer, und sie wurden auch immer kommuniziert. Es ist im Gegenteil zynisch, das jetzt umzudrehen. Bisher hat eben nie jemand richtig zugehört, aber das ist der Schmerz und nicht die Schuld vor allem jener, die die Verbrechen noch erlebt haben.

Aber die Reparationen und Zwangsanleihen haben mit der aktuellen Situation nichts zu tun. Mir wäre es lieber, die Diskussion fände nicht jetzt statt. Am liebsten wäre mir, sie hätte vor zehn oder zwanzig Jahren stattgefunden. Aber es ist, wie es ist, und es wäre wohl naiv zu glauben, man könnte eine Pause-Taste finden, bis alles andere gelöst ist.

Also brauchen wir einen besseren Weg. Ich habe ein paar Gedanken dazu.

Die erste Wahrheit der Diskussion ist, dass Deutschland den Schaden und den Schmerz, den es im und um den Zweiten Weltkrieg verursacht hat, niemals mit Geld reparieren kann. Wir haben einfach nicht genug.
Ich halte die im griechischen Parlament präsentierten 279 Milliarden für ziemlich plausibel erklärt, aber nicht einmal die könnte Deutschland sich leisten, geschweige denn all jene Forderungen anderer Länder, die da noch nachkämen, wenn das Beispiel einmal gesetzt wäre. Die Verbrechen waren zu groß und zu viele.

Keines meiner Heimatländer kann seine Schulden einfach so begleichen, das scheint irgendwie mein Schicksal zu sein, aber so ist es.

Schuld und Schulden sind allerdings eben nicht dasselbe. Und im Falle Griechenlands gibt es den Sonderfall jener Zwangsanleihe, deren Begleichung eben keine Reparation ist, sondern einfach die Rückzahlung eines Kredits (sein könnte). Das eröffnet Möglichkeiten. Selbst wenn Deutschland seine Schulden nicht bezahlen kann, könnte es Wege geben, an der Schuld zu arbeiten.

Dafür muss die Diskussion als erstes von jener um die Eurokrise gelöst werden. Ich schlage vor, dass eine Kommission aus Elder Statesmen beider Staaten, gerne unter dem Dach irgendeiner internationalen Organisation, sich dafür zusammensetzt – und sich dafür ein bisschen Zeit nimmt. Diese Diskussion ist unabhängig von allem anderen. Egal ob der Euro zerbricht oder übermorgen alles schön ist und die Eurozone eine Fackel des Wirtschaftswachstums – einfach nicht mehr darüber zu reden ist aus meiner Sicht keine Lösung.

Es gibt drei voneinander getrennte Stränge, die heute unter anderem von der Bundesregierung zu dem einen Thema Reparationen zusammengefasst werden: Die Entschädigung für die Zerstörung der Infrastruktur in Griechenland, die Entschädigung von Opfern und den berühmten Zwangskredit. Dringlich ist die Entschädigung der Opfer, weil sie alt sind.

Es ist offensichtlich, dass Deutschland nicht alle Opfer finanziell wird entschädigen können. Für die Opfer der unter der Nazi-Ideologie Verfolgten hat es 1960 bereits eine Entschädigung von 115 Millionen Mark gegeben, für andere – wie die Überlebenden und Angehörigen der Massaker von Distomo, das als „Kriegshandlung“ (besser: Kriegsverbrechen) gewertet wird – gab es keine. Mein Vorschlag wäre folgender: Es gibt einige wenige alte Überlebende und Angehörige, die heute im Elend leben. Ich glaube, ihnen sollte über eine Stiftung schnell geholfen werden. Dafür muss man keine juristische Verpflichtung anerkennen, man kann es einfach tun, und es ist nicht einmal teuer. Es ist eine Frage von wahrscheinlich ein paar Millionen Euro.

Der größte Batzen jener 279 Milliarden Euro entfällt auf die Zerstörungen während der Besatzung, und es ist offensichtlich, dass sie nie bezahlt werden. Bis jetzt ist das auch gar keine Forderung der griechischen Regierung (sie hat bisher nur die Studie präsentiert, in der die Zahlen berechnet wurden). Meiner Meinung nach kann die deutsche Bundesregierung sich hier mit einigem Recht darauf berufen, dass diese Reparationen abgeschlossen sind. Das heißt nicht, dass man nicht miteinander sprechen kann und sollte, denn es geht hier nach den Worten des griechischen Ministerpräsidenten in Berlin explizit nicht um eine finanzielle Frage, sondern um eine moralische. Aber Geld wird da kaum fließen (können), und das sollte auch nicht das eigentliche Thema sein.

Anders ist es bei dem Zwangskredit. Die juristische Position ist sicher nicht eindeutig, aber Griechenland erwartet mit einigem Recht die Rückzahlung (tolles Thema gerade, klar). Die Summe dürfte sich bei 10,3 Milliarden Euro einpendeln, und gerade die juristische Unklarheit könnte eine großartige Möglichkeit sein, etwas Gutes daraus erwachsen zu lassen. Ich mag die Idee einer griechischen Förderbank nach dem Vorbild der KfW, die unter anderem mit Geld aus dieser Anleihe Wachstumsimpulse durch Kredite an Unternehmer setzen kann. Ich hielte das sogar für eine politische Möglichkeit, bei den Bedingungen der Troika-Programme hart zu bleiben, um die Wähler zuhause zufriedenzustellen, und zeitgleich diese Impulse zu setzen, weil das Geld eben nicht an die (ungeliebte linke) griechische Regierung ginge, sondern zum Beispiel an Start-Up-Unternehmer – die es in Griechenland gibt, denen aber entscheidende Dinge zum Erfolg fehlen.

Ich kann mir ein paar Leute aus der Generation derjenigen vorstellen, die alt genug sind, noch Kontakt zu haben zu den Zeiten über die wir hier reden. Auf beiden Seiten (und dies ist tatsächlich einer der wenigen Momente in meinem Leben, wo ich mir wünsche, Helmut Kohl könnte und wollte noch aktiv mitmischen. Ich glaube, er wäre ein Guter dafür). Die zwischen den ehemaligen Gegnern Griechenland und Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten gewachsene Freundschaft ist für mich ein Wunder – ohne das es mich gar nicht gäbe – und ich würde es gerne gewürdigt sehen. Im Moment ist davon auf beiden Seiten aus den Reihen der aktiven, ja, hyperaktive Politik zu wenig zu spüren.

PS. Kann nicht mal einer dem Kammenos ein Spielzeug geben, das ihn ablenkt? Der stört wirklich nur noch.

19 Antworten auf „Das mit den Reparationen“

  1. Danke. Es ist erfreulich, ausnahmsweise mal etwas vernünftiges zu diesem Thema zu lesen. Ich hatte eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet.

  2. Die Idee mit der Stiftung für Opfer und deren Angehörige ist eine gute Idee. Hoffentlich verzieht sich bald der Pulverdampf in der griechisch-deutschen Debatte (den es ja leider manchmal auch auf persönlicher Ebene gibt), dann könnte man so ein Projekt endlich mal angehen.

    Die Sache mit dem „Zwangskredit“ ist tatsächlich alles andere als eindeutig. Der Historiker Götz Aly sagt, dass es eine Anleihe in der bislang genannten Form nicht gegeben habe – und falls da noch Schulden zu begleichen wären, würde ein Großteil der Zahlungen an einige Nachbarländer Griechenlands gehen müssen.

    http://www.berliner-zeitung.de/meinung/kolumne-zu-griechenland-griechen–deutsche—reparationen,10808020,26452878.html

    dazu auch:
    http://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article138498430/Griechenlands-476-Millionen-Anleihe-gibt-es-nicht.html

  3. Ein Spielzeug für Kamenos? Hat er doch längst. Immerhin ein ganzes Verteidigungsministerium. Und er spielt damit ganz eifrig, über wogen umschäumten Felseninseln wirft er Blumen aus Helikoptern ab, kündigt an, in Schulen patriotisch-antifaschistisches Bildungsmaterial des Militärs zu verteilen, gibt Aufträge aus über 500 Mio. €, die keiner hat, für Kriegsflugzeuge (wie war das noch einmal mit der humanitären Krise in GR?)

    Erheiternd auch seine Initiative, den Amis 30% des Ägäischen Erdöls (ist eh nur eine Schimäre, aber egal) anzudienen. Was ich daran nicht verstehe: Warum bieten wir die 30% nicht gleich den Türken an, damit sie uns ins Ruhe lassen, anstatt 30% den Amis zu geben, damit sie uns helfen, wenn wir uns mit den Türken zoffen, weil wir ihnen 30% nicht geben wollen? Wäre doch viel einfacher, oder?

    Im Übrigen stört der liebe Panos Kamenos doch gar nicht – jedenfalls nicht sexy Alexi und die anderen Genossen. Es wächst nur zusammen, was zusammen gehört: Rechtsnationalismus (gegen Amis, Deutsche, Juden, Türken, Flüchtlinge und für Russland) mit Linksnationalismus (gegen Amis, Deutsche, Israel und für Venezuela und Russland), hemmungsloser mit enthemmten Populismus.

    Kamenos ist das Schweizer Taschenmesser des Alexis – er schneidet nicht nur, er ist zugleich auch noch Nagelfeile, Korkenzieher und Dosenöffner. Er hält die Nationalisten, Fremdenfeinde und Homophoben bei der Stange, die nicht nur Kamenos, sondern eben auch Syriza ihre Stimme gegeben haben. Dem Alexis liefert er eine parteiinterne Rechtfertigung, um nicht allzu viel vom emanzipatorischen Programm des linken Syriza-Flügels umsetzen zu müssen, was die antimemorandischen Spießer verprellen würde. Nebenbei kannibalisiert er auch noch den rechten Wählerrand der Nea Demokratia, dem größten innenpolitischen Gegner.

