Now leaking: The one and only Ich

Vor fünf Jahren, als Xing noch OpenBC hieß, und man eine Einladung brauchte, um überhaupt Mitglied werden zu können und sich entsprechend irgendwie wichtig vorkam, war es das erste Internet-Netzwerk, bei dem ich mich mit meinem echten Namen und meinen vollen Kontaktdaten angemeldet habe. Die Diskussion, die es damals unter Usern gab, war tatsächlich, ob OpenBC wirklich eine Business-Plattform ist, oder ob nicht die meisten der Nutzer sie nur dazu benutzen, sich gegenseitig abzuschleppen. Letzteres sollte die von einigen als hochtrabend empfundene Idee des Netzwerks offensichtlich abwerten. Der Gedanke, dass ein Netzwerk für beides gleichzeitig und noch viel mehr zu verwenden sein könnte, dass im Prinzip die Tatsache von Netzwerken an sich mehr Möglichkeiten eröffnet, als man sich beim Errichten überhaupt vorstellen kann, ist letztlich erst mit dem Durchmarsch von Facebook im Mainstream angekommen, und mit dieser Zentrale der eigenen Identität im Netz ein aus meiner Sicht viel wichtiger Durchbruch: Der echte Mensch mit seinem echten Namen. Für mich persönlich hat dieser Schritt eine ganz besondere Magie, die in viele Richtungen wirkt. Auch auf mich. Und das ist gut so.

Bis dahin galt medientheoretisch die Urlaubsmetapher für den Sender einer Botschaft: Wenn du von deinem letzten Urlaub erzählst, dann erzählst du teilweise völlig anders, je nachdem, wem du erzählst – ob deinen Eltern, deinen Kollegen, den Nachbarn oder einem neuen Liebhaber. Du erzählst andere Dinge, erzählst die gleichen Dinge anders, betonst und gewichtest unterschiedlich. Du eröffnest viele verschiedene Erzählstränge über die selbst, die ausgerichtet sind an dem Bild, das du bei unterschiedlichen Beobachtern hinterlassen willst. Und daran ist nichts auszusetzen, genauso machen wir es auch weiterhin, aber ergänzt durch eine Welt, in der Empfänger in der Lage sind, viel vollständigere und tiefere Eindrücke von einem Sender zu bekommen, weil sie – zum Beispiel wenn sie Freunde auf Facebook sind – plötzlich auch an Erzählungen teilnehmen können, die für sie allein nicht zugänglich gewesen wären, weil der Sender in ihrer Gegenwart in einem anderen Erzählmodus war.

Der echte, große Unterschied zu früher dabei ist: Der Sender der vielen unterschiedlichen Geschichten über seinen Urlaub kann und wird weiterhin in verschiedenen Situationen verschiedene Berichte über seine Abenteuer abliefern. Aber weil es jetzt eine Identitätszentrale gibt, auf die im Zweifel alle seine Empfänger auch gleichzeitig zugreifen können, gibt es plötzlich den Zwang, dass diese Geschichten zueinander passen müssen. Auf Facebook postest du im Zweifel für deine Mutter und deinen besten Freund gleichzeitig, was eine Gesprächssituation ist, die irgendwann vor langer Zeit einmal unangenehm war, ist funktionierende Realität, weil wir kollektiv gelernt haben, was es heißt, eine konsistentere Botschaft zu senden. So ist zum Beispiel an die Stelle der Ängste, dass durch fahrlässig gepostete, peinliche Informationen in sozialen Netzwerken reihenweise keinen Job finden, weil ihre potenziellen Personalchefs sich über deren Partyfotos aufregen, eine Realität getreten, in der Jugendliche lernen, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen ihrer „offiziellen“ und ihrer privaten Persönlichkeit nicht geben muss, besser nicht geben sollte. Und das „privat“ in unserer Welt etwas anderes ist als eine Browsereinstellung oder ein Haken in einem Online-Formular.

