Piratenbeobachtung: Ich sehe da Inhalte. Ich weiß nur nicht, ob die Piraten sie auch sehen

Es wirkt ein bisschen wie ein Hobby, ich weiß das, und ich sollte vielleicht damit aufhören, aber ich guck mir gerne von Ferne die Piratenpartei an. Und das wirklich wohlwollend. Ein bisschen ist das noch wie im Zoo – man stellt sich vor, was sie wohl auf freier Wildbahn für Möglichkeiten hätten. Aber das tollste ist: Es passiert immer was. Selbstzerfleischung zum Beispiel, warum sollte das anders sein als bei allen anderen. Kleiderfragen. Irgendwas ist immer.

Zu den lachhaftesten Übungen in diesem Internet gehört für mich aber, wenn erstens irgendein gern schon leicht verkalkter Journalisten-Kollege von mir irgendwo behauptet, die Piratenpartei hätte keine Inhalte, und zweitens daraufhin mit Sicherheit irgendwelche übermotivierten Smartphone-Besitzer mit Twitter-Account und Loose Ties zur Landtagsfraktion der Piraten im Saarland darauf verweist, die Piraten in NRW hätten aber doch in einem Beschluss den permanenten Euro-Rettungsschirm abgelehnt. Aus meiner Sicht ist genau das kein Inhalt, weil es vollkommen irrelevant ist. Wer tatsächlich über den Euro-Rettungsschirm mitentscheiden will, der wird bei den Piraten noch für einige Zeit in der falschen Partei sein. Allerdings wollen sie, so wie ich das sehe, das komplette politische System ändern. Und wer behauptet, das wäre kein politischer Inhalt, der glaubt möglicherweise tatsächlich, im Internet gäbe es keinen Journalismus.

Allerdings verfestigt sich bei mir der Eindruck, die überragend dumme Einrichtung, dass Piraten sich oftmals erst wirklich zu einem Thema zu sprechen trauen, wenn ein Parteibeschluss vorliegt, fliegt der Partei in der Kommunikation gerade um die Ohren. Es bedeutet, dass sie die kommunikative Hoheit über ihre eigenen Inhalte verlieren – und Menschen wie mir überlassen, die dann hier mit dem Blick des interessierten Außenstehenden darüber reden können wie Bela Rethy über Fußball.

Aber weil ich immer noch auf die Formulierung dessen warte, was die Piraten tatsächlich ändern wollen (über den Popanz „Transparenz“ hinaus. Transparenz bedeutet doch in Wahrheit, Dinge öffentlich zu machen, damit irgendjemand sie überwacht und potenziell ändert. Das ist wichtig, aber keine politische Forderung einer Partei, sondern einer Bürgerinitiative, die nicht konkret werden muss), formuliere ich ins Vakuum hinein einmal, was ich mir an Forderung wünschen würde. Denn ich glaube, dass die Kommunikation, die politische Form, tatsächlich dringend einer revolutionären Erneuerung Bedarf.

In seinem ziemlich spannenden und einleuchtenden Buch Trial and Error: Warum nur Niederlagen zum Erfolg führen „>“Trial and Error – Warum nur Niederlagen zum Erfolg führen“ weist der englische Wirtschaftsjournalist Tim Harford nach, was wir alle heimlich immer schon geahnt haben: Hinterher ist man immer schlauer. Der klügste Weg ist also der, der einem die Möglichkeit gibt, an Erfahrungen zu wachsen.

Im modernen Management bedeutet das, man setzt nicht alle Ressourcen auf eine Lösung, sondern beginnt mit vielen und sortiert nach und nach die Wege aus, die nicht funktionieren. Denn in Wahrheit findet fast niemand auf fast kein Problem die Lösung allein im stillen Kämmerlein im Voraus. Was normalerweise nicht einmal verwerflich ist. Nur ein Spinner würde behaupten, er kenne die Antwort auf alles vorher. Oder jemand, der einer Ideologie anhängt. Also praktisch jeder Spitzenpolitiker. Denn wir haben es geschafft, unser politisches System in einer Art und Weise auszugestalten, bei der wir nur in einem einzigen Punkt sicher sein können: Lösungen für Probleme sind mit ihm praktisch unmöglich zu erreichen.