    Das ist aber noch nicht alles. Kamenos ist auch Joker bei der außenpolitischen Vision der „Großen Koalition des Südens“ gegen die geizigen Nordlichter, die Syriza schon seit geraumer Zeit propagiert. Auch wenn Griechenland momentan isoliert dasteht, so hofft die Regierung weiterhin darauf, dass auch in Spanien und Italien antimemorandische Kräfte an die Macht gelangen. Und dann wäre da noch Frankreich mit seiner vielversprechenden Revolutionärin Marine Le Pen. Bei deren wirtschaftspolitischen Rhetorik (noch mehr Geld drucken, mehr Staatsausgaben, Globalisierung ist böse, nieder mit dem internationalen Finanzkapital) muss man schon ein sehr ausgeprägtes Faible für Nuancen haben, um Unterschiede zu den Syriza-Positionen zu erkennen. Und Putin-Bewunderin ist die Dame auch noch, wie wunderbar.

    Wer würde es schon wagen, sich einem solchen Südbündnis in den Weg zu stellen, wenn Griechenland, Spanien, Italien und Frankreich erst einmal untergehakt marschieren. Sicherlich nicht die feige Opportunistin Angie, das wäre doch gelacht.

    Und wenn die Le Pen dummerweise ein bisschen rechts ist, was macht das schon? So etwas stört keinen großen Geist, wie Karlsson vom Dach einst sagte. Wer mit dem dicken Panos die Decke teilt, wird sich auch nicht zieren, mit Marine ins Bett zu steigen. Das ist das Signal, das Alexis in Richtung Frankreich adressiert – so jedenfalls meine Verschwörungstheorie.

  4. Perspektivwechsel: Wie Griechenland durch seine Verweigerung und sein Selbstmitleid (schuld sind immer die andren) auch Bulgarien schadet, das ärmer ist und definitiv nicht schuld an der griechischen Katastrophe.

    Im Gespräch: Rossen Plewneliew, bulgarischer Staatspräsident

    „Griechenland gibt ein verheerendes Beispiel ab“

    Bulgariens Präsident Plewneliew über die Gefahren in Südosteuropa, seine Idee einer Gasbörse, über Korruption und vegane Energieriegel.

    Herr Präsident, profitiert Bulgarien sehr von der Krise in Griechenland?

    Wie kommen Sie denn darauf?

    Über die Grenze strömen griechische Unternehmen und Privatleute nach Bulgarien: um Steuern zu sparen, sich niederzulassen, günstig einzukaufen oder sich die Zähne richten zu lassen. Athen hat Strafsteuern angedroht.

    Dagegen haben wir sofort protestiert, in Athen und in Brüssel. Ich bin sicher, dass der Streit bald beigelegt wird. Wir freuen uns überhaupt nicht über die Probleme im Nachbarland, sondern sind sehr besorgt. Unsere Volkswirtschaften sind über Handel und Investitionen eng miteinander verflochten, die griechischen Banken sind in Bulgarien führend. Studien zeigen: Falls Griechenland zahlungsunfähig wird, leidet kein anderes Land der EU stärker als Bulgarien.

    Sollte man Griechenland also noch mehr Geld geben?

    Wichtiger ist, dass das Land spart und endlich die versprochenen Reformen angeht. Wer Kredite aufnimmt, muss sie auch bezahlen. Sonst sendet Athen ein verheerendes Beispiel an Privathaushalte, Unternehmen, aber auch an andere Regierungen aus: dass man Geld unverantwortlich ausgeben darf, ohne dafür geradestehen zu müssen. Das ist brandgefährlich, es kann die ganze Wirtschaft kaputtmachen.

    Griechenland gibt dem Ausland eine Mitverantwortung für die Misere.

    Es ist leicht, die Schuld bei anderen zu suchen. Was Griechenland braucht, ist eine ehrliche Debatte darüber, wofür es seine 350 Milliarden Euro Schulden eigentlich ausgegeben hat. Ein Großteil ist ja in staatliche Gehälter und Pensionen geflossen, das war völlig unproduktiv und geschah auf Kosten der Gläubiger. Die EU zu verteufeln ist absurd. Sie hat sich als äußerst gutwillig erwiesen und Griechenland schon wahnsinnig viel geholfen.

    Athen braucht Einnahmen und stellt Reparationsforderungen an Deutschland.

    Wir halten diesen Ansatz für falsch, die Sache ist längst erledigt. Wenn es noch rechtmäßige Ansprüche gäbe, wären die schon vor Jahrzehnten auf den Tisch gekommen. Noch einmal: Griechenland muss sich in der Krise seiner Verantwortung stellen, anstatt immer auf andere zu zeigen.

    Wie geschwächt ist Südosteuropa?

    Wir könnten stärker sein, wenn Griechenland wie früher seine Führungsrolle in der Region wahrnähme. Das Potential ist riesig und stimmt mich zuversichtlich. In den elf Ländern leben 70 Millionen Menschen, mit der Türkei sind es fast 150 Millionen. Das ist ein sehr dynamischer Wachstumsmarkt. Was wir brauchen, ist eine vertiefte Integration in Südosteuropa.

    Wie soll das gehen? Die Länder des ehemaligen Jugoslawien sind sich nicht grün. Griechenland streitet mit Mazedonien, die Türkei wendet sich immer mehr von Europa ab.

    Richtig, es gibt aber auch viele vielversprechende Ansätze der Zusammenarbeit, etwa in der Verbindung der Straßennetze oder der Energieversorgung. Für viele Länder der Region ist die EU der entscheidende Motor. Entweder, indem sie als Mitglied schon von der Gemeinschaft profitieren, oder, indem sie ihr beitreten wollen.

    Die Integration braucht viel Geld.

    Das ist da! Die EU-Fonds stellen bis 2020 etwa 50 Milliarden Euro zur Verfügung. China investiert 15 Milliarden Euro in die Infrastruktur Südosteuropas. Die Türkei gibt 16 Milliarden Euro für neue Schnellbahnen aus und weitere 7 Milliarden in Istanbul für den größten Flughafen der Welt mit 150 Millionen Passagieren im Jahr. Dorthin ist es nicht weit von Bulgarien. Deshalb bauen wir eine neue Autobahn und eine Schnellbahnstrecke. Wir erwarten, dass es mit der Balkanregion bald aufwärtsgeht.

    Welche Rolle spielt Russland dabei?

    Für Moskau liegt der Balkan im Zentrum des geopolitischen Interesses. Hier will es, wie schon früher, zeigen, dass es eine Großmacht ist. Wir halten das für falsch, weil eine solche Politik Gefahr läuft, sich über den Willen der Völker hinwegzusetzen und weil es neue Instabilitäten heraufbeschwören könnte.

    Was kann man dagegen tun?

    Die EU sollte den Balkan nicht länger als Peripherie betrachten, sondern als Mittelpunkt europäischer Politik. Ihr schlägt hier viel mehr Sympathie entgegen als den Russen, diese Chance muss man nutzen. Die EU ist das Beste, was wir seit dem Ersten Weltkrieg in Europa geschaffen haben.

    Welche Vorschläge haben Sie?

    Noch ist die Region total von russischen Gaslieferungen abhängig, das ist riskant. Wenn wir unsere Länder besser miteinander vernetzen und zu einer europäischen Energieunion kommen, könnten wir alle ruhiger schlafen. Mir schwebt die Einrichtung einer regionalen Energiebörse auf dem Balkan vor, wo sich der Preis nach dem Markt richtet und nicht nach machtpolitischen Interessen. Gas darf nicht länger eine Waffe sein, sondern muss eine Ware werden.

    Welche Rolle spielt Deutschland auf dem Balkan?

    Eine entscheidende. Unternehmen und Politiker aus Ihrem Land genießen ein hohes Ansehen. Auch viele Gesetze und Institutionen gelten als vorbildlich, bis hin zur dualen Berufsausbildung. Der Balkan ist im Kommen: In den vergangenen Jahren haben die Deutschen in Bulgarien 20 neue Werke eröffnet. Viele Konzerne wachsen stark, SAP zum Beispiel oder Liebherr.

    Aber es ist nicht ein einziger internationaler Autohersteller im Land.

    Immerhin betreibt Great Wall bei der Stadt Lowetsch die erste chinesische Automontage in der EU. Die Zulieferindustrie wächst stark. Die Klimasteuerung des neuen Audi Q7 und des A8 wird in Bulgarien hergestellt. BMW hat gerade ein Werk mit 3500 Beschäftigten zur Produktion von Ledersitzen für seine Fünferreihe eröffnet. Der Sensorenhersteller Festo konnte seine Kapazitäten in nur vier Jahren vervierfachen. Ähnliches gilt übrigens auch für den Kabelhersteller Yazaki aus Japan, für Johnson Controls aus Amerika oder für ABB aus der Schweiz.

    Eine Umfrage der Deutsch-Bulgarischen Industrie- und Handelskammer zeichnet ein zwiespältiges Bild. So rangiert Bulgarien unter 16 osteuropäischen Ländern bei der Rechtssicherheit an letzter Stelle. In Fragen der Stabilität, der Korruption und Kriminalität sind nur das Kosovo sowie Bosnien-Hercegovina schlechter.

    Das muss uns zu denken geben. Warum braucht man 17 Unterschriften für einen Bauantrag? Warum gibt es nicht eine einzige zentrale Genehmigungsstelle für Auslandsinvestitionen? Bürokratismus, Korruption und Vetternwirtschaft stammen noch aus kommunistischer Zeit. Wenn Sie nicht 15 Jahre auf ein Auto und 5 Jahre auf ein Fernsehgerät warten wollten, brauchten Sie Beziehungen oder Schmiergeld. Ich erinnere mich noch, dass wir stundenlang für eine Flasche Milch anstanden. Eine zweite gab es nur unter dem Ladentisch. Das hat viele Institutionen bis heute vergiftet.