Was also für hunderte Millionen junge und ältere Netznutzer auf der ganzen Welt simple Realität ist, mit der sich gut und komfortabel leben lässt, ist für das State Departement der USA offensichtlich eine Überraschung. Bis heute ist in den jüngst von Wikileaks veröffentlichten Dokumenten des US-Außenministeriums nichts aufgetaucht, das man nicht haargenau so dort vermuten musste, aber trotzdem finden sich die US-Diplomaten peinlich gefangen in der Differenz zwischen ihrer offiziellen Persönlichkeit und ihrer privaten. Sie haben ihre Geschichten einem Empfänger so erzählt, dass sie ein Bild von ihnen selbst zeichnet, von dem sie nicht wollten, dass andere Empfänger es von ihnen haben. In der Urlaubsmetapher ist es, als hätten sie am Esstisch ihrer Eltern so von ihrer Urlaubsaffäre erzählt, wie sie es eigentlich ihrem besten Freund erzählen wollten – mit allen schmutzigen Details.

Jede Empörung darüber, dass etwas öffentlich wird, zu dem offenbar zweieinhalb Millionen Menschen Zugang haben, entspricht in etwa einer Empörung darüber, dass jemand mitten in Hamburg mein nicht angeschlossenes Fahrrad klaut. Natürlich ist es verboten. Aber unter den vielen Millionen potenziellen Tätern wird sich immer einer finden, für den das gerade nur die zweite Priorität ist.

Wenn Staaten, die ihren Diplomaten eine ordentliche Arbeit ermöglichen wollen – was immerhin für das Zusammenleben auf diesem Planeten unerlässlich ist –, dann werden sie nicht nur lernen müssen, die neuen Regeln dafür, was privat ist, zu lernen. Es ist zwar heute möglich, 250.000 und mehr Dokumente sehr leicht und schnell zu vervielfältigen und zu veröffentlichen, und das mag eine neue Art von Bedrohung sein, aber die Botschaft aus dem Debakel ist doch eine andere: Kann es denn sein, dass ich zwar zweieinhalb Millionen staatliche Angestellte in meinem Land eine Einstellung über die Welt mitgebe, aber erwarte, dass die Welt sie nicht bemerkt?

Ich habe in den letzten Tagen immer wieder die Beschwerde gehört, amerikanische Diplomaten fürchteten nun, dass ihre Informanten nicht mehr mit ihnen sprechen würden, weil sie Angst haben müssten, ihre Einschätzungen und ggf. Indiskretionen würden öffentlich gemacht. Die Verantwortung dafür scheinen sie bei Wikileaks zu suchen. Ich halte das für abenteuerlich. Denn Tatsache ist wohl: Es spricht auf der einen Seite niemand mit Diplomaten einer fremden Macht, wenn er damit nicht irgendein Ziel verfolgt. Und es hätte auch bisher kaum einer geredet, wenn ihn sein Gesprächspartner wahrheitsgemäß angewiesen hätte: „Reden Sie einfach ganz offen, so als ständen Sie in einer Halle mit zweieinhalb Millionen Zuhörern.“

Ich habe eine Menge Zeug über die Veröffentlichung und über Wikileaks gelesen und gehört, bis hin zu den bizarren Vergleichen von der schrägen Wahl Dirk Niebel bei Anne Will, dann könnten ja auch hunderttausende Patientenakten mit medizinischen Geheimnissen veröffentlicht werden (Herr Niebel, ich weiß, dass Sie es gern hätten, aber der Staat ist kein Privatunternehmen, sondern er gehört uns. So traurig es für die FDP sein mag, aber der Staat ist verstaatlicht und ich sehe überhaupt nicht ein, warum er so selbstverständlich Geheimnisse vor seinem Volk hat). In einem Aufsatz in der Welt kam dann der Hinweis, dass eine Gesellschaft ohne Geheimnisse totalitär ist, was in die gleiche Leere geht, weil erstens ein Staat voller Geheimnisse genau so totalitär ist und es zweitens und vor allem eben genau in die andere Richtung geht, als hier behauptet wird: Nicht die Privatsphäre des Einzelnen gilt es zu durchbrechen, sondern die willkürlich behauptete Privatsphäre des Staates vor dem Einzelnen.