Denn Politiker – Ideologen – müssen per Definition im Voraus auf eine Lösung für ein bestimmtes Problem setzen. Demokratische Politik ist im Prinzip ein Wettstreit der Ideen. In der Theorie sollte dabei der jeweils beste Teil jeder Idee sich durchsetzen, oder zumindest für jede Klientel der wichtigste Teil. Der Kompromiss ist – im Gegensatz zur manchmal veröffentlichten Meinung –nicht das Abfallprodukt sondern das noble Ziel der demokratischen Auseinandersetzung. Theoretisch. In der Praxis sind Kompromisse in manchen modernen Demokratien kaum mehr möglich (Beispiel USA) oder das System ist pervertiert dahin, dass per Absprache jede an der Macht beteiligte Splittergruppierung ihren Unsinn durchbringen darf – und letztlich muss, wenn sie sich profilieren will. So enden wir damit, dass die übergroße Mehrheit des Landes sowohl die Mövenpick-Steuererleichterung für Hoteliers ablehnt als auch die Herdprämie, wir beides aber als Ergebnis von Kompromissen als Gesetze vorgesetzt bekommen. Der Irrsinn hat sich das System unterworfen.

Fehler zuzugeben, also einmal getroffene Entscheidungen als Probelauf zu verstehen und gegebenenfalls zu revidieren gehört zu den Übungen, die Politiker und ihre Wähler am schlechtesten können. Bis heute bringt es die CDU nicht fertig einfach zuzugeben, dass die Grünen in Bezug auf die Atomkraft schon immer recht hatten. Das gibt das System nicht her, das wir installiert haben, um unser Land zu regieren. Es dürfte schwer sein, eine Kindergarten zu finden, in dem sich albernere Strukturen manifestieren als rund um die höchste Macht in unserer Republik.

Man könnte argumentieren, im Ergebnis sei es ja noch immer gut gegangen. Die Bundesrepublik Deutschland ist mit diesem System seit Gründung gut gefahren. Bei allen systematischen Schwächen scheint sich der Wahnsinn dann doch immer irgendwie auszugleichen. Aber das ist kurz gedacht (wenn es denn stimmt, was zumindest ein Teil der Bevölkerung wahrscheinlich bestreiten könnte).

Denn die Zeiten haben sich geändert, sie sind „schneller“ geworden. Durch den rasant schnelleren Fluss von Informationen passieren Dinge in kürzerer Abfolge, und es ist keineswegs garantiert, dass unsere merkwürdige Art, zu Kompromissen zu kommen, darauf noch angemessen reagieren kann. Nehmen wir die Euro-Krise: Die Bundesregierung hat nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht einmal den Bundestag angemessen unterrichtet, von einer angemessenen Unterrichtung des deutschen Volkes samt einer notwendigen Willensbildung brauchen wir da nicht einmal zu träumen wagen – und trotzdem sind die Beschlusswege Europas noch zu langsam, um angemessen auf die Entwicklungen zu reagieren.

Als Beispiel: Die Krise ist längst in Deutschland angekommen. Die Produktion ist im Mai um mehr als zwei Prozent gesunken, Steffen Bogs von dem brillanten Wirtschaftsblog „Querschüsse“ hat gerade die Entdeckung öffentlich gemacht, dass die Rohstahlproduktion sogar um fast 10 Prozent zum Vorjahresmonat gesunken ist und entgegen dem globalen Trend überall in der EU sinkt (in Griechenland sinkt sie natürlich nicht, da kollabiert sie einfach). Aus Stahl, den wir diesen Monat nicht produzieren, bauen wir im nächsten Monat keine Autos und Maschinen, so dass man diese Zahlen als Ausblick verstehen darf auf die Größenordnung dessen, was da kommt. Sehr schnell kommt. Eigentlich ist es schon da. Haben wir aber den Eindruck, unsere Regierung hätte das bemerkt?