    Was ist dagegen zu tun?

    Die Gesetze und Einrichtungen sind alle da, aber oft scheitert die Rechtssicherheit an den ausführenden Personen. Deswegen brauchen wir eine Justizreform mit besseren Kontrollen. Bei den letzten Abstimmungen gab es dafür im Parlament eine riesige Mehrheit, das macht mich zuversichtlich.

    Viele Bulgaren verlassen aus Frust das Land. Zu Recht?

    Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Es ist gut, dass wir die Freizügigkeit in der EU haben, dass meine jungen Landsleute in England studieren oder in Spanien arbeiten können. Interessant ist übrigens, dass so gut wie niemand nach Russland geht, alle orientieren sich an Europa oder Amerika. 1,5 Millionen Bulgaren wohnen schon im Ausland, im Inland sind es 7,3 Millionen. In Deutschland gibt es 155.000 Bulgaren. Deren Arbeitslosenquote ist geringer als die der Deutschen und nur halb so hoch wie die der anderen Ausländer.

    Also ist der „Braindrain“ nicht so wild?

    Volkswirtschaftlich ist das natürlich ein Problem. Es lässt sich aber nicht vermeiden in Staaten, die sich öffnen. In Irland, Griechenland, Spanien oder Polen verlief die Entwicklung ganz ähnlich. Mit zunehmendem Wohlstand kommen die Leute wieder zurück. Wir müssen ihnen hier in Bulgarien Perspektiven bieten und tun das auch. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Eigentlich wollte die Lufthansa ihre Flugzeuge in Bulgarien nur lackieren, jetzt lässt sie sie hier vollständig warten. Dafür braucht sie 300 Ingenieure, Bulgaren aus der ganzen Welt.

    Welche bulgarischen Unternehmen beeindrucken Sie am meisten?

    Da gibt es viele. Wussten Sie, dass unsere Fahrradhersteller zu den größten in der EU gehören? Walltopia aus Sofia ist der führende Hersteller von Kletterwänden in der Welt. Den veganen Energieriegel Roo’bar haben junge Bulgaren vor einigen Jahren in einer kleinen Bäckerei erfunden. Heute liefert das Unternehmen in 30 Länder und wächst mit 1000 Prozent im Jahr. So bunt und vielversprechend sieht der neue Balkan aus!

  5. Das ist der lustigste Vorwurf: Wer tatsächlich behauptet, in Griechenland glaube man „schuld sind immer nur die anderen“, hat so offensichtlich noch nie mit einem Griechen gesprochen, dass ich echte Schwierigkeiten habe, danach noch zuzuhören. Aber dann wiederum überrascht mich das in der FAZ gar nicht.

  6. Griechenlands doppelte Tragödie
    Erst das harte Sparprogramm der Troika, jetzt eine Regierung, die dem Land massiv schadet. Von Joschka Fischer

    Griechenland muss einem leidtun. Zuerst, nach 2009, wurde es zum Experimentierfeld für eine die Wirtschaftskrise des Landes noch verstärkende Austeritätspolitik der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank, und Internationalem Währungsfonds. Dann haben die Griechen eine Regierung gewählt, die offensichtlich wild entschlossen ist, das Land endgültig in den Abgrund zu stürzen.

    Dabei hatte die neu gewählte Regierung unter Ministerpräsident Alexis Tsipras zu Beginn ihrer Amtszeit eine sehr große Chance, eine Chance, die sie allerdings im Rausch des Wahlsieges in kürzester Zeit vertan hat. Damals hatte selbst unter den Konservativen in Berlin ein Stimmungsumschwung stattgefunden; man wollte die Austeritätspolitik der Troika prüfen und lockern. Ein neuer, mehr wachstums- und weniger austeritätsorientierter Kompromiss war möglich geworden. Selbst die Hardcore-Austeritätspolitiker in den Reihen der deutschen Konservativen und ganz gewiss die Bundeskanzlerin selbst waren nachdenklich geworden angesichts der nicht mehr zu übersehenden negativen politischen Folgen ihrer Austeritätspolitik im europäischen Süden für die Stabilität von EU und Währungsunion.

    Die neue Regierung in Athen hätte sich mit einigem Recht als die große Chance Europas in Brüssel und den Hauptstädten präsentieren können. Als eine Regierung, die es ernst meint mit einem weitreichenden Reform- und Modernisierungsprogramm für das Land. Selbst die notwendigen sozialen Korrekturen zugunsten der Ärmsten der Armen sind in Europa auf viel Sympathie und Verständnis gestoßen, das noch verstärkt worden wäre, wenn denn Athen damit begonnen hätte, zu diesem Zweck den aufgeblähten Verteidigungsetat zu kürzen, was man von einer erklärten „Linksregierung“ eigentlich erwarten sollte.

    Aber diese Gelegenheit wurde von der neuen Syriza-Regierung vertan, weil sie den Unterschied zwischen Wahlkampf und Regierungshandeln ganz offensichtlich nicht verstanden hat oder auch verstehen wollte. Innerhalb des radikalen politischen Parteihorizonts von Syriza sah ein Einschwenken auf die Realität ganz offensichtlich zu sehr nach Verrat aus. Genau in diesem Punkt aber liegt die Wesensdifferenz zwischen Regierung und Opposition in der Demokratie: Opposition darf wünschen und versprechen und sogar träumen. Regierung muss unter den gegebenen Bedingungen (und nicht in Wunschwelten oder in theoretischen Systemen) handeln. Und je mehr und erfolgreicher eine Opposition Versprechen abgibt, umso größer wird die Kluft zwischen diesen Versprechen und der Realität. Wenn sie am Ende in demokratischen Wahlen damit sogar Erfolg hat, dann hat sie ein ernsthaftes Problem.

    Marxisten – wenn sie denn gute Hegelianer sind – bezeichnen diese Differenz als den Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Das Geld der internationalen Kreditgeber ist unverzichtbar für Griechenland, wenn das Land seine Zahlungsunfähigkeit abwenden soll. Will man mit seinen Gläubigern einen neuen Kurs aushandeln, so wird dies kaum mittels der Zerstörung der eigenen Glaubwürdigkeit oder durch wüste Beschimpfung der Kreditgeber gelingen, zumindest lehrt dies die Lebenserfahrung.

    Mit einer Mischung aus Ego, Ideologie und Unerfahrenheit erklärt sich die katastrophale Rhetorik der neuen Athener Regierung, nicht aber, warum die vereinigte Linke in der Syriza-Partei ausgerechnet mit einer rechtsradikalen Partei eine Koalition einging und nicht mit einer der möglichen proeuropäischen Parteien der Mitte, die dazu bereit gewesen wären. Steckt da am Ende eine gemeinsame nationalistische Plattform in der Innen- und Außenpolitik dahinter, die man insgeheim teilt? Ein Wechsel der Bündnisse gar? Ich hoffe, dass dies nicht zutrifft, denn es wäre gleichermaßen schlimm für Griechenland und Europa.

    Meine Skepsis wurde allerdings verstärkt durch zwei schwere außenpolitische Fehler, die Tsipras gleich zu Beginn seiner Amtszeit unterliefen: sein Flirt mit Russlands Präsident Putin und der Versuch, Deutschland in der Euro-Gruppe zu isolieren, was niemals funktionieren konnte.In der Währungsunion ist es mittlerweile Konsens, dass alles getan werden muss, um Griechenland im Euro und in der EU zu halten. Aber auch in Athen muss man begreifen, dass eine Reihe von Krisenländern oder auch ärmere Mitgliedstaaten der Euro-Zone nicht bereit sein werden, schmerzhafte Reformen in ihren Ländern im Nachhinein durch Beschlüsse zugunsten Griechenlands zu delegitimieren.

    Damit ist der Rahmen für die griechische Tragödie abgesteckt: Die Uhr läuft, denn die nächsten Zahlungstermine stehen fest. Weiter chaotisch aneinander vorbeireden wird nicht helfen, wenn man verhindern will, dass das Land aus dem Euro herausstolpert, was gegenwärtig die größte Gefahr ist. Diese Gefahr abzuwenden kann nur gelingen, wenn beide Seiten unverrückbar von der Grundlage ausgehen, dass Griechenland in der Gruppe der Euro-Staaten bleibt, und dass es bei den anstehenden Verhandlungen nicht um Sieger oder Verlierer gehen darf. Griechenland braucht dringend tief greifende Reformen, ganz unabhängig von der Troika und der Währungsunion, wenn das Land wieder auf die Beine kommen soll. Diese Reformen werden ihre Zeit brauchen. Gleichzeitig braucht Griechenland Geld – und das schnell. Die EU als Ganzes schließlich braucht endlich eine Wachstumsperspektive. Zudem stehen alle Beteiligten unter großem innenpolitischen Druck, der auf dem Kompromisswege ausgeglichen werden muss. Dabei werden alle Beteiligten in diesen Kompromiss einzahlen müssen, was bedeutet, dass sie zu Hause gleichermaßen Erklärungsbedarf haben.

    Man sollte sich hier gleich auch von einer Illusion verabschieden: Weder werden mittels der griechischen Finanzkrise die europäischen Konservativen zu schlagen und die Machtverhältnisse in der EU zu verändern sein, noch ist die Finanzkrise Griechenlands das Instrument, um die griechische Linke von der Macht zu entfernen.

