Werther und Medien

Ein paar von euch werden jetzt denken, was ich denke: Das stand hier schon tausendmal. Aber offensichtlich muss man manche Sachen sehr oft sagen. Es stimmt ja, dass Schreiber, Medien im Allgemeinen, bei ihren Lesern meist zu viel Vorwissen voraussetzen und ihnen im Gegenzug zu wenig Urteilsfähigkeit zusprechen. Also, noch einmal: Ich glaube, wir sollten die Depressiven in die Mitte der Gesellschaft holen, und deshalb habe ich vorgeschlagen, die Rückennummer 1 bei der Nationalmannschaft bis nach der WM nicht zu vergeben. Das hat, in acht Monaten, mit dem Gedenken an Robert Enke höchstens noch am Rande zu tun. Es geht um ein Symbol. Ich glaube, dass es Depressiven helfen kann, sich Hilfe zu suchen.

Aber es war klar, dass eine große Diskussion daraus wird, und das ist ja auch gut so. Was ich nicht erwartet hätte, ist der meiner Meinung nach falsche Einwand, den Stefan Niggemeier in seinem Beitrag erhoben hat: Nach Berichten über prominente Selbstmorde steigt erwiesenermaßen die Selbstmordrate, und er plädiert deshalb dafür, die Berichte über Selbstmorde zumindest stark zurück zu fahren. Ich zitiere: „Bei kaum einem Medium (die „FAZ” vielleicht ausgenommen, bei der ich allerdings natürlich befangen bin) habe ich in den vergangenen Tagen so etwas wie Zurückhaltung aus Sorge um den „Werther-Effekt” feststellen können. Schon am Dienstagabend enthielten die Meldungen der Nachrichtenagentur dpa jedes verdammte Detail über den Ort und den Ablauf des Geschehens.“

Und das stimmt mit Sicherheit. Ich glaube nur nicht, dass es statthaft ist, sich darüber aufzuregen. Ich bin von der Pietätlosigkeit vieler Medien angeekelt, aber Details dieser speziellen, uns alle maßlos bewegenden Geschichte nur aus Angst vor Nachahmern zu unterdrücken, halte ich für persönlich für falsch und lebensfern. Ich habe erlebt, dass sehr viele Menschen echt und tatsächlich um den ihnen nur mittelbar bekannten Robert Enke trauern, und ich glaube, bei der Verarbeitung von Trauer hilft es, das Geschehene auch anhand von Hergängen und Fakten nachzuvollziehen. Für diesen Fall, der keinem einzigen Nachahmer vorzuenthalten gewesen wäre, gilt Niggemeiers Vorwurf meiner Meinung nach nicht. Dazu hätte man die Tatsache verschweigen müssen, wie er ums Leben kam. Und das wäre kein Journalismus mehr gewesen.

Aber natürlich gibt es andere Fälle, in denen sich Menschen umbringen. Allerdings wird über die im Regelfall nicht berichtet, auch deshalb, weil sehr viele Medien Niggemeiers Bedenken teilen. Ich weiß das aus meiner Zeit als Lokalreporter, insbesondere in der Polizeiredaktion des Hamburger Abendblatts. Ich gehe davon aus, für die Neue Osnabrücker Zeitung gilt das genau so. Aus guten Gründen.

Stefan Niggemeier schreibt als Schlussfolgerung eines Textes: „Mag sein, dass es unrealistisch ist, davon auszugehen, dass die Medien anders über einen Fall wie den des Robert Enke berichten könnten. Dann seien wir aber auch ehrlich genug zu sagen, was der Preis für diese vermeintliche Informationspflicht und diesen Verkaufswettkampf ist. Er lässt sich in Menschenleben zählen.“ Und das ist aus meiner Sicht geradezu obskur. Ich bin kein Medienjournalist, sondern beschäftige mich nur aus Interesse an meinem Beruf hier mit diesem Thema, aber selbst für Medienjournalisten muss klar sein: Wir sind hier, um Informationen zu finden und zu veröffentlichen. Wir sind eigentlich nicht dazu da, zu bestimmen, welche Informationen die Öffentlichkeit sehen darf und welche nicht. Wenn wir, wie im Fall der allermeisten Selbstmorde in diesem Land, aus guten Gründen beschließen, nicht darüber zu berichten, dann ist das gut gemeint (ich bin dafür, habe es auch getan und würde es wieder tun), aber es bedeutet, wir maßen uns an, die Bevölkerung vor Informationen zu schützen, die sie „nicht verkraften kann“. Das mag nach Weber Verantwortungsethik sein, aber es ist auch arrogant und gefährlich. Ich bin angetreten, damit Informationen in die Öffentlichkeit gelangen. Das ist mein Job. Ich traue der Öffentlichkeit zu, dass sie damit umgehen kann. Wenn ich im besonderen Fall der Suizide diesen meinen Berufs-Ethos aus (wie ich finde) guten Gründen verletze, dann muss ich das auch so sagen.

