Wenn das Gehirn nicht reicht – die FAS und die Bildung

Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen, ist ein großer Kampagnen-Journalist, und im Moment ist sein großes Thema, dass sein Gehirn für die moderne Zeit nicht ausreicht, also, niemandes Gehirn, und schuld daran ist das Internet. Vielleicht liegt es daran, dass in seiner Sonntagszeitung heute eine Geschichte zur Hamburger Bildungsreform steht, die in ihrer Schlichtheit wahrscheinlich in keinem Blog der Welt hätte stehen können – Papier ist manchmal offensichtlich zu geduldig. Meine beiden Kinder sind von dieser Reform direkt betroffen, deshalb verfolge ich das Gezerre sehr interessiert, und der Text heute in der FAS ist so unfassbar voreingenommen, dass man sagen muss, er ist von Qualitätsjournalismus tatsächlich weiter entfernt als selbst die Pamphlete der Initiative gegen die Reform. Wäre die FAS ein Fußballspiel würde ich auf der Tribüne „Hoyzer, Hoyzer“ schreien.

Leider kann ich hier nur den kostenpflichtigen Archiveintrag verlinken, so ist das bei der FAZ und FAS, aber ich fasse mal kurz zusammen: In Hamburg hat eine Initiative offenbar mehr als 180.000 Unterschriften gegen zwei Kernpunkte der umstrittenen Schulreform des Schwarz-Grünen Senats gesammelt, nämlich gegen die Einführung einer Sechsjährigen „Primarschule“ und gegen den Wegfall des Elternwahlrechts bei der Schulform der weiterführenden Schule (zwar entscheidet auch heute schon nach der sechsten Klasse ausschließlich die Lehrerkonferenz, aber die Eltern erhalten nach der vierten Klasse eine Empfehlung, die sie ignorieren können).

Die Autorin Heike Schmoll beginnt ihren Artikel mit einem stimmungsvollen szenischen Einstieg bei dem tapfere Unterschriftensammler („Mütter“) bei fürchterlichem Hamburger Wetter (für die Autorin hat es drei Wochen lang durchgehend in Hamburg geregnet, was mir als Hamburger Fahrradfahrer entgangen sein muss) viel Zuspruch für ihre Aktion ernten. Nicht erwähnt wird in der FAS, dass Studenten als Sammler für jede Unterschrift einen Euro Prämie erhalten haben und deshalb wie Drückerkolonnen mit dem Spruch „Unterschreiben Sie hier für bessere Bildung!“ durch die Einkaufszentren der Stadt gelaufen sind, aber okay: Es gab sicher diese Mütter, die hier nun erzählen, wie begeistert sie sind von „der bürgerlichen Courage, mit der sie weite Teile der Stadt inspiriert haben.“

Das ist, wie gesagt, ein Zitat einer Sammlerin. Es lässt sich schwer belegen, denn zumindest von den organisierten Bürgern scheinen diese Courage nicht alle zu fühlen: Unterstützt wird das Begehren der Initiative „Wir wollen lernen“ von gerade mal zwei Parteien – der FDP und der NPD, was vielleicht daran liegt, dass die erklärten Profiteure der Reform die Kinder der ärmeren Schichten – sprich: viele Ausländerkinder – sein sollen (man kann darüber streiten, ob sie es sein würden, aber erklärt ist es so). Beide Parteien sind nicht im Parlament, der Hamburgischen Bürgerschaft, vertreten und freuen sich vor allem, mal in der Zeitung zu stehen. Wenn nun also diese inspirierte bürgerliche Courage nicht belegbar ist, dann wird man das Zitat in einem Qualitätsmedium wie der FAS wohl wenigstens einbetten, mit Indizien unterfüttern oder, wenn es wirklich nichts ist als die Aussage einer offensichtlich Parteiischen, eine Gegenbeobachtung einholen? Nicht Heike Schmoll.

Sie wird, im Gegenteil, richtig dreist: Von nun an werden sogar wissenschaftliche Aussagen nicht mehr belegt. Ich zitiere mal: „Eine auf sechs Jahre reduzierte Gymnasialbildung wird die Schüler jedenfalls kaum studierfähiger machen“. Sagt wer? Sie werden es nicht glauben: Heike Schmoll. Das ist im Text kein Zitat. Es ist ihr Lauftext. Angeblich widersprächen ALLE Gesamtschulstudien dem, was der Hamburger Senat als Voraussetzung der Reform als gegeben sieht (dass längeres gemeinsames Lernen die Integration von ausländischen Kindern fördert). Quelle? Keine. Dafür werden zitiert: ein namenloser aber „namhafter Bildungsforscher“ und „ein Vater“. Natürlich gegen die Reform. Ich habe schon genauere Quellenangaben für Zitate in InTouch gelesen.