    Es geht ausschließlich um die Zukunft Griechenlands in Europa und um die Zukunft des gemeinsamen europäischen Projekts. Griechenland wieder auf die Beine zu helfen und das Land im Euro zu halten liegt im europäischen Interesse, gleichermaßen politisch wie wirtschaftlich. Wie dies geschehen soll, darum geht der Streit, und hierbei muss man sich jetzt aufeinander zubewegen, Schritt für Schritt und unter Vermeidung chaotischer Konsequenzen.

  7. wenn nur 10 % davon stimmt, fragt man sich, was diese Betrügergesellschaft in Europa zu suchen hat. Ist es eigentlich eine Zumutung, wenn wir Geldgeber von den Griechen verlangen, sich im eigenen Interesse davon zu befreien:

    Richard Fraunberger

    Im Würgegriff

    Seit 1991 versprachen neun griechische Premierminister Reformen und die Modernisierung eines Staates, der beim Eintritt in die Europäische Gemeinschaft 1981 allenfalls vormodern war. „Säuberung“, „Wiederaufbau des Staates“, „Geld ist da“, „Die Hoffnung kommt“ lauteten die Slogans. Mit überwältigender Mehrheit wurden sie an die Macht gewählt. Doch Reformen wurden weder umgesetzt noch von den Bürgern eingefordert. Wo liegen die Hindernisse? Und wie kommt es, dass die Bevölkerung den Euro will, aber wenig Reformbereitschaft zeigt?

    Seit dem Ende des Bürgerkriegs war Griechenland noch nie so nahe an einer wirtschaftlichen Katastrophe wie heute: leere Staatskassen, eine exorbitante Staatsverschuldung, dazu Streiks und soziale Unruhen. Gehälter und Renten können bald nicht mehr ausgezahlt werden. Die Industrieproduktion ist rückläufig. Investoren ziehen sich zurück. Ausländisches Kapital fließt kaum mehr ins Land. Das Defizit des öffentlichen Sektors inklusiv aller Staatsunternehmen beträgt ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Nur mit monatlich aufgelegten Schuldverschreibungen und europäischen Subventionsgeldern kann sich der Staat über Wasser halten. „Die Wirtschafts- und Finanzlage des Landes unterminiert die Zugehörigkeit Griechenlands zur Gemeinschaft. Athen muss unverzüglich drastische Maßnahmen ergreifen und Reformen ausarbeiten“, warnt die Europäische Kommission. Ausgabenkürzungen sind nötig, Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst, Steuererhöhungen und die Heraufsetzung des Rentenalters, andernfalls muss das Land unter die Obhut des Internationalen Währungsfonds.

    Was sich liest wie die Berichterstattung der letzten Monate und Jahre, ist die Zustandsbeschreibung Griechenlands von 1991. Ein Déjà-vu-Erlebnis, bei dem man sich ungläubig die Augen reibt. Riesige Schuldenberge? Erdrückendes Staatsdefizit? Warnungen der Europäischen Kommission? IWF? Seit 1991 versprachen neun Premierminister Reformen, den Umbau und die Modernisierung eines Staates, der beim Eintritt in die EG 1981 allenfalls vormodern war und bis heute im Kern, von seinen Strukturen her, noch immer osmanisch-feudal geprägt ist. „Säuberung“, „Wiederaufbau des Staates“, „Geld ist da“, „Die Hoffnung kommt“ lauteten die Slogans der Politiker. Mit überwältigender Mehrheit wurden sie an die Macht gewählt: 45 Prozent für die konservative Nea Dimokratia, 46 für die sozialistische Pasok und nun 36 Prozent für die linksradikale Syriza. Die Massen jubelten. Mehr als 100 Milliarden Euro flossen seit 1981 aus Brüsseler Fördertöpfen nach Athen, und noch immer steht der Staat auf tönernen Füßen, lebt von Olivenöl, Zitrusfrüchten, Sonne und Meer. Statt in wettbewerbsfähige Technologien zu investieren, stiegen nach Einführung des Euros die Reallöhne innerhalb acht Jahre, um 40 Prozent. Seit 2010 wird der bankrotte Staat mit Milliardenkrediten vor dem Bankrott bewahrt. Wie kommt es, dass die Politiker Griechenlands seit Jahrzehnten überfällige Reformen ankündigen, im Steuer- und Gesundheitswesen, in der Verwaltung, dem Rentensystem, auf dem Arbeitsmarkt und im öffentlichen Sektor und dennoch alles beim Alten bleibt? Und weshalb fordert die Gesellschaft Reformen nicht einfach ein? Um die Gründe besser zu verstehen, ist es ratsam, sich im Kleinen umzusehen. Auf Euböa zum Beispiel, der zweit größten Insel.

    Wenn Rena Voria, 44 Jahre, aus dem Fenster ihres Hauses blickt, spürt sie Dankbarkeit und Glück. Sie ist umgeben von Bergen, mit Wildblumen überwachsenen Feldern und knorrigen Olivenbäumen. Fünf Gehminuten von ihrem Haus entfernt liegt Krieza, ein typisches Dorf, winzig und verschlafen, 250 Einwohner, eine Handvoll Straßen, ein Klempnergeschäft, zwei Metzger, ein Rathaus und eine Kirche, auf der Störche nisten. Die Menschen leben vom Handwerk, die Alten halten Hühner und Schafe. Seit 13 Jahren unterrichtet Rena Voria Englisch am Gymnasium der benachbarten Kreisstadt Aliveri. Kurz vor Ausbruch der Krise haben sie und ihr Ehemann Ilias, 46, am Rande Kriezas ein Haus gebaut.

    „Es war eine Odyssee mit tausend Abenteuern“, sagt sie. „Die Eigentumsverhältnisse waren völlig ungeklärt. Das Grundstück war im Grundbuchamt nicht eingezeichnet.“ Bis heute hat der Staat keinen exakten Überblick über seinen Grund und Boden, seine Küste, Berge, Seen und auch nicht über seinen Wald. Er weiß nicht, wo sein Eigentum beginnt und wo es endet. Größe, Lage, Nutzung, Art und Besitztitel von Immobilien verlieren sich im Ungefähren. Und damit auch eine exakte Bemessungsgrundlage der Grundsteuer. Seit der Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich 1830 werkelt Griechenland an einem Kataster. Er ist bis heute nicht fertiggestellt. „Besitztitel werden aus dem Nichts geschaffen“, erklärt Rena. Alles; was es dazu bedarf, sind ein Notar und ein Eintrag ins Grundbuch. Wer ein Stück Land in Besitz nehmen will, für die Enkelkinder oder den Bau eines Ferienhauses, rodet es, pflanzt Ölbäume darauf, zieht einen Zaun und zaubert Zeugen herbei, die notariell versichern, dass das Grundstück seit Adam und Eva Privatbesitz ist. Mit dem anschließenden Grundbucheintrag verwandelt es sich rechtskräftig in Eigentum. Geschätzte 180 000 Hektar Land sind illegal in Besitz. Noch bis vor wenigen Jahren wurde Land ausschließlich „dia logou“, das heißt mündlich, vererbt und verkauft. Erst nach dem Grundbucheintrag kauften Rena und ihr Mann das Grundstück.

    Drei Jahre später war das Haus fertig. Auf ihrer Odyssee zum Eigenheim segelten sie durch Schattenwelten, vorbei an Topographen, Rechtsanwälten und Notaren, vorüber am Forstamt, der archäologischen Behörde, dem Steuer- und Bauamt, mitten hinein in die mit Stempeln ausgestattete Heerschar von Staatsangestellten. Manche wollten Geld unter der Hand, manche brauchten für ihre Arbeit ein ganzes Jahr, obgleich sie sich auch an einem Tag erledigen lässt, viele erklärten sich für Anträge und ihre Bearbeitung nicht zuständig, selten war ein Antrag vollständig, immer brauchte es weitere Papiere, für die man weitere Stempel von weiteren Ämtern benötigte. Anträge zu stellen, ist ein zeitraubender Vorgang. Und das im Zeitalter digitaler Technik. Und alle Handwerker stellten Rechnungen aus, die weit unter dem lagen, was Rena und Ilias bezahlt haben. Nicht mal der offizielle Kaufbetrag des Grundstückes stimmt mit dem tatsächlichen überein, obgleich, wie gesetzlich vorgeschrieben, zwei Rechtsanwälte beim Vertragsabschluss anwesend waren. Eine landesweite Praxis und ein Umstand, der allen bekannt ist, dem Grundbuchamt, der Justiz, dem Finanzamt. Immobilien zu erwerben, ist der einfachste Weg, Geld zu waschen. „Selbst der Bauingenieur ließ sich nicht dreimal bitten“, sagt Rena. Die Vorauszahlung von zweitausend Euro hat er von der Rechnung nicht abgezogen. Das Ehepaar wartet noch heute auf die Rückzahlung. Das Geld einzuklagen, hat wenig Sinn. „Darauf spekuliert der Bauingenieur“, meint Rena. Zu niedrig der Streitwert, zu hoch die Prozesskosten, zu lange die Prozessdauer. Das Justizsystem ist ineffizient. Bei den Verwaltungsgerichten haben sich 800 000 Fälle aufgestaut. Ein Verfahren von der ersten Instanz bis zum Erlass eines rechtskräftigen Urteils durch das Oberste Verwaltungsgericht dauert fast 13 Jahre. Und drei Jahre vergehen, ehe die Verhandlung in einem Verfahren zur Steuereinziehung überhaupt anberaumt wird. Ein Paradies für Steuersünder.