Denn im Kern ist die Welt anders, als die Medienjournalisten sie sich offenbar vorstellen: Die Menschen haben Urteilskraft. Sie können die Wahrheit vertragen. Es wird in diesem „Fall Enke“ mit einiger Wahrscheinlichkeit Menschen geben, die an der gleichen Krankheit leiden wie er und die sich durch seinen Tod in ihrer Mutlosigkeit bestätigt sehen und sich ebenfalls umbringen. Das ist eine Tragödie, und gerade auch wegen meiner persönlichen Krankengeschichte fühle ich mit ihnen.  Aber sie sind nicht durch schlechte Medien krank geworden. Und sie werden auch nicht durch bessere Medien gesund. Was ihnen ein winziges bisschen helfen könnte ist allerdings ein vernünftiger, neuer, nüchterner Umgang mit ihrer Krankheit.

Unsere Verantwortung ist am Ende die für die Wahrhaftigkeit. Dazu gehört es meiner Meinung nach zum Beispiel, auch die vier Millionen Depressiven in Deutschland wahrzunehmen und ihnen zu zeigen, dass sie dazu gehören. Aber dazu gehört auch, über den grausamen Selbstmord von Robert Enke zu berichten.

Ich träume nicht von einer perfekten Medienwelt, in der die Zeitungen und Fernsehsender nicht über Selbstmorde berichten. Ich träume von einer Welt, in der jeder ehrlich sagen kann, wie es ihm geht, ohne dafür Repressionen fürchten zu müssen. Ich glaube, das verhindert auf mittlere Sicht vielleicht ein paar schlimme Depressionsverläufe und Selbstmorde, weil früher geholfen werden kann. Die Reaktion unserer Gesellschaft auf den Tod Robert Enkes hat unser Land meiner Meinung nach einen kleinen Schritt in diese Richtung bewegt. Und auch wenn sich dabei unendlich viele Medien wieder nur als die ekelhaften Aasgeier entpuppt haben, die sie sind, hat die Tatsache, dass die Informationen bei den Menschen waren, dabei geholfen.

21 Antworten auf „Werther und Medien“

  1. In seinem Beitrag wendet sich Niggemeier gegen die „grotesk verantwortungslose Berichterstattung der vergangenen Tage“. Dabei verweist er auf den „Wiener Weg“, nach welchem „über Selbstmorde nicht emotional, auf keinen Fall mit Foto, nicht auf der Titelseite und möglichst kurz“ berichtet werden sollte. Mit diesen Basisangaben kommt man einerseits der Informationspflicht und andererseits – ohne voyeuristisch zu sein – dem Informationsinteresse nach. Natürlich erkrankt auch niemand durch die Medien an Depressionen. Für die Betroffenen, die apathisch schon morgens das Ende des Tages herbeisehnen, die sich permanent die Sinnfrage stellen, die meinen, ihre persönliche Situation sei ausweglos und würde sich nicht ändern, könnte der Freitod plötzlich eine Option sein, die erst durch die Berichte zu einer solchen wurde und in deren Bewusstsein rückte. Insoweit ist Niggemeier in seiner Kritik zuzustimmen.

  2. @Jürgen Vielen Dank für den klaren Kommentar. Ich bin trotzdem der Ansicht, dass die Medien mit den Basisangaben, ohne Fotos, nicht auf der Titelseite und möglichst kurz dem Informationsinteresse in diesem Fall nicht nachgekommen wären. Mein Interesse als Leser an dem Fall war größer. Und natürlich sind Medien nicht dazu da, meine persönlichen, niederen, voyeuristischen Bedürfnisse zu stillen. Aber sie müssen meiner Meinung ein Abbild der Gesellschaft bleiben und nicht ihr Lehrmeister sein wollen (wobei unbenommen bleibt, dass viele Medien grotesk pietätlos waren im Kampf um die Leser).

  3. @mikis Natürlich ist das Informationsinteresse in diesem Fall weitergehender. Aber muss dieses Interesse in dieser Art und Weise, die nach meinem Empfinden weit über die Informationspflicht hinausging, bedient werden? Hätte nicht es nicht ausgereicht, einfach nur sachlich über den Freitod zu berichten? Welchen Erkenntnisgewinn bringen Bilder von der – aus Sicht des Lokführers – Unfallstelle und vom Familiengrab? Ist es wirklich von Bedeutung, dass das Auto nicht verschlossen war und die Geldbörse auf dem Beifahrersitz lag? Die Reihe dieser Fragen ließe sich noch weiter fortsetzen.
    Für die jetzt angstoßene Debatte über psychische Erkrankungen und den Umgang mit den Betroffenen, sind sie jedenfalls irrelevant. Die Debatte hätte es auch bei einer weniger sensationslüsternen Berichterstattung geben können.