So, wie es die Bewahrer der alten Ordnung gerne hätten, wird es nicht bleiben. Bisher leben wir selbstverständlich damit, dass es irgendwo „eine Wahrheit“ gibt, die wir nie erfahren (in den Dokumenten, hinter den Kulissen), eine „öffentliche Wahrheit“, nämlich das, was offen gesagt wird, das, was in der Zeitung steht – und unsere private Wahrheit, mit der wir leben und arbeiten. Es gibt also zum Beispiel einen Krieg in Afghanistan, es gibt das, was uns Politiker darüber erzählen und es gibt das, was wir über den Krieg zu wissen glauben. Und die drei Wahrheiten unterscheiden sich extrem. Ist das okay so?

Ich glaube, wir haben über Generationen damit leben gelernt. Aber es muss ja nicht so bleiben, wenn es besser werden kann. Wenn Staaten ihre innere und äußere Wahrheit einander annähern müssen, dann ist das ungewohnt, aber richtig.

Was bleibt, ist dass wir einen inkompetenten Außenminister haben und dass die Amerikaner unhöflich und tendenziell sogar arrogant sind, selbst als Diplomaten. Aber an wessen privater Sicht der Welt rüttelt den das?

35 Antworten auf „Now leaking: The one and only Ich“

  1. Genial. Ich habe bei dem Scheiß bisher immer weggeklickt (nicht hier im Blog, war ja auch noch nix). Endlich jemand der offensichtlich ein paar Tage warten kann, sich dann eine Meinung bildet und sachlich dazu Stellung bezieht.
    Wenn ich da andere Spitzenblogs sehe. Traurig.
    Die schmeiß ich raus. Einer nach dem Anderen.
    Weiter so. Hat Hand und Fuß. Dat ist wat zählt.
    In diesem Sinne…

  2. Was würden Ihre Kunden (z.B. Audi AG , Axel Springer AG, BAXMANN, b&d Verlag , BOGNER, Condé Nast, F&O München, Gruner + Jahr, Heinrich Bauer Verlag KG, Hinz&Kunzt,
    Hubert Burda Media, Kempertrautmann, La Biosthétique, Loved GmbH, Ringier AG, Serviceplan, Spox.com , Verlagsgruppe Milchstrasse) sagen, wenn ihr gesamter (elektronischer) Briefwechsel mit Ihrer Firma CHESLEY Medienproduktion (bei Wikileaks) veröffentlicht würde?
    Würden Sie dann mit dieser famosen Wikileaks-Referenz noch erfolgreich neue Kunden anwerben können?

  3. @ Christian Benduhn
    Inhalt nicht verstanden, 5, setzen!
    Hey, es ging gerade darum, dass es einen Unterschied zwischen privaten (dazu gehören auch privatwirtschaftliche) und staatlichen Informationen gibt. Und der Staat ist nichts anderes als die Menschen, die in ihm leben. Und genau vor denen hat ein Staat keine Geheimnisse zu haben. Jetzt klar?

  4. @Christian Benduhn Ich glaube, Sie sind in Wahrheit schlau genug, um den Unterschied zwischen mir, meiner Firma und einem Staat zu begreifen, oder? Ihre Frage hat mit dem Thema nichts zu tun. Allerdings sollten auch Firmen um ihrer selbst Willen dafür sorgen, dass ihre innere Wahrheit mit der äußeren übereinstimmt.

  5. @matze: Ich maße mir nicht an, Ihre Verständnisfähigkeit zu benoten. Es soll durchaus Menschen geben, die in einem Staate leben, Staatsbürger also, die nicht wollen, dass solche staatlichen Informationen von Privatpersonen wie Herrn Assange veröffentlicht werden. Laut Umfragen denkt die Mehrheit der Deutschen so. Hat Herr Assange die US-Bürger vorher gefragt, ob sie seine Enthüllungen billigen?
    @mikis: Meine Frage hat durchaus etwas mit dem Thema zu tun. Wikileaks hat bereits angekündigt, Dokumente von Banken ins Netz zu stellen. Wo bleibt denn da der Unterschied zwischen Firmen und einem Staat?
    Ihrem letzten Satz kann man nur zustimmen, doch er löst das Problem nicht. Wer kontrolliert die (selbst ernannten) Kontrolleure?