Noch immer fordert die deutsche Bundesregierung mit der (schwindenden) Unterstützung einiger weniger nordeuropäischer Staaten extreme „Strukturanpassungen“ in Südeuropa und setzt sie mit der „Troika“ aus EU, IWF und EZB auch durch. Die Maßnahmen erreichen erkennbar das Gegenteil dessen, das sie erreichen sollen. Die Schulden der Länder steigen, anstatt zu sinken – und das schlägt nun auch auf andere Länder wie Deutschland durch. In seinen eigenen Untersuchungen erkennt der IWF, dass pro Prozentpunkt Defizitreduktion in den Sparländern im Durchschnitt der Konsum um 0,75 und das BIP um 0,62 Prozent nachlässt. Einfach gesagt: Der Stahl, den Deutschland gerade weniger braucht, wäre bei besserer Konjunktur in Form eines Autos oder einer Maschine nach Südeuropa gegangen. So, wie es ist, schneiden wir nach einer Menge fremdem Fleisches längst auch in unser eigenes. Die Daten sind eindeutig. Aber es gibt offensichtlich in der Politik keine Möglichkeit, Daten, die der eigenen Ideologie widersprechen, so zu verarbeiten, dass sie zu verändertem Verhalten führen. Wenn Tim Harford in seinem Buch sagt, wir lernen nur durch Niederlagen, bedeutet das für unser System, ein Politiker ist nicht mehr lernfähig, sobald er einmal an der Macht ist (übrigens erklärt Wolfgang Münchau hier gewohnt gut, warum die Politiker nicht von selbst auf die vernünftige gesamteuropäische Lösung gekommen sind, sondern weiter in kleinen Ländereinheiten denken).

Ich weiß, seit Jahrzehnten träumt jede Organisation davon, eine lernfähige Organisation zu sein – und schafft es nicht. Aber Politik ist keine Organisation im Sinne eines Unternehmens. Politik ist ein Marktplatz, auf dem sich verschiedene Organisationen treffen. Wir wissen, dass die Lernfähigen unter ihnen erfolgreicher sind (Beispiel: Merkels Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Atomausstieg). Aber erstens definieren wir Erfolg in letzter Konsequenz immer noch als Wahlerfolg, als das Erreichen der Macht, und nicht als das durch die Macht erreichte – das wie wir ja gelernt haben nur durch Fehler, durch Lernen, durch regelmäßige Anpassung wirklich erreicht werden kann. Wir haben das ultimative Peter-Prinzip-System geschaffen: Wer hier an die Macht kommt, muss per Definition überfordert sein, weil er nicht mehr lernen darf.

Das ist das Feld, auf dem Politik sich reformieren muss, und zwar nicht nur in der Sphäre der Berufspolitiker, sondern genauso bei Berichterstattern, Ehrenamtlichen und Wählern: Im täglichen Geschäft gilt es, lernfähig zu werden und Lernkurven zuzugestehen. Die besten und erfolgreichsten unter den Staatsmännern waren es ohnehin immer, und auch von Angela Merkel sagt man ja, dass sie Entscheidungen erst trifft, wenn sie sich sicher ist, dass sie richtig sind. Aber unter den Bedingungen der der Gegenwart hat sie dazu eben nicht mehr die Zeit. Ihr Management der Euro-Krise ist so verheerend, weil selbst ihre richtigen Entscheidungen zu spät und damit meist automatisch auch zu schwach erfolgen (das zu recht kritisierte „zu spät zu wenig“). Ein neues System muss her, in dem Antworten ständig und sofort probiert, evaluiert und im Zweifel verworfen werden können, ohne dass es automatisch als Scheitern verstanden wird (das klingt natürlich gerade heute utopisch, wo mit dem Fiskalpakt ein verfassungsändernder Vertrag vereinbart wurde, der nicht nur zum Scheitern verurteilt sondern auch unumkehrbar ist, also das Gegenteil dessen, was ich hier gerade als vernünftigen Weg skizziere. Life is a bitch).