  4. @Jürgen Ich gebe dir in einer Sache ja, wie gesagt, absolut Recht: Die Art und Weise war in ganz vielen Fällen eklig, überflüssig und voyeuristisch. Pietätlos eben.
    Aber ich glaube gerade nicht, dass es diese Details sind, die Nachahmungstäter erzeugen, und nur darum geht es ja hier. Potenzielle Nachahmungstäter sehen möglicherweise in der Tatsache, dass nicht einmal Robert Enke einen Ausweg findet einen Anlass, es ihm nachzutun. Und sie finden Trost in dem späten, posthumen Verständnis und der Verehrung, die Enke entgegen gebracht wird. Aber dieser Teil war nicht zu verhindern (und wird von dir wahrscheinlich auch nicht kritisiert, nehme ich an). Aber um diesen Teil geht es, wenn man Niggemeier folgt. Ich habe hier ausführlich beschrieben, wie sehr mich die Art und Weise vieler Berichterstattung anekelt und wie falsch ich sie finde. Aber die Tatsache, dass es Berichterstattung gab und auch ihren Umfang fand ich dem Interesse der Öffentlichkeit, in deren Dienst die Presse zu stehen hat, angemessen. In dieser Diskussion jetzt geht es um Verantwortung: Dürfen Medien über etwas in sensationeller Art und Weise berichten, obwohl es Nachahmungstäter geben könnte. Und die Antwort ist meiner Meinung nach eindeutig ja. Wie gesagt: Nicht pietätlos, das gehört sich nie. Aber sensationell, also mit Bildern, auf dem Titel und ausführlich. Darum geht es hier, und das musste hier so sein. Wir sind als Journalisten nicht angetreten, Dinge zu verschweigen. Das gehört sich fast nie (wie gesagt, es gibt extrem sinnvolle Ausnahmen. Zu meiner Zeit als Polizeireporter haben wir uns verständigt, nie zu schreiben, wie viel Geld bei Tankstellen- und Taxi-Überfällen geraubt wurde. Und eben nicht über Selbstmorde und Bombendrohungen, wenn sie nicht so viel Aufsehen verursacht hatten, dass ein Verschweigen sinnentstellend gewesen wäre. Aber das verstößt trotzdem gegen das Prinzip). Im Prinzip gehören gesellschaftlich relevante Informationen der Öffentlichkeit und deshalb auch in die Öffentlichkeit. Auch wenn es weh tut.

  5. @miki Es geht um die Präsenz des Themas in den Medien und die detaillierte Beschreibung des Geschehenen (Ort/Zeit/vermeintliche Ursachen/Ablauf).
    Ein schwer depressiv Erkrankter denkt weder über die Konsequenzen seines Handelns bei Dritten nach, noch geht es ihm um posthumes Verständnis oder gar Ruhm. Er befindet sich in einer Situation, die ich mal mit lebendig tot umschreibe, die Seele in einer körperlichen Hülle gefangen ist und die Freuden des Lebens ihm verschlossen bleiben. Eine positive Veränderung vermag er zudem nicht zu erkennen. Was er hingegen wahrnimmt, ist eine gefühlte Verstetigung der Abwärtsspirale, von der er glaubt, sich ihr nicht mehr entziehen zu können. Trotz allem ist der Gedanke an den eigenen Freitod fern. Erst die Berichterstattung über den Suizid eines Anderen, rückt die Alternative Freitod in sein Bewusstsein. Sich selbst zu entleiben, den gefühlten in einen realen Tod, der zu diesem Zeitpunkt schon seinen Schrecken verloren haben kann, er gleichsam das Licht am Ende des sonst dunklen Tunnels ist, umzuwandeln, kann dann, inspiriert durch die mediale Darstellung, ein kleiner Schritt sein.
    Daher, um eben potentiellen Nachahmern nicht gleichsam Stichwortgeber zu sein, verbietet sich eine auf Sensationsgier basierende Berichterstattung. Dies schließt einen verantwortungsvollen Umgang mit diesem Thema in den Medien überhaupt nicht aus.