  6. @Christian Benduhn Tatsächlich wäre das Veröffentlichen von internen Daten von Banken nur zu rechtfertigen, wenn erstens ein Fehlverhalten belegt und zweitens die Daten von Kunden anonymisiert wären – also ganz klassische journalistische Kriterien. Ansonsten wäre es falsch. Allerdings hat das mit diesem Thema nichts zu tun: Denn täten sie es so, wie ich es skizziert habe, wäre das eben journalistisch und schon tausende Male geschehen. Ansonsten fordert, so weit ich das sehen kann, niemand, dass alle Daten öffentlich sein sollen. Natürlich haben Privatmenschen und -firmen ein Recht auf Privatsphäre, nur ihre schweren Verstöße dürften öffentlich gemacht werden, das entspricht dann investigativer Recherche. Etwas anderes habe ich auch von Wikileaks nie gehört oder eine Handlung gesehen, die darauf hindeutet, dass sie es glauben oder gar planen.

  7. Für investigative Recherche verantwortungsbewusster Journalisten bin ich auch, denn das gehört zu einer funktionierenden Demokratie. Aber die Veröffentlichung von 251.287 Dokumenten aus der alltäglichen Arbeit des diplomatischen Dienst der USA hat mit dem Aufdecken von Missständen wenig zu tun. Das ist ein Schuss mit der Schrotflinte, mit dem Schrot des (frustrierten?) US-Gefreiten Bradley Manning und der Flinte des (geltungssüchtigen?)Julian Assange.

  8. [quote]dass [b] die Amerikaner [/b]unhöflich und tendenziell sogar arrogant sind, selbst als Diplomaten. Aber an wessen privater Sicht der Welt rüttelt den das? [/quote]
    Das war jetzt aber ein Späßchen, oder?

  9. Es gab bei openBC/Xing nie eine „Invitation Only“ Phase. Es gab eine kurze Beta-Phase vor dem offiziellen Start, aber danach war die Anmeldung für jeden offen.

  10. @Bernstein Ist die Frage ernst gemeint? Und über welche Verhandlungen sprechen wir! Kyoto? Internationaler Strafgerichtshof? Irak?

  11. Mit einigen Einschränkungen ganz guter Artikel zu dem Thema.

    Allerdings ist mir die Schlussthese „dass die Amerikaner unhöflich und tendenziell sogar arrogant sind“ zu pauschal und einfach falsch.

    Wer sind denn „die Amerikaner“? die Einwohner der USA? die Regierungsbeamten der USA?
    und die seien alle „unhöflich“?

  12. „[…], in der Jugendliche lernen, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen ihrer “offiziellen” und ihrer privaten Persönlichkeit nicht geben muss, besser nicht geben sollte.“
    Dieser neoliberale Scheiß ätzt echt. Im „offiziellen“ Umfeld werden wir vor allem auf individueller Ebene (ich rede nicht von kumulativen demokratischen Effekten) von der finanziellen Macht der wirtschaftlichen Interessensgemeinschaften und der institutionellen Macht unserer gewählten demokratischen Vertretungen dominiert. Es ist daher von entscheidender Bedeutung für eine freie, aufgeklärte und demokratische Gesellschaft, dass der Bürger ALLES über Staat und Wirtschaft weiß, Staat und Wirtschaft aber SO WENIG WIE MÖGLICH vom Einzelbürger wissen sollte.
    Honk if you agree!

  13. @Schnubbel Wenn du meinen Text so verstehst, ist er missverständlich. Das Problem, das hier angesprochen ist, lautet: Du musst nicht zwei Persönlichkeiten haben, eine offizielle und eine private. Wer aber seine Daten bei Facebook eingibt, muss sich darüber im Klaren sein, dass es eine Firma ist, die auch jederzeit von jemandem gekauft werden könnte, von Apple, Google oder China. Es geht um Daten, die ohnehin bekannt sind und bekannt sein dürfen. Die Trennung, was der Staat wissen darf und was nicht, ist kaum zu treffen, denn du kannst auch einen Finanzbeamten, Polizisten oder Briefträger unter deinen Freunden haben. Zur Kontrolle des Staates ist wichtig, was er wie sammeln und wofür er es benutzen darf. Und das sollte, honk!, möglichst wenig sein. Selbst wenn sehr viele oder alle dieser Informationen bereits öffentlich zugänglich sind.