    Trotz aller Widrigkeiten sind Rena und Ilias zufrieden mit ihrem dörflichen Leben. Lärm, Stau, Streiks, nichts davon gibt es auf dem Land. Doch die Idylle trügt. Seit dem Euro gleicht die Insel einem Naherholungsgebiet Athens. Bis 2010 wurde überall auf Euböa gebaut. Küste und Berge sind zersiedelt. Neben Aliveri, auf einem kahlen Hang mit Meeresblick, erwuchs binnen acht Jahren ein Neubaugebiet mit über 500 Häusern. Die meisten davon fürs Wochenende. Ein großes Problem ist die Wasserversorgung. Nahezu jeden Monat bricht in Krieza und den umliegenden Dörfern ein Leitungsrohr oder Pumpen fallen aus. Das marode Leitungsnetz stammt aus den Sechzigern, als die Junta Strom und fließendes Wasser in die Dörfer brachte. Es ist das Ergebnis jahrzehntelangen Flickwerks. „Die Wasserqualität ist katastrophal“, sagt Kostas Lathouras, 51 Jahre, Maler, Gipser, Gärtner, ein Mann für alle Arbeiten. „Im Kaffeehaus servieren sie abgefülltes Mineralwasser zum Kaffee. So schlecht ist das Leitungswasser.“ Es bringt rostfreies Geschirr zum Rosten. Das liegt am Kalk, sagen die Dorfbewohner. Das liegt an aggressiven Substanzen, behauptet Kostas. Beim kommunalen Wasserversorger in Aliveri wollte er die Ergebnisse der letzten Wasseranalyse einsehen. Zwei Proben pro Jahr sind vorgeschrieben. Der Angestellte gab ihm die Handynummer des Verantwortlichen. Kostas Lathouras wählte die Nummer, erhielt eine andere, wurde schließlich weiter- und wieder weitergereicht, bis er abermals beim Angestellten des Wasserversorgers landete. Seit drei Jahren kontrolliert die Gemeinde nicht mehr das Leitungswasser. Es heißt, sie habe kein Geld. Ein Analyse kostet 200 Euro.

    Kostas Lathouras ist in Sydney geboren. Mit 21 Jahren kam er zurück ins Dorf seiner Eltern. Er ist stolz darauf, Grieche zu sein. Dass aber die Gemeinde, statt in die überfällige Instandhaltung des Wassernetzes zu investieren, lieber Geld ausgibt für einen mit Steinen gepflasterten Platz mit der Büste eines Revolutionshelden aus dem Aufstand gegen das Osmanische Reich, bringt ihn zur Weißglut. Er steht auf dem Platz mitten in Krieza und schätzt die Baukosten auf 30 000 Euro. „Die wirklichen Kosten liegen 50 Prozent höher“, glaubt er. Aufträge werden ausgeschrieben, Angebote eingeholt. Am Ende geht der Auftrag an jene, die sich mit dem Bürgermeister und seinen Leuten auf zwei Geldbeträge einigen: einen auf dem Papier und einen realen. Die Differenz wird nach einem Schlüssel verteilt und eingesteckt. Eine landesweite Praxis und ein Umstand, der allen bekannt ist, den Bürgern, dem Finanzamt, dem Staat. Um auch weiterhin im Amt zu bleiben, bringen der Bürgermeister, seine sechs Stellvertreter und die 48 Gemeindevorsteher kurz vor den Kommunalwahlen den Landkreis Aliveri auf Vordermann. Plötzlich werden Gehwege erneuert, Plätze verschönert, und wer für den Bürgermeister stimmt, erhält auch eine asphaltierte Straße zum Stall.

    Der Staat macht es ähnlich, nur im großen Stil. Wie kommt es, dass Griechenlands mächtigster Baudienstleister staatliche Großaufträge abonniert zu haben scheint? Die drei Kilometer lange Rio-Antirrio-Brücke, die Ringstraße Attikas, das neue Akropolis-Museum, die olympischen Sportstätten – alles das Werk der Unternehmerfamilie Bobolas. Und wie ist es möglich, dass vor jeder Parlamentswahl die Zahl der Staatsangestellten steigt und die Steuereinnahmen sinken? Kurz vor den Europawahlen 2014 hatte Charis Theocharis, oberster Steuereintreiber und Chef einer auf Betreiben der Troika eingerichteten, von der Regierung unabhängigen Sonderkommission für Steuereinnahmen, strengere Kontrollen und härtere Strafen für Steuersünder angekündigt. Kurz darauf verlor Theocharis sein Amt. Wo die politische Kaste über den Eifer und die Effizienz der Steuerverwaltung bestimmt, um ihre Macht, ihr Vermögen und ihr politisches Fortleben zu garantieren, dort werden sich auch weiterhin Steuerschulden anhäufen. Über 70 Milliarden Euro ausstehende Steuern fehlen in den Staatskassen.

    Gleich hinter dem Platz liegt das dreistöckige Gemeindehaus Kriezas mit Tiefgarage und Konferenzraum, gebaut 2006, finanziert aus dem Strukturfonds der Europäischen Union, ein Gebäude, so groß und modern, wie es nicht einmal die zwanzig Mal größere Kreisstadt Aliveri hat. Darin sitzen acht Angestellte, die Geburts-, Sterbe- und Eheurkunden ausstellen und sich um die Wasserversorgung kümmern. Bricht ein Rohr, schickt ein Angestellter den Dorfklempner und einen Bagger zur Bruchstelle. Ist ein Wasserzähler defekt, marschiert eine Hilfskraft los. Oder auch nicht. Seit Jahren funktionieren die Wasserzähler vieler Haushalte nicht. Ob der Verbrauch ein oder tausend Hektoliter im Monat beträgt, die Rechnung ist stets dieselbe. Eine Wasser-Flatrate, in einem Land, dessen Regierung Staatslimousinen verkauft und damit ein Zeichen für Sparsamkeit setzen will. Erklärt man im Rathaus das Problem, nicken die Angestellten. Doch nichts passiert. Im Dorf winken alle ab. „Die werden für nichts bezahlt“, sagen viele hinter vorgehaltener Hand.

    Seit der Gründung Griechenlands ist der Staat traditionell der wichtigste Arbeitgeber. Das Gehalt ist nicht immer üppig, doch die Stelle ist erdbebensicher, und Arbeitszeiten und Präsenzkontrolle ermöglichen die Ausübung einer zusätzlichen Nebentätigkeit, unversteuert, versteht sich. Einen Job im Rathaus zu ergattern ist nicht schwer. Qualifikation ist Nebensache. Was es braucht, um an eine Arbeitsstelle, eine Genehmigung oder an irgendeinen sonstigen Vorteil zu kommen, sind Beziehungen. Ein Paradebeispiel gab der Politiker Vyron Polydoras. Im Mai 2012 wurde er für nur einen Tag zum Parlamentspräsidenten gewählt, weil sich das Parlament umgehend wieder auflöste. Kaum im Amt, stellte er seine Tochter im Präsidentenbüro ein.

    Auf staatlichen Gehaltslisten zu stehen, ohne je zur Arbeit zu gehen, fingierte Abrechnungen an die Krankenkasse einzusacken, Einkommen zu versteuern, die in Wirklichkeit zwanzigmal höher sind, Häuser zu bauen, wie und wo man, will, obgleich es strenge Bauvorschriften gibt, eine Invalidenrente zu beziehen, obgleich man kerngesund ist, Rechnungen zu fälschen und nebenbei das Haushaltsdefizit zu frisieren, Schmiergelder zu zahlen auf dem Finanzamt, Bauamt, im Krankenhaus, beim Zoll und Gesundheitsamt, all diese kleinen und großen Betrügereien sind keine Vergehen einzelner Interessengruppen. Es ist gelebte Kultur. Keine Schummelei, kein Skandal entfacht einen echten, gesellschaftlichen Diskurs. Jeder nimmt die größte Gaunerei als gegeben hin. Mogeln ist ein Volkssport. Jeder betreibt ihn. Und jeder hat eine Entschuldigung dafür: „Alle bedienen sich. Warum nicht auch ich?“

    Jeder klagt über den Staat, und jeder träumt von einem Beamtensessel. Griechen lieben ihre Nation, das Griechentum, die Kirche. Staatlichen Institutionen misstrauen sie. Der Staat ist ein Feind. Er hält die Hand auf, wann immer er kann. Er ist korrupt und korrumpiert, er bekämpft Korruption und schafft sie, er macht seinen Bürgern oft das Leben schwer, oft versüßt er es aber auch. Seine Bürokratie ist ein Albtraum, ein Labyrinth mit verstaubten Akten auf langen Korridoren. Seine Beamten sind verantwortungsscheu, inkompetent und nehmen jeden in Geiselhaft, der ihre Unterschrift braucht. Zugleich ist der Staat ein Schlaraffenland, reich an Ressourcen. Man betritt es als Eroberer in der Gestalt eines Buchhalters, Bürgermeisters, Ministers. Man plündert ihn und bringt die Beute in den sicheren Hafen der Familie. Eine Weltanschauung, die seit Generationen an die nächste weitergereicht wird. Wozu Reformen, wenn man persönliche Vorteile verliert? Reformen, die, so sieht es die Mehrheit der Bevölkerung, von außen aufgezwungen sind. Reformen, die einen Kultur- und Mentalitätswechsel voraussetzen und damit Einsicht und Zustimmung. Die Schuld an verschleppten, verhinderten und sabotierten Reformen liegt nicht allein bei den Politikern. Das Land wurde mit dem Votum seiner Bürger heruntergewirtschaftet. Und die Europäische Union sah tatenlos zu.