  6. @mikis

    Das sehe ich (und ich denke auch die von Niggemeier angeführten Studien) anders.
    Die Verehrung Robert Enkes ist kein Trost für Suizidgefährdete. Viel mehr stellt soetwas doch eine Motivation dar, „den großen Abgang“ zu machen. Enke hat Selbstmord begangen, wenn so ein bekannter Sportler seine Probleme so lösen darf, warum dann nicht ich auch? Wenn er nach seinem Selbstmord als Held gefeiert wird, vielleicht werde auch ich dann ein tragischer Held sein?
    Meiner Meinung nach sind es diese beiden Dinge, die im Vordergrund stehen. Gewissheit kann dabei aber wohl nur ein erfahrener Psychologe haben. Der Werther-Effekt spricht jedoch für meine Aussage.

    Zum Artikel:
    Zumindest ich habe nichts von einer Selbstzensur (denn darauf läuft es Ihrer Ansicht ja hinaus, oder?) der Medien in Niggemeiers Artikel gelesen. Niggemeier sagt doch gar nicht, dass es keine Berichterstattung geben darf. Nur eben eine auf sachlicher Basis.
    Wer sagt, dass die Öffentlichkeit jedes kleine Detail erfahren muss, unterstützt Bildzeitungsjournalismus ohne jegliche moralische Grenze.
    Warum so eine Glorifizierung von Enke notwendig ist, verstehe ich auch nicht.
    Egal was er vorher für ein Mensch war, ich kann nichts heldenhaftes daran finden Frau und Kind allein zu lassen, und Lokführer sowie die, die ihn von den Schienen kratzen mussten, in ein Trauma zu stoßen. Man kannn einfach nicht alles mit Depressionen entschuldigen..

  7. Vielen dank für die großartigen Kommentare hier und ich entschuldige mich, dass ich nur ganz kurz weil vom Handy antworte: mich berührt Jürgens Definition der schweren Depression sehr, aber auch depressive machen sich noch Gedanken über die folgen ihres Handelns. Wir hatten den Fall in der familie, dass eine Cousine von mir sich das leben genommen hat und dabei ihre beiden Kinder faktisch zu Waisen gemacht hat. Sie hat sich vorher schon entschuldigt. Sie wusste, was sie Tür, sie konnte nur nicht anders. Und die Möglichkeit des Suizids ist nicht durch Medien in ihr Bewusstsein gekommen, furchte ich. Wie dem auch sei: meiner Meinung nach bilden Medien die Gesellschaft ab, und wenn die welt trauert und nur ein Thema hat, dann müssen Medien dem Rechnung tragen. Natürlich setzt der anstand Grenzen, aber die wären in diesem Fall nicht dadurch definiert, dass man ohne Bilder oder nur klein und weiter hinten im Blatt über Enke berichtet hätte. Und ganz offensichtlich hatvdas nicht einmal sie Familie Enke erwartet. Aber, noch einmal, mein Punkt ist der: wenn ein Nationalspieler sich vor einen Zug wirft, dann istvdasceine große, große Nachricht. Das mag weh tun beim zusehen, aber verschweigen lässt es sich nicht, auch keine Details. Ich finde es schändlich, die verzweifelte frau Enke am Ort des Geschehens zu zeigen. Aber dass das Auto nicht abgeschlossen war, warum soll man das nicht schreiben dürfen?

    Bitte seht mir ggf. Tippfehler nach. Wie gesagt: kommt vom Telefon.

  8. @mikis Depressionen haben viele Gesichter bzw. es gibt verschiedene Stadien und Ausprägungen der Krankheit. Ich habe nur versucht den Fall einer schweren Episode zu beschreiben, die so, durch den spontanen Entschluß zum Freitod, enden könnte. Es gibt natürlich auch die Konstellationen, die mit dem langfristig geplanten Freitod enden. Aber hier geht es eben um die Fälle, in denen durch die mediale Berichterstattung die Möglichkeit eines Suizids erst in das Bewusstsein der Erkrankten gebracht und er dann von diesen vollzogen wird.
    Natürlich müssen die Medien berichten, „wenn die Welt trauert“. Nur auch hier sollte es eben eine verantwortungsvolle Berichterstattung sein.
    Ist es ansonsten nicht ausreichend zu berichten: Der Nationalspieler xy ist in der Nähe seines Wohnortes xy leblos aufgefunden worden. Vermutlich hat er den Freitod gewählt. yx litt seit yx an Depressionen.
    Die Details, wie die Geschichte mit dem Auto, dienen, unter dem Deckmantel eines vermeintlich vorhandenen Informationsinteresses, lediglich der Befriedigung einer Sensationsgier. Ich vermag jedenfalls nicht zu erkennen, dass dieses Detail, angesichts des tragischen Geschehens, eine irgendwie geartete Bedeutung hätte.