  14. @mikis Ich ‚muss‘ nicht zwei Persönlichkeiten haben, okay. Letzten Endes ist es ja sowieso nur meine Furcht, die eine offizielle Persönlichkeit wachsen lässt, die sich von der privaten unterscheidet. Soweit klar. Aber wenn man gleichzeitig Angst davor hat, private Daten herauszugeben und beide Seiten der Persönlichkeit zu vereinen, was bleibt einem da noch?
    Früher hat man gesagt: Na, dann geh‘ doch nach drüben (DDR). Mach‘ das mal in ’ner globalisierten Welt! 😉

  15. @Schnubbel Wenn wir „Daten herausgeben“ sagen, dann meinen wir hier online herausgeben. Und da gibt es nur einen Weg, der aber gangbar ist: Sascha Lobo zum Beispiel gibt online sehr, sehr viel preis – aber bestimmte Dinge seiner Privatsphäre eben gar nicht. Die Maßgabe ist: Wenn ich es für einen egal wie kleinen Kreis online stelle, kann es bekannt werden. Insofern sollte man (ich zitiere mich) „privat“ nicht für eine Einstellung in einem Netzwerk halten. In Netzwerken ist nichts privat.
    Etwas ganz anderes sind Daten, die ich zwangsläufig unfreiwillig hinterlasse: Verbindungsdaten, Kreditkartendaten usw. Für die muss es eine enge Kontrolle und Aufsicht geben, damit sie nicht missbraucht werden können, auch nicht von Staaten. Aber das ist hier nicht das Thema.

  16. Anm.: Ich spiele ein bisschen advocatus diaboli

    @mikis: Die Entwicklung führt also dazu, dass wir uns stärker über ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ Gedanken machen müssen und dass der Sektor ‚öffentlich‘ mit der Zeit und mit größerer Verbreitung des Virtuellen größer wird (und der Sektor ‚privat‘ wahrscheinlich kleiner). Damit komme ich ja klar. Aber würde das nicht bedeuten -um jetzt mal wieder den Bogen zurück zum Thema zu schlagen-, dass ‚privat‘ gleichzusetzen ist mit ’nicht-online‘? Andersherum müsste ich doch meine privaten Informationen Freunden/Vetrauten mittels eines „wirtschaftlich-technischen Konstrukts“ (z.B. Facebook) übermitteln. Und das allein aufgrund der Tatsache (vgl. Konsumenten-/Produzentensouveränität), dass es prinzipiell kein ‚privates‘ System gibt, das mir dies ermöglicht. Selbst wenn ich Facebook vertraute, mir einen geschützten Raum für private Kommunikation einzurichten, müsste ich doch fürchten, dass mein Vertrauen entweder aufgrund von Profitinteressen oder durch externe „Angriffe“ enttäuscht würde. Und, da schließt sich der Kreis, müsste ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ noch weiter zugunsten ‚öffentlich‘ fragmentieren. Schwupps, welcome to post-privacy. Geht’s darum? Dann können wir uns IMHO auch schon gleich mal auf die „post-identity“ (sozusagen als Gegenbewegung) einstellen.

  17. @Schnubbel: Ich glaube, jeder sollte seine eine, einzigartige, one-and-only Identität sowohl online als auch offline ausleben, aber eben nicht glauben, „privat“ online wäre so etwas wie „geheim“, was in der Diskussion ja irgendwie vorausgesetzt zu werden scheint.
    Was sich verändert hat, ist dass ich heute durch Technik mit mehr Menschen gleichzeitig sprechen kann als früher. Das bedeutet für mich, ich muss eine neue Art Senderpersönlichkeit sein, sinnvoll eine, die näher an meinem universellen Selbst ist, weil es schwieriger geworden ist, mehrere Persönlichkeiten zu jonglieren. Aber mit mehr Menschen gleichzeitig zu sprechen bedeutet immer einen Verlust an Heimlichkeit. Das ist nicht post privacy, sondern die Möglichkeit von mehr Öffentlichkeit. Wie das Lobo-Beispiel illustrieren sollte, lässt sich die Privatheit dabei behaupten, indem man sie handhabt wie immer.