    Die Menschen sind reformmüde und vom Sparen zermürbt. Das Wort Reform steht nicht für notwendige Erneuerungen, sondern ausschließlich für den Griff ins Portemonnaie“, erklärt Panajotis Karkatsoulis. Er sitzt in seinem Büro in Athen und redet sich in Rage. Karkatsoulis, 57 Jahre, von einer amerikanischen Organisation zum besten Beamten der Welt gewählt, ist Jurist und Fachmann für Reformen. Er war Abteilungsleiter im Ministerium für Verwaltungsreform und sitzt nun für die linksliberale Partei „To Potami“ im Parlament. Statt zuerst den Verwaltungsdschungel bis ins Detail zu analysieren und notwendige Daten für Reformen aufzubereiten, wurden umgehend Gehälter gekürzt und Personal entlassen. „Ein kurzfristig fiskalischer Nutzen, der langfristig in die Katastrophe führt“, sagt er. Die Probleme, das Land zu reformieren, sind gewaltig. „Der Staatsapparat ist veraltet, überreguliert, hyperzentralisiert.“ Die Verwaltung leidet an überlappenden Strukturen. Im öffentlichen Dienst gibt es keine klar definierten Aufgaben und Zuständigkeiten. Befugnisse sind auf mehrere Behörden verteilt, teilweise widersprechen sie sich. Die Zentralverwaltung schafft es auf 23 142 Regulierungskompetenzen, und ständig ändern sie sich. Würde man sie als Pfeile zwischen den unzähligen Strukturen als Organigramm darstellen, es sähe aus wie eine durcheinander geratene Klimakarte.

    Griechenland braucht dringend Transparenz und Kontrollen. Kaum waren unter der Regierung Samaras neue, von der Troika geforderte Gesetze zur Einkommensteuer verabschiedet, wurden sie per Ad-hoc-Ministerbeschluss durch Ausnahmeregelungen, Schlupflöcher und Vergünstigungen für Interessengruppen umgehend verwässert und torpediert. Ein Zurückdrehen der Reformen durch die Hintertür. Die Folgen waren sinkende Steuereinnahmen. Was dennoch an Reformen durchsickert, in die Büros der Steuerämter und Rathäuser, findet in der Praxis oft keine Anwendung. „Das größte Hindernis bei der Umsetzung von Reformen ist der Klientelismus“, sagt Karkatsoulis. Er ist eine über viele Jahrzehnte zu einem Dschungel herangewachsene Schlingpflanze. Sie wuchert in Gesetzen, rankt um Verordnungen, hat Wurzeln geschlagen im Rathaus, im Parlament, in den Parteien, sie hat sich festgekrallt in den Köpfen der Menschen. Sie hat sie fest im Würgegriff. Sie beherrscht sie. Eine Gesellschaft hat auf dem Klientelismus einen Staat aufgebaut. Staatsapparat und Parteien sind zerfressen von ihm.

    „Nur eine Big-Bang-Reform kann das Schiff wieder auf Kurs bringen“, glaubt Karkatsoulis. Doch dazu brauche es politischen Druck von außen. Was über 30 Jahre lang an Reformen verschleppt wurde, kann so schnell nicht nachgeholt werden, trotz der vollmundigen Versprechungen Syrizas. Keine Regierung wird jemals den Staat runderneuern. Karkatsoulis Ruf nach einer Big-Bang-Reform wird unerhört bleiben. Zu hoch sind die politischen Kosten. Zu viele profitieren vom Willkür- und Abhängigkeitssystem. Dass die Mehrheit der Bevölkerung die Regierung in ihrem harten Kurs gegenüber den Geldgebern unterstützt, versteht er. „Die Bürger wollen keine Reformen, aber sie wollen den Euro. Das ist kein Widerspruch. Griechen haben viele Identitäten. Wir sind flexibel. Wir sind Europäer, und wir sind es nicht.“

    Solange die Bürger Griechenlands keine Gegenleistung für ihre Steuern erhalten, solange es keine Steuergerechtigkeit und keine sozial ausgewogene Politik gibt, solange Politiker das Transparenz- und Leistungsprinzip meiden wie die Pest, solange Geldströme das Klientelwesen auch weiterhin nähren, solange sich für alles und jeden eine Lobby findet, nur nicht für das Gemeinwohl, solange eine ganze Gesellschaft auf ihre Vorteile, Privilegien, Boni und Vergünstigungen pocht und besteht, die Rentner und Staatsangestellten, die Politiker, Freiberufler, Gewerkschafter, die Bauern, Lkw-Fahrer und Kioskbesitzer, die Kirche, die Fußballvereine und die panhellenische Vereinigung der Hasenjäger, so lange werden die Menschen mit aller Kraft und Kreativität alles daran setzen, Reformen zu umgehen.

    Richard Fraunberger ist freier Autor und lebt seit 14 Jahren in Griechenland. Der Beitrag ist zuvor in der Fachzeitschrift „Internationale Politik“ erschienen.

  8. Originalversion

    Meinungsseite
    GRIECHENLAND
    Zur ewigen Krise Griechenland wird auch ohne Grexit zum gescheiterten Staat
    Von Stefan Kornelius

    Während dieser vorletzten Sekunde des Griechen-Dramas zeigt sich ein logischer Widerspruch, der wegen aller politischen Aufladung und Empörung nicht aufzulösen ist. Jetzt, da der Volkszorn hochkocht, bleibt eine rätselhafte Frage: Muss das wirklich alles sein wegen läppischer zwei Milliarden Euro? Muss Europa seine Währung, Griechenland sein bisschen staatliche Glaubwürdigkeit, der Kontinent seine politische Vernunft opfern wegen einer vergleichsweise kleinen Summe?

    Zwei Milliarden, vielleicht nur anderthalb – das ist der Betrag, den Griechenland noch einsparen muss, um die Bedingungen zur Auszahlung des zweiten Rettungspakets zu erfüllen. Dieses Geld könnte man Griechenland quasi schenken, angesichts der dreistelligen Milliardensumme, die das Land seinen Gläubigern allemal schuldet – und die es niemals zurückzahlen kann. Zwei Milliarden im Tausch gegen Ruhe und Frieden in der Euro-Zone. Fast schon ein Schnäppchen.

    Die Zahlen zeigen, dass hier etwas grundsätzlich schiefgelaufen ist. Zwei gegensätzliche Vorstellungen von Europa und seiner Währung haben sich in den vergangenen Monaten unauflösbar miteinander verstrickt. Die Euro-Zone hatte sich in den vergangenen Jahren auf einen Erste-Hilfe-Mechanismus zur Kontrolle der Schuldenkrise geeinigt, der sich auf die Formel Unterstützung gegen Reformen reduzieren lässt. Damit waren die Konstruktionsfehler der Euro-Zone nicht gelöst, aber zumindest kollabierte die Währung nicht.

    Griechenland hat sich diese Formel jedoch nie wirklich zu eigen gemacht. Das hat mit dem Mangel an Regierungsfähigkeit in Athen zu tun, mit dem scheinbar unüberwindbaren politischen Clan-System, mit einer anarchisch funktionierenden Volkswirtschaft, die nicht mal ein Katasterwesen kennt. Mit der Regierung Tsipras wurde diese Verweigerung zusätzlich ideologisch aufgeladen. Plötzlich war es Griechenland, das Europas wirtschafts- und finanzpolitisches Modell revolutionieren wollte. Der Schuldner schrieb die Geschäftsbedingungen – eine provozierende Verdrehung der Realität.

    Es ist unendlich schwer, die rhetorischen Sticheleien eines Yanis Varoufakis zu ertragen. Der Finanzminister und am Ende auch Ministerpräsident Alexis Tsipras haben für eine Aufladung gesorgt, die inzwischen das fundamentale Prinzip aller europäischen Zusammenarbeit gefährdet: den Kompromiss. Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft, die keine Verlierer kennen darf. Gäbe es stets Triumph und Demütigung – Europa würde nicht existieren können. Hier liegt die eigentliche politische Schuld der Regierung Tsipras. Sie hat das Maß verloren, sie kennt nur schwarz und weiß.

    Diese Radikalität hat eine Gefahr wieder aufkommen lassen, die gebannt zu sein schien: Die Schuldenkrise kann erneut die ganze Euro-Zone erfassen, zum Beispiel Spanien oder Portugal. Würden die Gläubiger Griechenland nachgeben oder gar bereits jetzt über einen Schuldenschnitt verhandeln, hätten die anderen Krisenländer ein Anrecht auf Gleichbehandlung. Selbst wenn sich der spanische Premier Mariano Rajoy dieser Logik verweigert, die Bewegung Podemos nutzt sie aus und würde gewählt in der Hoffnung, dass nun andere Regeln in der Euro-Zone durchzusetzen seien. Mehr noch: Würden die Wähler die Griechenland-Regeln nicht auch für sich einfordern, dann würden die Märkte nicht mehr mitspielen.

    Griechenland fordert also nicht nur Nachgiebigkeit zugunsten der eigenen Schatulle, sondern zerstört auch die Glaubwürdigkeit der Euro-Zone. Also geht es, wieder mal, um alles oder nichts: um die Überlebensfähigkeit des Euro.

    All das lässt sich nun nicht mehr in einer Nachtsitzung in Brüssel entwirren. Und ist es mehr als verständlich, dass niemand die Verantwortung übernehmen will für einen radikalen Schnitt – weder der EU-Kommissions-Präsident noch der Chef der Europäischen Zentralbank noch die deutsche Kanzlerin. Ein Grexit ist nicht die Sache eines simplen Beschlusses. Dazu gehören zwei. Und Griechenland wird sich dem Rauswurf ebenso verweigern wie einer Reform. Also bleibt nur eine Lösung: Die Krise wird ungeachtet aller Zahlungsfristen weitergehen. Griechenland wird seine Schulden nicht begleichen, Europa wird kein weiteres Geld zuschießen. Eine Parallelwährung in Form von Schuldverschreibungen wird in Griechenland zirkulieren, für den Euro wird es Kapitalverkehrskontrollen geben.