  9. @Jürgen Nochmal danke für die Gedanken. Und auch nochmal: Ich gebe dir recht, d hätte ganz viel nicht sein müssen. Aber nach wie vor widerspreche ich dem Ansatz, vieles hätte aus einer ethischen Verantwortung nicht sein dürfen. Wir vermengen hier Fragen des Anstandes und der Verantwortung, und das geht nicht. Vieles von dem, was geschrieben und gesendet wurde war unanständig, deshalb hätte es unterbleiben sollen, aber nicht deshalb, weil Journalisten entscheiden, es könnte Nachahmer animieren. Das ist es ja, was Niggemeier behauptet und in dem Vorwurf münden lässt, die Art der Berichterstattung wäre mit Menschenleben erkauft. Das halte ich für ein falsches (und in seiner Überspitztheit geradezu boulevardeskes) Argument. Die Gefahr von Nachahmern gibt es und deshalb auch die angesprochenen Verabredungen in der Presse, normalerweise nicht über Selbstmorde zu berichten und wenn dann nur in bestimmter, zurückgenommener Form. Aber bitte, bleiben wir realistisch: Hier war die Nachricht sensationell. Nicht die Medien haben sie dazu gemacht, sie war es (also das, was im Jargon dieser an Zynismen reichen Branche „Sexy News“ genannt wird, so wie Tschernobyl oder der 11. September). Um Medien, die vielleicht etwas näher an der Lebenswirklichkeit ihrer Leser sind als ausgerechnet die FAZ, vorzuwerfen, sie hätte eine sensationelle Nachricht sensationell behandelt, muss man schon sehr, sehr weit oben im Elfenbeinturm leben. Um ihnen vorzuwerfen, sie würden dadurch Menschenleben gefährden, muss man schon ein sehr eingebildeter Mensch sein. Möglicherweise weiß Herr Niggemeier, welche Informationen man der Öffentlichkeit zumuten kann und welche nicht, und möglicherweise gibt es da auch Studien, die das belegen. Aber ich bin froh, dass in diesem Land nicht Wissenschaftler und schon gar nicht Journalisten – gerechtfertigt durch Verantwortungsethik – entscheiden, was mir als Leser zuzumuten ist. Es gelten die Grenzen des Anstandes und, wie gesagt, einige Ausnahmen. Aber Journalisten dürfen nur das Ziel haben, Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen. Wenn es prinzipiell darum ginge, durch das Verschweigen von Details Nachahmer von unerwünschten Taten abzuhalten, dann wäre Capotes „Kaltblütig“ kein Meisterwerk, sondern frei nach Niggemeier auch potenziell mit Menschenleben erkauft.

  10. @mikis Wenn Niggemeier schreibt, der Preis dieser Art von Berichterstattung ließe sich in Menschenleben, dem der Nachahmer, zählen, ist dem erstmal zuzustimmen. Der so genannte „Werther-Effekt“ ist nun einmal durch zahlreiche Studien belegt. Dabei ist es grundsätzlich nebensächlich, um wieviele Nachahmer es sich tatsächlich handelt und handeln könnte. Der Tod des Nationalspielers ist die Nachricht. Alle weiteren Informationen sind „schmückendes“ Beiwerk, die nicht zum Verständnis des Geschehenen beitragen. Oder glaubst Du ernsthaft, dass es, angesichts der Tragik dieses Vorfalls, wirklich jemanden interessieren könnte, wie z. B. das Auto zurückgelassen wurde? Dann würde vermutlich auch das letzte Mahl, der letzte Stuhlgang irgendeinen Freak interessieren. Das vermeintliche Informationsbedürfnis, welches immer ins Feld geführt wird, ist ein Scheinargument, welches nachträglich die ausufernde Berichterstattung rechtfertigen und das Gewissen beruhigen soll. Nur dieses Informationsinteresse ist durch die Medienschaffenden selbst definiert und durch nichts belegt. Die Beschränkung auf die wesentlichen, nüchternen Fakten hat auch nichts mit Zensur zu tun. Die Medien als Vierte Gewalt – unterstellt sie sind es – agieren hier wie die Hure oder der Auftragskiller, die ein gewisses Bedürfnis bedienen, wenn es denn nachgefragt wird. Manchmal schafft aber auch erst das Angebot die Nachfrage.
    Abseits der Diskussion über Gesinnungs- und Verantwortungsethik, es gelten die Grenzen des Anstandes – ausnahmslos.