  18. Einfach toll.

    Mir kräuseln sich die Fingernägel nach oben wenn ich daran denke wie diese Talkshowgäste mit ihren absurden unanonymisierten Patientenaktenvergleichen sich 1. über jeden Diener-des-Staates-Anspruch hinwegsetzten und 2. bei meiner Mama, die sich nie die Mühe macht zu lesen statt zu glotzen, punkten.

  19. Guter Text.

    Vielleicht sind die Differenzen der drei Wahrheiten und die zugehörigen Kommunkationsasymmetrien eine Art historischer Unfall (siehe Clay Shirky), der jetzt behoben wird.

  20. @Schnubbel #20

    Es fehlen definitiv die zivilgesellschaftlich getragenen Alternativen für viele kommerzielle Kommunikationsdienste. Da ist noch Luft nach oben für breitenwirksame Tools, umgesetzt von Sozialen Entrepreneuren.

    Gleichzeitig ist die prinzipielle Frage zu beantworten, ob man diese zwischenmenschliche kommunikation (weiterhin) in die Hände von Unternehmen legen will. Wenn ja, sind transparente Umsetzungen deutlich formulierter Schutzmechanismen und Wahlfreiheiten klare Voraussetzung, den sonst holen wir uns den Virus des Betrugs, gegen den ja auch wikileaks kämpft, in unsere freie digitale Kommunikation.

    Vertrauen und Vertraulichkeit sind sowohl Maßstäbe, die an Kommunikationstool-Anbieter als auch an die Kommunizierenden anzulegen ist.

    Da kommt man sehr schnell vom gesetzlich Geregelten zum moralisch Vertretbaren. Und damit zu dem, was für mich das Web im Kern darstellt – eine Herausforderung und ein Aufruf für eine neue Phase der Aufklärung.

    Wie in jeder dieser Phasen wird es Gegenkräfte geben, wird es Unwillen geben, den anspruchsvolleren Weg zu gehen. Wie in jeder Phase wird man sich an ihrem Ende freuen, wenigsten einen Bruchteil des Gewollten umgesetzt zu haben. Wie in jeder Phase müssen dafür diejenigen, die für die Aufklärung einstehen, selbstkritisch und kämpferisch bleiben. klingt nach viel Pathos, ist aber auch im Alltag umzusetzen. Stück für Stück. Zusammen.

  21. guter text, weil den spin nach hinten heraus nochmal hinbekommen.

    der einzige satz, an dem ich mich in der tat auch gerieben habe, ist der bereits angesprochene:

    „So ist zum Beispiel an die Stelle der Ängste […] eine Realität getreten, in der Jugendliche lernen, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen ihrer “offiziellen” und ihrer privaten Persönlichkeit nicht geben muss, besser nicht geben sollte.“

    und zwar das „sollte“. wer sagt das? das individuum bekommt also, um schwierigkeiten zu vermeiden, online letztlich vorgeschieben, wie es sich zu präsentieren hat. und da hier die forderung nach übereinstimmung von privater und öffentlicher person impliziert wird, eben auch: wie sein gesamtes wesen zu sein hat.

    da kam mir direkt wieder google-ceo eric schmidt in den sinn mit seiner berüchtigten aussage:

    „Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun.“

    dazu zitiere ich dich nochmal aus einem deiner kommentare hier (und dann ist gut mit den zitaten):