Diese Art neuer Kultur und demokratischer Verfahren, angepasst an die Geschwindigkeit der heutigen Prozesse, die Möglichkeiten der Kommunikation (es braucht hoffentlich immer weniger die eine, einfache „Bild, BamS und Glotze“-Wahrheit) und die entsprechende Offenheit des Verfahrens ruft nach einer Partei, die diese Demokratietechnik zu ihrem Inhalt macht, und so verstehe ich die Piraten von weitem, wohl wissend, dass ich die Piraten von Ferne immer noch zur Projektion von so ungefähr allem benutzen kann, weil sie selbst sich da noch nicht so festgelegt haben. Aber genau da sind wir wieder bei dem Thema: Sich festzulegen, auf welchem Weg genau die Änderungen erfolgreich zu vollziehen sind, wäre doch auch dämlich. Niemand kann es vorhersagen. Es geht darum, Wege zu finden, alle viel versprechenden Optionen auszuprobieren und auszusieben, welche funktionieren. Die Weisheit der Masse ist letztlich immer nur die Masse der unterschiedlichen Erfahrungen, und Erfahrungen muss man machen – manche sogar selbst.

Wie also würde ein lernfähiges System auf die Euro-Krise reagieren? Zum einen würde ein lernfähiges „System Politik“ ständig auf Realitäten reagieren. Bisher geht beispielsweise jedes Troika-Programm davon aus, dass man im Haushalt eines Landes sparen kann, ohne dass das BIP betroffen ist, obwohl die eigenen Untersuchungen das widerlegen. So gingen „Sparziele“ für Griechenland ursprünglich davon aus, dass im Jahr 2012 bereits ganz leichtes Wachstum einsetzen würde, während in der Realität die Wirtschaft (wie von jedem vernünftigen, nicht ideologisch völlig verblendeten Ökonomen vorhergesagt) katastrophal schrumpft. Ein wahrhaft lernfähiges System könnte das in Echtzeit begreifen und sein Verhalten entsprechend ändern. Es könnte vielleicht gleich mehrere Wege gleichzeitig probieren. Dazu gehört aber auch – Transparenz – die Erkenntnisse der eigenen Bevölkerung zu vermitteln. Auch das verlangt eine Abkehr von der der Ideologie, weil es nach der schändlich missbrauchten Logik der „schwäbischen Hausfrau“ eben nicht intuitiv verständlich ist, dass man spart und hinterher nur noch mehr Schulden hat. Und drittens gehört dazu natürlich, als eindeutig falsch erkanntes Verhalten abzustellen. Wie Atomkraftwerke. Und es dann auch zuzugeben.

Das sind Inhalte. Ich finde, sogar ganz gute. Und sie haben nichts mit File-Sharing und dem Urheberrecht zu tun und nur sehr mittelbar etwas mit dem Internet, dafür aber viel mit der Gegenwart. Die ist überhaupt so ein Thema, das sich auch für andere Parteien durchaus mal lohnen könnte.

4 Antworten auf „Piratenbeobachtung: Ich sehe da Inhalte. Ich weiß nur nicht, ob die Piraten sie auch sehen“

  1. Das sind überwiegend sehr kluge Gedanken.

    Allerdings denke ich nicht, dass die politischen Entscheidungswege zu langsam sind für die Eurokrise. Vielmehr habe ich den Eindruck, nach jeder ultimativen Rettung in letzter Minute lehnen sich alle zurück und sind wirklich davon überzeugt, dass wirklich die endgültige Problemlösung beschlossen wurde. So gehts doch seit 2007, als die Finanzkrise losging. Schon im August 2007 musste die EZB in einer bis dahin beispiellosen Aktion den Banken über Nacht 100 Milliarden Euro leihen. Danach passierte ein Jahr lang nichts mehr, vor allem keine Vorbereitung auf das, was kommen könnte, weil alle dachten, das Problem sei gelöst.
    Aber ab September 2008 gings dann weiter, und eine Notmaßnahme reihte sich an die nächste.