  11. @Jürgen Beim Anstand bin ich bei dir, bei der Kernthese immer noch nicht: Natürlich kann ich dem theoretisch zustimmen, wenn ich sage, man kann schlechte Plattenkritiken in Arbeitsplätzen aufrechnen, die durch die daraus resultierenden Nichtkäufer verursacht werden und Berichte über rechtsradikale Überfälle in Opfern von rechtsradikalen Überfällen, weil auch die nachgeahmt werden. Man könnte sagen, Medienberichterstattung erzeugt Nachahmer. Aber das lässt außer Acht, dass Medien im besseren Fall die Realität abbilden. In Wahrheit erzeugt also die Realität Nachahmer, also das Leben an sich. Die Berichterstattung an sich lässt sich glücklicherweise nicht verhindern. Der Werther-Effekt, den du ansprichst, ist offenbar gekoppelt an die Art und Weise der Berichterstattung, die qualitativ sortiert wurde nach Größe, grafischer Aufmachung und Prominenz der Platzierung. Diese drei Faktoren sind in diesem Fall überhaupt nicht zu beanstanden: Wenn ein Nationalspieler Selbstmord begeht, wird darüber groß, prominent und mit Bildern berichtet, alles andere wäre keinem Leser jenseits der FAZ vermittelbar. Die Frage, ob die Regeln des Anstands verletzt werden oder nicht spielt beim Werther-Effekt nach allen Daten, die ich dazu finde, keine Rolle, auch nicht in der Argumentation von Niggemeier. Dass diese Regeln reihenweise in ekelhafter Art und Weise verletzt worden sind steht für mich außer Frage und ich habe das auch klar gesagt. Aber noch einmal: Dass groß, prominent und mit Bildern berichtet wurde halte ich für richtig. Was genau berichtet wurde, wie und mit welchen Bildern, das kritisiert Niggemeier völlig zu recht. Aber es ist mit nichts zu belegen, dass eine ähnlich große, ähnlich prominente aber inhaltlich weniger „sensationsheischende“ Berichterstattung weniger Nachahmer gefunden hätte. Ich bleibe dabei: Es werden zwei Argumente miteinander vermengt, Anstand und Verantwortung zu einer Sache gemacht, und das ist falsch und ein billiger Vorwurf aus dem Elfenbeinturm.

  12. @mikis Grundsätzlich stimme ich Dir zu, Medien sollen die Realität abbilden und jede Meldung könnte Nachahmer finden bzw. auch negative Folgen haben. Wenn ein Produkt auf den Markt kommt, entscheidet in der Regel der Konsument über Erfolg oder Mißerfolg. Wenn rechtsradikale Schläger über die Dörfer ziehen, werden sie zum Täter durch ihre Ideologie und nicht durch die mediale Aufmerksamkeit. Deshalb kann / soll in diesen und anderen Fällen auch berichtet werden. Nur, die Berichterstattung über Suizide ist eben ein Sonderfall, der auch explizit in den Pressekodex aufgenommen und dort geregelt wurde. (s.u.). Möglicherweise erfolgten diese Vorgaben, weil man sich des „Werther-Effektes“ bewusst war. Ob die Verletzungen des Anstandes an sich und aufgrund einer einzelnen Berichterstattung zur Nachahmung animiert, kann in diesem Fall, ausnahmsweise, außer Betracht bleiben. Diese Anstandsverletzungen machten aber die tägliche Präsenz des Themas in den meisten Medien erst möglich. „Selbst komplett irrelevante Details werden in den Rang einer Sondernachricht gehoben“, schreibt Niggemeier. Wenn der „Werther-Effekt“ an die Art und Weise der Berichterstattung gekoppelt ist, liegt eben hierin auch die Verantwortung der Medienschaffenden. Es geht dabei nicht um die Frage, ob über diese Fälle überhaupt berichtet werden darf oder nicht, es geht ausschließlich um die Frage des Wie. Aber auch, um die Häufigkeit der Berichterstattung.

    Pressekodex

    Richtlinie 8.1 – Nennung von Namen/Abbildungen
    (1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle…veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild…Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.

    Richtlinie 8.5 – Selbsttötung
    Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände. Eine Ausnahme ist beispielsweise dann zu rechtfertigen, wenn es sich um einen Vorfall der Zeitgeschichte von öffentlichem Interesse handelt.

    Aus Niggemeier:
    Der Suizid sollte nicht als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion dargestellt werden oder als alternativlos dargestellt werden. Im Falle Enke hatten die lieben Kollegen der schreibenden Zunft bereits am gestrigen Abend nichts Besseres zu tun, als den Freitod als nachvollziehbare Reaktion auf den Tod seiner Tochter darzustellen.

    Die Suizidmethode und der Ort des Suizids sollten weder detailliert beschrieben, noch abgebildet werden. „Natürlich” weiß heute ganz Deutschland ganz genau, an welchem Ort sich Robert Enke wie umgebracht hat. Selbst komplett irrelevante Details werden in den Rang einer Sondernachricht gehoben.