    „Ich glaube, jeder sollte seine eine, einzigartige, one-and-only Identität sowohl online als auch offline ausleben […]“

    und genau das geht imo eben nicht. erstmal: ich sehe private vs. öffentliche person nicht als „mehrere personen“. das kommt mir nämlich eher der unterstellung einer krankhaftigkeit nahe, die man nach möglichkeit dadurch kurieren sollte, indem man aus dieser gespaltenen person eine macht. das mag bestimmt beim ein oder anderen so ausgeprägt sein, aber im regelfall gilt doch wohl, dass privat und öffentlich einfach unterschiedliche facetten einer person sind, die man folglich gar nicht zusammenzuführen braucht.

    es gibt sicherlich viele normalo-durchschittsbürger, die im grunde genommen so ein langweiliges leben führen, dass es eh keinen großartig interessiert. genauso gibt es menschen, die ein eher ungewöhnliches leben führen und damit interesse und neugier anderer auf sich ziehen, sobald diese davon mitbekommen.
    während die erste gruppe online wahrscheinlich relativ „safe“ ist, wird die zweite gefahr laufen, aufgrund ihres auffälligen, andersartigen lifestyles in der öffentlichkeit des netzes, der man sich ja dort nunmehr schwer entziehen kann, auch gewisse probleme zu bekommen.

    was bei der forderung, dass man privates und öffentliches leben generell und im netz möglichst kongruent halten sollte aber dann leider bedingt wird, ist, dass die leute dafür eben möglichst „normal“ sein sollen. und ich denke, dass genau das sich leider vollzieht: wir werden durch den öffentlichkeitsdruck des netzes zu einer homogenen, langweiligen masse, die individualität geht verloren.

    für die eigene persönlichkeit ist die konsequenz, sich entweder auf linie trimmen zu lassen, oder wieder in zunehmendem maße offline zu gehen, um so zu leben, wie man wirklich will.

    denn man *kann* in einer vernetzten online-welt gar nicht privat leben. wird es nie mehr können. es ist ausgeschlossen.

  22. Danke für Deinen großartigen Text!
    Ich stimme aber nur zum Teil zu.

    Zum einen stimmt meiner Meinung nach die Grundannahme nicht, Facebook (und Social media generell) hätten dazu geführt, dass die Menschen konsistenter in ihrer Fremddarstellung werden. Sie werden nur restriktiver und bewußter. Wenn ich weiß, dass mein bester Freund und meine Schwiegermutter meine FB Freunde sind, dann poste ich eben nur noch den kleinsten gemeinsamen Nenner oder Belangloses. Wikileaks ist das Equivalent zu einem meiner Facebookfreunde, der plötzlich einen Mitschnitt meiner Facebook-Stati für alle (nicht nur meine Kontakte) zugänglich macht ohne dass ich das wollte, nicht das Equivalent von Facebook selbst.

    Den zweiten Wiederspruch sehe ich dann in einer Annahme des Artikels, eine Demokratie müsse ihre Privatheit gegenüber dem Einzelnen aufgeben. Das beinhaltet für mich zwei Aspekte:

    Um bei der Urlaubsmetapher zu bleiben könnte man hier die Forderung sehen, der Staat müsse in seinen Informationen verschiedenen Stakeholdern gegenüber konsistent sein. Gekauft. Diese Forderung läuft letztlich darauf hinaus, dem Staat ein Wahrheitsgebot aufzuerlegen und Sorgfaltspflicht hochzuhalten. Allerdings ist der zweite Aspekt, nämlich Information generell zugreifbar zu machen problematisch.

    Denn ein Staat hat auch die Aufgabe, seine Bürger zu schützen und seinen eigenen Fortbestand und den Wohlstand seiner Mitglieder zu sichern. Diese Aufgabe jedoch steht manchmal im Widerspruch zu dem gezeichneten Demokratieverständinis in dem frei informierte und kompetent entscheidende Staatsbürger gemeinsame Ziele verfolgen. Es wäre schön, wenn Menschen so wären, aber so sind sie nun mal nicht.

    Manche Geheimnisse schützen und retten Menschen. Manche Informationen sind wichtig für den Betrieb und nicht so sehr für das Endergebnis und manche Informationen sollten an die richtigen Menschen verteilt werden und nicht an jeden greifbaren. Wer zieht da nach welchen Kriterien Grenzen? Wer definiert diese?