    All das wird enorme emotionale Spannungen provozieren. Griechenland wird ein ökonomischer failed state sein – ein gescheiterter Staat. Eine Tragödie, die für die Euro-Zone schwer erträglich ist. Alles andere wäre schlimmer.

    Quelle
    Verlag Süddeutsche Zeitung
    Datum Donnerstag, den 18. Juni 2015
    Seite 4
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  9. Die Heilung kann nur von innen kommen. Deswegen brauchen die Griechen öffentliches Steuerregister, wie in Nordeuropa. Nachbarschaft kontrolliert am besten, auch wenn die Behörden versagen.

  10. Griechenland will jetzt Reparationen für den Ersten Weltkrieg. Hm. Wir wär’s mit den Perserkriegen?

    Sehr wahr morgen in der SZ. Wenn das plärrende egozentrische Riesenbaby Griechenland, das seit fünf Jahren sinnlos und ergebnislos die Kräfte der EU bindet, endlich aus dem Euro ausgeschieden ist, wird ganz Europa viele, viele Kreuze schlagen:

    „Der Fall Griechenland zeigt, wie die EU auch im Jahre sieben der Krise noch immer um ihren Wesenskern ringt. Opfer dieser Auseinandersetzung ist zunächst die griechische Bevölkerung, aber auch der Rest der Union nimmt Schaden an der erbitterten Auseinandersetzung um den politischen Charakter der EU. Nach den sechs Monaten mit der dritten Krisenregierung in Athen ist sicher: Die von der Mehrheit in Griechenland getragene Vorstellung von Gemeinschaft, Staat und Währung passen nicht zum Konzept der übrigen Union. Die Regierung Tsipras will am Ende eine politische Union als Haftungsgemeinschaft, als Solidargemeinschaft und als Wohlstands-Verteilungs-Gemeinschaft. Die Mehrheit der Euro-Zone lehnt das ab.

    Als die Euro-Krise ihre böse Fratze zum ersten Mal zeigte, war genau dies die Alternative: Sollte der wohlhabende Teil des Kontinents die Schulden der anderen auf sich laden und die Währungsunion in eine Haftungsgemeinschaft umwandeln? Die Antwort – nicht nur aus Deutschland – fiel eindeutig aus: Nein, das würde die EU überfordern. Der Kern der Nationalstaaten ist alles andere als miteinander verschmolzen. Diese Nationalstaaten hätten eine Systemrevolution unter dem Druck einer kollabierenden Währung nicht ausgehalten. Europa hätte sich radikalisiert.

    In der Krise hat sich die Union deshalb auf eine andere disziplinierende Kraft geeinigt, der sich viele Staaten gebeugt haben: Irland, Portugal, Spanien haben die strukturellen Defizite ihrer Volkswirtschaften erkannt und reformiert. Sie haben sich einer Reformlogik gebeugt, die viele zwar als hart und fremdbestimmt empfanden, die aber den volkswirtschaftlichen Auslöser der Krise behob: die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und das Missverhältnis zwischen Ausgaben und Einnahmen in ihren Staatskassen.

    Griechenland ist in all den Jahren diese Reform nicht gelungen. Nun war und ist das Land viel stärker als die anderen Krisennationen gebeutelt von einer Jahrzehnte währenden Misswirtschaft. Aber Griechenland wurde auch eine besondere Aufmerksamkeit – siehe Schuldenschnitt 2012 – zuteil. Die Verlockungen des billigen Geldes, gepaart mit einigen sehr länderspezifischen Strukturfehlern haben Wunden geschlagen, die nicht so schnell verheilen können. Die Krise geht tiefer, weil sie an das politische System rührt, weil sie Parteien und Machtgefüge, Klientelwesen und gewachsene Hierarchien infrage stellt. Dazu kommt ein miserabel entwickelter Staatsapparat, ein destruktives Verwaltungs-Chaos, das sich in den Verhandlungen der letzten Wochen geradezu selbstzerstörerisch auswirkte.

    Die Lehre nach all den Monaten: Die Euro-Zone wird sich dieses Griechenland nicht nach ihrem Willen formen können, genauso wenig wie Griechenland die Euro-Zone revolutionieren wird. Dieser Erkenntnisprozess war schmerzhaft. Er setzte nicht erst mit der Regierung Tsipras ein, aber die jetzige politische Konstellation hat die Unversöhnlichkeit klar erkennbar werden lassen. Dass im Laufe dieser quälenden Verhandlungen so viel Radikalität entstanden ist, dass diese Monate viel Geld und guten Willen verbraucht haben, gehört zur bitteren Kostenrechnung des Trennungsprozesses.

    Selbst wenn nun ein Überbrückungs-Kompromiss gefunden wird: Zu einer Trennung wird es kommen müssen. Griechenlands Schuldenlast erzwingt einen neuen Schuldenschnitt, den die Gläubiger nur akzeptieren werden, wenn das Land aus der gemeinsamen Währung ausscheidet. Geld und Neustart – aber mit einer eigenen Währung. Wer diese komplizierte Formel ausrechnen will, der braucht vor allem Zeit und weniger politische Erregung.

    Ideal wäre also ein geordnetes Verfahren hin zu einem Schuldenerlass und einem Währungswechsel. Griechenland braucht seine eigene Währung, über deren Wert die Wirtschaftsleistung des Landes an die der europäischen Nachbarn angeglichen werden kann. Die Regulatoren der Gemeinschaftswährung – Löhne und Preise – lassen sich in Athen politisch offenbar nicht steuern. Das ist die Lehre aus der Verhandlungskatastrophe der letzten Wochen.

    Es ist das gute Recht der Gläubiger, den Zeitpunkt und das Regelwerk für diese Operation zu bestimmen. Ein neuer Schuldenschnitt darf die Euro-Zone und ihren mühsam erarbeiteten Konsens über die Stellschrauben der Wirtschafts- und Währungsunion nicht weiter beschädigen. Ein kontrollierter Austritt wird – mit etwas Abstand betrachtet – weder Griechenland schaden, noch die Europäische Union und ihre Währung zerstören.“

  11. off topic:

    Könnten Sie nicht einen Überblick über die Nachrichtenlage in Griechenland geben? Man liest hier täglich mehr düstere Prophezeiungen in Sachen Grexit. Ich frage mich, wie sich die Situation für die griechische Bevölkerung und die griechische Presse darstellt? Und vor allem – wie wirkt sich diese offenbar festgefahrene Situation auf den Rückhalt der Regierung in der Bevölkerung aus?

  12. Die Missachtung der griechischen Regierung gegenüber dem Budgetrecht des Bundestages (und mehrerer anderer europäischer Parlemente) ist erschreckend. Gibt es Demokratie derzeit nur in Hellas oder womöglich auch in anderen Ländern? Griechenland will offenbar der EU seine eigenen beklagenswerten Legalitätsstandards aufzwingen. Hätte man das Hilfspaket auch nur einen Tag verlängert, die Normenkontrollklage in Karlsruhe wäre noch Schlag Mitternacht eingegangen und hätte sofort zu einem Eilverbot geführt. Der Termin vom 30. Juni war seit Monaten bekannt. Ihn als „Ultimatum“ zu beschreiben, zeigt die tiefe Unwahrhaftigkeit der Athener Zocker. Und das Geschwätz vom Stolz und Demütigung bezeugt nur die Balkanmentalität unserer zurückgebliebenen Gesellschaft. Stehende Ovationen sind in Parlamenten meist Momente besonderer Dummheit. Wir erleben in Wahrheit den größten Erpressungsversuch in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg. Möge er scheitern.

    Welche Frage will die Athener Regierung dem Volk eigentlich vorlegen? Die Formulierung werden wir mit Ineresse lesen.

    Ist das dann der europäische Weg?

  13. Wirtschaft
    Schuldenschnitt nach Austritt
    Griechenland soll Hilfe bekommen, aber aus freien Stücken und vor allem zur Bekämpfung der humanitären Katastrophe – und nur außerhalb des Euro. Eine Antwort auf Jeffrey Sachs. Von Hans-Werner Sinn

    Ich habe größten Respekt vor dem fähigen, nachdenklichen Ökonomen Jeffrey Sachs. Trotzdem glaube ich, dass er die historische Realität nicht richtig sieht. Sein Vergleich mit Deutschland in der Weimarer Republik ist schief. Erstens litt Deutschland unter der Last von Reparationsforderungen, während Griechenland bislang in riesigem Umfang Kredithilfen von anderen Ländern bekam und weiterhin bekommen soll. Zweitens lief Deutschland damals in die Katastrophe, weil es nicht abwerten durfte. Ein Schuldenschnitt würde nur die Symptome der griechischen Krise beseitigen, doch die Arbeitslosen nicht von der Straße bringen. Das kann nur durch einen Austritt aus der Währungsunion gelingen.

    Den Druck, der durch Artikel wie jenen von Jeffrey Sachs und vielen anderen derzeit gegenüber Deutschland aufgebaut wird, hat man in ähnlicher Form schon vor fünf Jahren erlebt. Damals sträubte sich Deutschland, einer europäischen Rettungsarchitektur zuzustimmen, weil es Angst hatte, dass ihm dadurch die Schulden der Südländer ans Bein gebunden werden würden. Das war das Schreckensszenario, das Deutschland mit dem Beistandsverbot des Maastrichter Vertrages (Artikel 125 AEUV) hatte ausschließen wollen und weshalb es dieses Verbot zur Bedingung für die Aufgabe der D-Mark machte. Als aber der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy im Mai 2010 zum Äußersten ging und mit dem Austritt Frankreichs aus der Währungsunion drohte, knickte Angela Merkel ein. Druck gab es auch im Frühsommer 2012, als es darum ging, die Rettungsarchitektur durch den dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM und eine Bankenunion zu verfestigen. Damals gab es in der internationalen Presse eine regelrechte Treibjagd auf die Kanzlerin, bis sie nachgab.