  13. @Jürgen Jetzt sind wir uns ja schon fast einig, und ich bin sehr sicher, auch der Presserat würde den Tod Enkes als Vorfall der Zeitgeschichte einordnen und ein Informationsinteresse jenseits des reinen Sensationsbedürfnisses bejahen. Irgendjemand wird sich schon beschweren und dann erfahren wir es. Ich bin aber in noch einem Punkt der Meinung, dass die Mechanik eine andere ist, als Du sagst. Ich glaube nicht, dass die Sensationalisierung von Details dazu geführt hat, dass der Fall überhaupt so lange in den Medien gehalten werden konnte, sondern dass ganz einfach der Wille (als der gefühlte Wunsch der Öffentlichkeit) da war, immer „noch was zu Enke zu machen“. Allerdings sind die meisten Redaktionen ganz offensichtlich nicht in der Lage, das mit Anstand zu erledigen und berichten deshalb über jeden nichtigen Dreck, den sie finden können. Ich bin auch angesichts des Werther-Effekts nicht der Meinung, dass man die Geschichte früher hätte ruhen lassen müssen oder können. Ich war auch bewegt von der Nachricht, und ich wollte auch ständig mehr darüber erfahren und habe nach immer mehr Nachrichten gesucht. Allerdings hast du vollkommen recht: Das meiste, was ich gefunden habe, waren keine Nachrichten. Das war kein guter Journalismus, sondern teilweise richtig schlechter. Aber, und darum geht es ja hier, nicht einmal diese in diesem Fall schlechten Journalisten müssen sich von Kollegen aus dem Elfenbeinturm den Vorwurf gefallen lassen, sie würden in Kauf nehmen dabei Menschen umzubringen. Das ist nicht wahr und ein billiger Vorwurf.

  14. weiss nicht, irgendwie kommt mir bei nachahmung eher amokläufer, doppelteensuizide und viellleicht auch: „sie wollte im alter ihren kindern nich mehr zur last fallen“ in den sinn.

    hätte man den damals nun der werther also lieber nicht veröffentlichen sollen? wobei ich glaub mich zu erinnern der wurd zum teil tatsächlich verboten…

    ich hab mir gerad nochmal ein zeitinterview mit sebastian deisler durchgelesen.
    hab mich bei der grossen anteilnahme an enkes schicksal gefragt ob da nich was schief ist in der öffentlichen wahrnehmung. aber ist ja auch alles nicht vergleichbar und auch ein paar jahre auseinander.
    und doch ist mir mulmig dabei.
    ich wünschte ich wäre sicher das die medien und wir wirklich verständnis gehabt hätten wenn sich ein profi zu psychischen krankheiten bekennt.

  15. @mikis Hinsichtlich der Aufgaben der Medien waren wir doch grundsätzlich von Beginn an einig. Der Dissens besteht lediglich in der Bewertung des medialen Umgangs im konkreten Fall. Der Presserat, wenn sich denn jemand an ihn wenden würde, wird den Tod Enkes mit großer Wahrscheinlichkeit als Vorfall der Zeitgeschichte bewerten. Ob er allerdings das Informationsinteresse höher als das Persönlichkeitsrecht wichten wird, bezweifle ich. Augenscheinlich aber nicht nur ich. Wie war zu lesen, „die meisten Redaktionen (sind) ganz offensichtlich nicht in der Lage, das mit Anstand zu erledigen und berichten deshalb über jeden nichtigen Dreck, den sie finden können.“ Oder weiter: „Das meiste, was ich gefunden habe, waren keine Nachrichten. Das war kein guter Journalismus, sondern teilweise richtig schlechter.“ Auch da sind wir in der Bewertung eigentlich einig. Wenn man dieser Erkenntnis folgt, ist „der gefühlte Wunsch der Öffentlichkeit“ genau, wie ich schon einmal schrieb, dies, nämlich „ein Scheinargument, welches nachträglich die ausufernde Berichterstattung rechtfertigen und das Gewissen beruhigen soll“. Niggemeier mag, was immer man sich darunter vorstellen mag, in einem Elfenbeinturm sitzen, weshalb er das Kind aus dieser Position nicht beim Namen nennen darf, erschließt sich mir nicht. Dies selbst dann nicht, wenn man unterstellen wollte, dass die meisten der Journalisten den „Werther-Effekt“ nicht kennen würden. Den Pressekodex hingegen sollten sie wenigstens einmal gelesen, im besten Fall auch verstanden haben.