  23. @Dirk: Danke für deine Anmerkungen. Ich glaube, der Staat darf im Prinzip keine Geheimnisse vor seinem Souverän haben, also nur Ausnahmsweise, und diese Ausnahmen müssen von vornherein erklärt und begründet werden – der Bürger muss wissen, was er nicht wissen darf und warum. Geheime Zusatzverträge mit Energieversorgern zum Beispiel darf es gar nicht geben. Militärische Geheimnisse hingegen natürlich schon. Aber wir müssen wissen, welche das sind und wir müssen widersprechen dürfen. Einen Automatismus, dass ein Staat alles, was er will, zum Geheimnis erklären und einer Kontrolle entziehen darf, kann es aus meiner Sicht nicht geben.
    Ich glaube auch nicht, dass ein Bürger durch die Möglichkeiten der digitalen Medien zu einer neuen Art der Kommunikation gedrängt werden sollte oder kann. Ich kann nur an mir beobachten, dass es passiert ist, und glaube, das als Phänomen auch bei anderen entdecken zu können. Und ich begrüße es. Für fundamental falsch halte ich nur, wie gesagt, dass wir uns damit eingerichtet haben, dass es eine offizielle Wahrheit – die „Sprachregelung“ – gibt, und es als Medienkompetenz verstanden wird, wenn wir sie dechiffrieren können. Denn diese falsche Wahrheit wäre nicht mehr nötig. Es ist lange an der Zeit, dass wir zum Beispiel Politikern mehr zugestehen als Phrasen, aber auch mehr verlangen und bekommen als Phrasen. Dass unser Mediensystem sich immer noch hergibt, als Phrasenverteilmaschine zu fungieren und seine nobelste Aufgabe darin sieht, sie zu entschlüsseln, anstatt sie einfach durch innere Veränderung abzuschaffen, ist eine selbstgemachte Tragödie.
    Ich widerspreche der Beobachtung, universellere Kommunikation würde den kleinsten Nenner bedienen. Ich glaube, wir kommunizieren heute tatsächlich mit viel mehr Menschen viel ähnlicher, selbst mit unseren Schwiegermüttern. Warum wir das aber können sollen, während es in der Politik nicht gehen soll, ist nirgendwo vernünftig dargelegt. Ich glaube, es ginge sehr viel besser als heute. Und deshalb erwarte ich es auch.

  24. @Schnubbel #20 Es fehlen definitiv die zivilgesellschaftlich getragenen Alternativen für viele kommerzielle Kommunikationsdienste. Da ist noch Luft nach oben für breitenwirksame Tools, umgesetzt von Sozialen Entrepreneuren. Gleichzeitig ist die prinzipielle Frage zu beantworten, ob man diese zwischenmenschliche kommunikation (weiterhin) in die Hände von Unternehmen legen will. Wenn ja, sind transparente Umsetzungen deutlich formulierter Schutzmechanismen und Wahlfreiheiten klare Voraussetzung, den sonst holen wir uns den Virus des Betrugs, gegen den ja auch wikileaks kämpft, in unsere freie digitale Kommunikation. Vertrauen und Vertraulichkeit sind sowohl Maßstäbe, die an Kommunikationstool-Anbieter als auch an die Kommunizierenden anzulegen ist. Da kommt man sehr schnell vom gesetzlich Geregelten zum moralisch Vertretbaren. Und damit zu dem, was für mich das Web im Kern darstellt – eine Herausforderung und ein Aufruf für eine neue Phase der Aufklärung. Wie in jeder dieser Phasen wird es Gegenkräfte geben, wird es Unwillen geben, den anspruchsvolleren Weg zu gehen. Wie in jeder Phase wird man sich an ihrem Ende freuen, wenigsten einen Bruchteil des Gewollten umgesetzt zu haben. Wie in jeder Phase müssen dafür diejenigen, die für die Aufklärung einstehen, selbstkritisch und kämpferisch bleiben. klingt nach viel Pathos, ist aber auch im Alltag umzusetzen. Stück für Stück. Zusammen.

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