    Nun kommt es, wie es kommen musste. Nachdem die privaten Anleger, die in Griechenland unterwegs waren, sich allesamt aus dem Staub gemacht und ihre griechischen Schuldpapiere der Staatengemeinschaft übertragen haben, kommt der Ruf nach einem Schuldenerlass. Der internationale Druck wird anschwellen, bis Deutschland wieder nachgibt.

    Wer waren eigentlich die privaten Anleger, die gerettet wurden? Vor allem die deutschen Banken, wie Sachs meint? Weit gefehlt. Vorn lagen die französischen Banken, die bis zum Frühjahr 2010, als die Rettungsschirme beschlossen wurden, 53 Milliarden Euro an die privaten und öffentlichen Sektoren Griechenlands verliehen hatten. Erst an zweiter Stelle folgten die deutschen Banken mit 33 Milliarden Euro, danach die US-amerikanischen mit zehn Milliarden Euro und die britischen mit neun Milliarden Euro.

    Es stimmt nicht, wie Sachs behauptet, dass das Rettungsgeld nur, oder auch nur vornehmlich, der Rettung der Banken diente. Bis zum Juni 2015 hat Griechenland 344 Milliarden Euro an Krediten von der EZB, dem IWF und der Staatengemeinschaft erhalten. Das waren 192 Prozent des BIP von 2014 oder rund 83000 Euro pro griechischem Haushalt. Von dem Geld wurde ein Drittel verwendet, um die Auslandsschulden der griechischen Volkswirtschaft zu bezahlen, die aus einem überhöhten Konsum der Vorkrisenjahre resultierten. Ein Drittel diente der Finanzierung des laufenden Lebensstandards der griechischen Bevölkerung während der Krise ab 2008, konkret des Leistungsbilanzdefizits, und ein Drittel der Finanzierung der Kapitalflucht der Griechen selbst. Aber das Argument, die Deutschen hätten im Wesentlichen sich selbst gerettet, ist zu süffig, als dass man es sich durch die Fakten kaputt machen lassen will. Es geht jetzt ums Weichklopfen für den Schuldenschnitt.

    Ich war von Anfang an gegen die Rettungsarchitektur, weil ich wusste, dass daraus nichts als Streit entstehen würde, denn Freunde, denen man Geld leiht, sind Freunde gewesen. Der große Fehler war, dass sich der deutsche Staat hat breitschlagen lassen, an die Stelle der privaten Gläubiger Griechenlands zu treten. Damit hat er sich dem natürlichen Streit zwischen Gläubigern und Schuldnern ausgesetzt und ihn zu einem Disput zwischen den Völkern gemacht. Ohne die Übernahme der griechischen Schuldpapiere durch die Staatengemeinschaft, insbesondere durch Deutschland, hätten Yanis Varoufakis und Alexis Tsipras, oder wer sonst an der Macht gewesen wäre, ihre sehr emotionalen Angriffe gegen die privaten Investoren aus aller Welt richten können, aber nicht gegen Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Wolfgang Schäuble. Die Staaten hätten sich nicht ineinander verbeißen können.

    Das heißt nicht, dass man Griechenland nicht hätte helfen sollen. Der deutsche Staat hätte dem griechischen Staat Geld zur Bekämpfung der humanitären Katastrophe schenken sollen, ohne Bedingungen und ohne Rückforderungen. Andere hätten es ebenso tun können. Nicht einen Marshallplan, sondern gleich mehrere hätte man gewähren können. Eine Hilfe aus freien Stücken wäre Deutschland wesentlich billiger gekommen und hätte die Freundschaft mit Griechenland gefestigt.

    Griechenland hat während der Krise bislang den Gegenwert von 37 Marshall-Plänen bekommen, wenn man davon ausgeht, dass Deutschland in der Summe der Jahre über den Marshall-Plan Hilfen bekam, die 5,2 Prozent des BIP von 1952 betrugen. Davon kamen rechnerisch zehn von Deutschland.

    Die Rettungsautomatik, der man stattdessen zustimmte, hat eigentumsähnliche Erwartungen geschaffen, die die Geberländer immer erneut ins Unrecht setzen, wenn sie nicht so viel geben, wie verlangt wird. Er ließ die perverse Situation entstehen, dass Deutschland Griechenland bis Ende Juni über bilaterale Kredite, seine Mitgliedschaft in der EZB und den fiskalischen Rettungsschirmen für 92 Milliarden Euro, immerhin etwa 22000 Euro pro griechischem Haushalt, die größte Kreditsumme aller Länder zur Verfügung gestellt hat, und doch heute in Griechenland als der größte Feind des Landes gilt.

    Man fragt sich im Übrigen, warum eigentlich der Schuldenschnitt so wichtig ist, wo doch Griechenland fast keine Zinsen mehr zahlt. Da dem Land ein Schuldenschnitt von 105 Milliarden Euro gewährt wurde und die Zinsen für wichtige Rettungskredite bei Null liegen, betrug die Zinsbelastung des griechischen Staates im Jahr 2014 nur noch 3,9 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes. Das entspricht einem Zinssatz von nur noch 2,2 Prozent.

    Der Grund kann nur daran liegen, dass sich Griechenland nach einem weiteren Schuldenschnitt wieder neu verschulden kann, zunächst beim IWF und dann vielleicht auch im privaten Sektor. Die Steuerzahler der noch gesunden Länder der Eurozone können diese Schulden dann wieder mit Rettungskrediten ablösen, die sie ein paar Jahre später erlassen müssen. So kann die Sache im Grunde endlos weitergehen. Nur: Wohin soll das führen? Jobs entstehen so nicht. Es wird nur der Staat mitsamt der Nomenklatura, die an ihm hängt, entlastet. Die ständige Neuverschuldung hilft weder den alten noch den jungen Arbeitslosen, die inzwischen mehr als die Hälfte der jungen Erwerbspersonen ausmachen.

    Auch ich bin für einen Schuldenschnitt, denn nachdem der europäische Rettungsfonds EFSF am 3. Juli 2015 offiziell die Insolvenz des griechischen Staates verkündet hat, ist es höchste Zeit für die staatlichen Gläubiger Griechenlands, der Wahrheit ins Auge zu schauen. Nur muss nach diesem Schnitt auch die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Arbeitnehmer wiederhergestellt werden, damit das Land auf eigenen Beinen stehen und ohne neuen Kredit auskommen kann.

    Aber da hapert es, weil die Arbeitnehmer in der inflationären Kreditblase, die der Euro dem Land brachte, viel zu teuer geworden sind. Die kreditfinanzierten Lohnerhöhungen der Vergangenheit sind heute der Klotz am Bein Griechenlands. So liegen im verarbeitenden Gewerbe die griechischen Lohnkosten je Stunde im Schnitt bei 14,70 Euro, während sie in den benachbarten EU-Ländern Bulgarien und Rumänien sowie in der Türkei zwischen 3,20 Euro und 5,50 Euro je Stunde betragen. Selbst Polen hat Lohnkosten, die nur halb so hoch sind. Kein Wunder, dass Griechenland bei Standortentscheidungen internationaler Investoren überhaupt nicht mehr vorkommt.

    So wichtig die Forderung von Jeffrey Sachs für einen Schuldenschnitt ist: Ohne einen Austritt Griechenlands aus der Währungsunion, der allein die Fundamentalprobleme des Landes lösen kann, ist sie sinnlos. Das sagen nicht nur Ökonomen wie Joseph Stiglitz, Paul Krugman oder Yanis Varoufakis, sondern auch die ehemaligen Chefvolkswirte der EZB, Jürgen Stark und Otmar Issing. Die Abwertung könnte virtuell über Nacht geschehen, indem alle Lohn-, Preis-, Miet- und Kreditkontrakte auf Drachmen umgestellt werden, während man die Euro-Banknoten bis zum Druck von Drachme-Noten für Bargeschäfte verwenden kann. Die Abwertung würde die Importe verteuern und die Verbraucher veranlassen, wieder heimische Ware zu kaufen, was der Landwirtschaft, der Nahrungsmittelverarbeitung und der Textilindustrie sofort einen Schub gäbe. Außerdem würde der Tourismus boomen. Reiche Griechen, die ihr Geld ins Ausland gebracht haben, kämen zurück, um die billiger gewordenen Immobilien zu kaufen. Das würde einen Bauboom wie einst in Italien nach der Lira-Abwertung im Jahr 1992 erzeugen.

    Die Währungsabwertung wäre der entscheidende Unterschied zu Deutschland in der Weimarer Republik. Deutschland musste seine Reparationen nach dem Dawes-Plan in Reichsmark leisten, die es gegenüber dem Goldstandard nicht abwerten durfte. Anders als England, das 1931 austrat, war es im Währungssystem gefangen. Das zwang Reichskanzler Heinrich Brüning zu seiner Notverordnungspolitik mit einer internen Abwertung durch Preis- und Lohnsenkungen. Die Preise fielen von 1929 bis 1933 um 23 Prozent, und die Löhne um 27 Prozent. Es entstand eine Massenarbeitslosigkeit, die Deutschland an den Rand des Bürgerkriegs trieb und Hitler an die Macht brachte. Die Lehre aus dieser Geschichte ist nicht nur, dass man Griechenland keine finanziellen Lasten auferlegen sollte wie seinerzeit Deutschland. Das hat ohnehin niemand vor. Die wirkliche Lehre ist, dass man Griechenland nicht im Goldstandard halten sollte, auch wenn er heute Euro heißt.

    Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts in München.

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