    Eine große positive Vision für Europa fehlt. Eine große Vision, wie die Krise beendet werden könnte, fehlt ebenso. Und genauso wird dann auch gehandelt. Ohne Ziel bleibt alles Handeln der Politik nur Stückwerk – und das sieht dann so aus, als wären die Entscheidungswege zu lang für die Probleme. Dabei sind sie es nur, weil niemand zielgerichtet handelt und sich selbstzufrieden als Euroretter tatenlos zurücklehnt, bis die Krise wieder mit voller Wucht zurückschlägt. Und dann muss man am Sonntag Abend kurz vor dem Sandmännchen in einer Telefonkonferenz ohne Parlamentsbeteiligung 100 Milliarden verschieben, obwohl man noch Freitag kurz vor Feierabend in jedes Plüschmikro den Satz absonderte „Mit unserer wegweisenden Entscheidung vergangenen Dienstag haben wir die Ansteckungsgefahr im Euroraum endgültig gebannt. Spanien hat jederzeit Zugang zum Kapitalmarkt und braucht keinen Rettungsschirm“ (ausgedachter Satz).

  2. Ich setze ähnliche Hoffnungen in die Piratenpartei. Es wäre fantastisch, wenn Politik neue Konzepte wie Regionalgeld, ticketloser ÖPNV, Grundeinkommen oder WLAN für alle ideologiefrei in wenig aufwändigen Pilotprojekten testen könnte.
    Wie wäre das eigentlich in der Praxis machbar? Könnten 1.000 Piraten auf die Insel Juist umziehen, dort den Bürgermeister stellen und dann Experimente starten?

  3. Wäre ich Pirat, fände ich den Programmpunkt Kommunikationsrevolution nicht so attraktiv. Wer die Kommunikation revolutionieren will, schafft das meistens nicht allein. – Die anderen Kommunikanten (Parteien) müssen mitspielen. Und selbst wenn es gelingt Änderungen durchzusetzen, kann der Initiator leicht unter die Räder kommen.
    Es gab da mal eine Gesellschaft, in der funktionierte die öffentliche Kommunikation über Politik und Gesellschaft nicht mehr. In den Mainstream-Medien wurden fast alle wichtigen Themen entweder ausgeblendet oder völlig unrealistisch behandelt. Dinge, die den Leuten auf den Nägeln brannten, wurden zwar diskutiert, aber nur in etwas abseitigen Foren, die nicht allen kompatibel erschienen. Die erste Diskursrunde verhielt sich meist so, als ob die andere gar nicht existiere und ließ Leute von dort nicht zu Wort kommen. Irgendwann wurde das ein paar Menschen in den alternativen Zirkeln zu albern und sie sagten, wir gründen eine neue Plattform, ein Forum, auf der alle nach neuen Regeln über die Zukunft des Landes diskutieren können. Diese Forderung hatte einen solchen Erfolg, dass Kommunikation binnen weniger Wochen total umgekrempelt wurde und das dazugehörige Gemeinwesen gleich mit. Als dann aber gewählt wurde, erreichte die Truppe die das angestoßen hatte, knapp drei Prozent. Der Verein heißt Neues Forum – es gibt ihn immer noch.
    Worauf ich hinaus will: Wenn ich mich am Diskurs beteilige, muss ich mir überlegen, ob ich Moderator sein möchte oder ein Diskutant, der die anderen überzeugen will. Beides geht nicht. Ich kann nicht Spieler und Regelausleger gleichzeitig sein. Wer in einem Diskurs versucht, seine Position als eine Art Regeln bestimmender Schiedsrichter durchzusetzen, der muss sich nicht wundern, wenn die anderen Teilnehmer bockig werden und sich das Publikum abwendet, weil es merkt, dass da einer seine Position unfair ausnutzt. Im Übrigen kommt es nicht allein darauf an, wie kommuniziert wird. Es geht schon auch ein bisschen darum, was wir besprechen.
    Das Kommunikationsproblem heute besteht in der unglaublichen Masse der Informationen. Die res publica, das politische System, besteht aus Menschen und die müssen die immer schneller und in immer größerer Zahl auf sie einprasselnden Informationen aufnehmen, reflektieren, durchdenken, sie miteinander in Zusammenhang stellen und dann ihre Schlüsse daraus ziehen – und das dauert. In der Demokratie müssen nämlich auch die gewonnen werden, die keinen Internetanschluss haben oder bei denen es eine Weile dauert, bis der Groschen fällt. Das hat damit zu tun, dass bestimmte Leute (wahrscheinlich die Mehrheit) anders denken als andere.
    Wenn ich das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft aber ernst nehme, dann kann ich von ersterer nicht verlangen, sie möge angesichts wirtschaftlicher und finanzieller Zwänge gefälligst schneller entscheiden – möglichst so schnell wie die Märkte. Wie immer auch die politische Entscheidungsfindung organisiert wird, sie wird stets ein Mindestmaß an Zeit brauchen, weil sie von Menschen gemacht wird und Menschen überzeugen muss (von Inhalten). Das kann man sich nicht Computerprogrammen abnehmen lassen oder diesem Dings – äh Internet. Wer immer verspricht, der politischen und demokratischen Entscheidungsfindung durch pure Technologie auf die Sprünge zu helfen, der braucht sich über fehlende Teilnahme an der (seiner) Kommunikation nicht zu wundern. Menschen sind nun mal keine interaktiven Computerorganismen und die Bundeskanzlerin ist nicht ihre Systemadministratorin.
    Nach meinem Demokratieverständnis kann es nicht sein, dass wer schneller denkt (oder auch Fehler einsieht), mehr Entscheidungsbefugnis haben soll, als diejenigen, die länger brauchen, selbst wenn die in der Mehrheit sind. Die Leute sind nun mal wie sie sind und werden nicht durch bloße Kommunikation (vulgo Zutexten) besser. Ich muss sie schon motivieren, und das heißt unter anderem, sie ernst nehmen.