Damit das klar ist: Das ist nicht meine Reform. Ich glaube prinzipiell an längeres gemeinsames Lernen, aber nur, wenn es gut gestaltet ist, und ich bin besonders von der chaotisch wirkenden Umsetzung und der grandios schlechten kommunikativen Vermittlung der Reform sehr enttäuscht. Aber ich bin auch im Elternrat einer Grundschule. Meine letzte Zahl ist, dass sich von 400 Hamburger Elternräten 20 gegen die Reform ausgesprochen haben, 380 – teilweise sicher mit Bedenken – grundsätzlich dafür. Aber Heike Schmoll setzt die 180.000 Unterzeichner (nebenbei bevor ausgezählt ist, wie viele Unterschriften gültig sind) mit „Eltern“ gleich, obwohl die Initiativen überall Unterschriften gesammelt haben – aber nicht an der Grundschule in Sankt Pauli, auf die meine Tochter geht. Natürlich haben viele unterschrieben, die gar keine Kinder haben – und viele derjenigen, um deren Kinder es vor allem geht, wurden nie gefragt. Das finde ich okay. Dies ist eine Demokratie, in der man seine eigenen Interessen auch robust vertreten darf. Aber Journalismus wäre, das auch aufzuschreiben – ohne einzig seine eigenen Überzeugungen zu verbreiten und alles zu verschweigen, was ihnen widersprechen könnte. Ich weiß nicht alles über diese Schulreform. Aber ich weiß, dass der Text von Heike Schmoll und der Eindruck, den sie erweckt, in weiten Teilen einfach nur falsch sind. Selbst in einem deutlich gekennzeichneten Kommentar entspräche dieses Werk nicht den einfachsten journalistischen Ansprüchen, und da muss man sich dann auch fragen, wie er ins Blatt gelangen konnte. Ein „namhafter Bildungsforscher“ ohne Namen? Eine Mutter sagt, ein Vater sagt? Das reicht für die FAS? Bizarr.

Ich bin, wie gesagt, in meiner Haltung unentschlossen. Ich versuche, die Lehrer der Schule meiner älteren Tochter (die Kleinere ist noch nicht in der Schule) zu unterstützen, das Beste draus zu machen. Ich habe heute morgen gedacht, ein FAS-Artikel zum Thema würde die Probleme gelassen und aufschlussreich beleuchten. Jetzt bin ich regelrecht schockiert. Eine derart einseitige, tendenziöse Berichterstattung habe ich zu diesem Thema nirgendwo erlebt, absolut nirgendwo. Und ich kann nicht glauben, dass das ein Zufall sein kann. Derartig schamlos Fakten einfach zu ignorieren, und zwar alle so, dass die Geschichte in eine bestimmte Richtung zeigt, ist ekelhaft. Und ganz besonders schlimm finde ich ein kleines Detail recht am Anfang: Als die tapferen Mütter im Hamburger Schietwetter den Elementen trotzen, um couragiert für ihre gute Sache zu kämpfen, da bietet ihnen eine Frau, die offenbar einen Marktstand hat, Probierhäppchen an. Sie findet die Initiative gut: „Ich will entscheiden für meine Kinder.“ Die Marktfrau wird nicht als Marktfrau identifiziert, was das mit den Probierhäppchen erst einmal komisch macht. Denn Heike Schmoll schreibt „eine Türkin bietet ihnen Probierhäppchen an“. Was es für eine Rolle spielt, dass die Frau Türkin ist? Weiß ich doch nicht. Keine. Aber hingeschrieben wurde es offensichtlich, um vorsorglich dem Rassismusvorwurf entgegenzutreten (den Reformgegnern wird gerne vorgeworfen, sie wollten ihre Kinder nur von den Schmuddelkindern separiert sehen) und zu zeigen, dass selbst die Türken gegen die Reform sind. Das ist so eklig, mich schüttelt es.

Im Gegensatz zu Herrn Schirrmachers kommt mein Gehirn ganz gut mit dem Internet zurecht. Beim Papier bin ich mir gerade nicht ganz sicher. Frau Schmoll nennt in der FAS die Schulreform eine „systematische Bildungsverflachung“ (wie gesagt nicht in einem Kommentar, sondern in ihrem Artikel). Sie hat offensichtlich ihre eigene Agenda. Was sie hier tut ist weniger Journalismus als Propaganda. Es mag ja sein, dass im Verhältnis zu ihrer Expertise alle Hamburger Politiker, Lehrer und Eltern, die die Reform unterstützen, Idioten sind. Aber sie haben sich auch ihre Gedanken gemacht. Ich zum Beispiel. Frau Schmoll kann mich gerne zum Idioten erklären, wenn sie das will, da bin ich weder sensibel noch nachtragend. Aber in einer Sache schon: Journalismus ist das nicht, und in die FAS gehört es so auch nicht.

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7 Antworten auf „Wenn das Gehirn nicht reicht – die FAS und die Bildung“

  1. Das mit dem Unterschreiben für bessere Bildung kann ich so im Wortlaut bestätigen. Erläutert wurde das Anliegen auch auf Nachfrage nicht näher.
    Auch wenn’s nicht zum eigentlichen Thema gehört, quasi als freie Assoziation: Mit ihrem permanenten Trommelfeuer in der Sache Brender haben mit die faz.net-Leute bald sogar so weit, dass mir Roland Koch sympathisch wird.

  2. Als ich zur Unterschrift gedrängt werden sollte, tat ich meine Bedenken kund. Und erhoffte mir, nun Argumente für eine Signatur geliefert zu bekommen. Aber außer „Wir brauchen bessere Bildung für alle, überlegen Sie es sich“ konnte die Dame mit der Liste mir nichts erzählen.

    Davon abgesehen, dass ich die sechsstufige Primarschule befürworte, finde ich es grundsätzlich gut, dass es organisierte Volks-Kritik gibt. Dass zB studenten für eine Unterschrift einen Euro kassiert haben, lässt mich sprachlos zurück. Die FDP scheint ja viel Kohle in die Aktion reingebuttert zu haben. Vielleicht steht auch Frau Schmoll auf deren Überweisungsliste?

    Fragen über Fragen!

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