  4. Echtzeit als Ziel für politisches Handeln ist ein netter Gedanke, nur wäre das eine Politik, die langsamer handeln würde, als Politik jemals gehandelt hat. Was bei dem Gedanken ignoriert wird, das sind so Dinge wie Latenz: wenn ein Tankerkapitän nur in Echtzeit handeln könnte, dann würde er jeden Tanker hinter die Kaimauer brettern und das geladene Öl dabei ins Hafenbecken fließen. Die Probleme, die wir beobachten, haben nichts mit mangelnder Geschwindigkeit zu tun. Wenn Frau Merkel in der Eurokrise so zögerlich reagiert, dann liegt das daran, dass die Krise sie zu Dingen zwingt und zwingen will, die sie und ihre Partei und ihre Wähler gar nicht tun möchten. Sie steht also wie jemand auf dem 10-Meter-Brett, der erst am Rand entdeckt hat, dass er nicht hinunterspringen will, wegen der anderen aber auch nicht mehr zurück kann.

    Auch das Prinzip des „Trial-and-Error“ gibt es schon seit dem Anbeginn der Bundesrepublik. Es ist im wesentlichen in unserem föderalen System angelegt. Das wäre vollkommen witzlos, wenn man nicht zu mehreren Lösungsansätzen für ein und das selbe Problem kommen könnte. Nur muss man da als Bürger in der Lage sein zu akzeptieren, dass a) mehrere verschiedene Lösungen parallel existieren und diese auch unterschiedlich bewertet werden können, und b) dass für einen persönlich erst mal nur eine davon maßgeblich ist. Das ertragen hingegen nur wenige und fordern eine einzige zentrale Lösung.

    Dann ist es nicht richtig, dass die „Zeiten schneller geworden“ sind. Das, was wir da wahrnehmen, machen (wir) Menschen, es passiert nicht einfach. Statt zu versuchen, dem hinterherzuhecheln, sollte man sich die Frage stellen, ob aus der Beschleunigung immer auch ein Nutzen gezogen wird und ob dieser die Nachteile überhaupt ausgleicht. Und wenn wir das Laufband schneller stellen können, dann können wir es auch wieder verlangsamen. Man muss sich diese Möglichkeit bewusst machen. Als getriebener wird man letztlich politikunfähig sein, denn eigentlich ist auch Echtzeit viel zu langsam.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.