  16. @Jürgen ich habe ja schon am Tag nach Robert enkes Tod geschrieben, wie unwürdig und Thema vorbei das ist, was viele Journalisten veranstalten. Aber das ist etwas anderes zu sagen, sie sollten es besser tun, als sie sollten es aus Angst vor Nachahmern gar nicht tun. Es geht hier um einen Suizid, ein Suizid ist normalerweise ein Sonderfall in der Berichterstattung, aber dieser Suizid war eben kein „normaler“. Also durfte und musste man auch ausführlich berichten, denn natürlich hat sich Robert Enke selbst freiwillig zu einer Person der Zeitgeschichte gemacht inddas Interesse an seinem Tod war real und berechtigt. Wenn die Presse da nicht berichtet, ist sie überflüssig. Es war das Thema der Woche und wäre es auch gewesen, wenn die Berichterstattung In den Details reduzierter gewesen wäre. Keinem potenziellen Nachahmer, dem deiner Argumentation entsprechend erst durch Enkes Tod die Möglichkeit des Selbstmordes ins Bewusstsein gerückt worden ist, wäre die Tatsache, dass er sich umgebracht hat, vorzuenthalten gewesen. Ich gebe dir mit allem recht, aber nicht in dem Punkt, der bei niggemeier die Schlussfolgerung ist: er behauptet, hier gingen Journalisten für die Quote über Leichen. Und das ist einfach nicht wahr. Im Elfenbeinturm des Medienjournalismus, in dem sich die dreckigen Fragen der Praxis immer nur hinterher und immer nur theoretisch stellen, mag es ein toll klingender Satz sein, der sicher auch viel Ja-genau-Kopfnicken einer zu recht von den Medien im Fall Enke angeekelten Leserschaft erfäht. Aber in der Sache bleibt er falsch und in der Unterstellung infam. Ich bin irrsinnig enttäuscht davon, wie er hier den billigen Punkt macht. Es hätte genug zu kritisieren gegeben, auch ohne den Vorwurf der fahrlässigen Tötung von Depressiven.

  17. @mikis Niggemeier schreibt doch nicht, dass es keine Berichterstattung geben soll. Es geht ihm um die Art und Weise, die Du doch ebenfalls kritisierst. Die Kritik Niggemeiers richtet sich auch nicht explizit an die Journalisten. Vielmehr geht es ihm um den Umgang der Medien mit dem Thema. Journalisten sind nun eben mal Teil der Medien. Insoweit umfasst seine Kritik auch jene, aber nicht ausschließlich nur diese. Journalisten selbst schielen doch am wenigsten auf die Quote. In den meisten Fällen wollen sie doch einfach nur gute Geschichten veröffentlichen. Vor der Veröffentlichung steht aber noch die Redaktion und dahinter der Verlag. Ab dieser Ebene geht es um die Quote. Letzlich können Journalisten als schwächsten Glied der Kette, viele andere stehen doch schon vor der Tür, sich diesem Auflagen- und Quotendruck nicht entziehen. Insoweit ist Niggemeiers Kritik eine, die auf das System und die Wirkungsmechanismen der Medien abzielt.
    Wie es in den Redaktionsstuben und Verlagen zugeht (immer weniger müssen immer mehr verantworten), ist genug beschrieben worden. Aber es sind eben auch genau jene Zustände, die dieses Art der Berichterstattung erst möglich machten. „Schon am Dienstagabend enthielten die Meldungen der Nachrichtenagentur dpa jedes verdammte Detail über den Ort und den Ablauf des Geschehens“ liest man bei Niggemeier. Nun stellen wir uns doch einfach mal eine Redaktion vor, die mit eben jenen detaillierten Nachrichten versorgt wird. Denn es ist doch nicht nur eine Redaktion, welche am dpa-Ticker hängt. Zeit zur Reflektion über die eigene Berichterstattung, bleibt auch nicht. Zumal die meisten Redaktionen mit diesen Informationen versorgt sind. Irgendeiner wird schon 1:1 kopieren, was da aus dem Ticker kommt. Weshalb also nicht auch wir? Schließlich entscheidet der Käufer morgen am Kiosk über den Erfolg. Bricht unsere Quote an diesem Tag ein, die des direkten Konkurrenten steigt, haben wir doch gleich die Pfennigfuchser auf dem Hals, die uns unangenehme Fragen stellen. Also machen wir es wie vermutlich die meisten Medien und veröffentlichen das, was ohnehin schon in der Welt ist. Über den „Werther-Effekt“, so er überhaupt bekannt ist, hat sich da sicherlich niemand Gedanken gemacht.
    Insoweit sollte man doch lieber über die „dreckigen Fragen der Praxis“ diskutieren, als über den berechtigten Vorwurf, hier seien fahrlässig Menschenleben aufs Spiel gesetzt worden. Letzteres wird sich leider als wahr erweisen. Und da ist es denn wiederum egal, ob dieser Anstoß aus einem Elfenbeinturm oder aus der „Gosse“ des täglichen Geschäfts kam.

  18. @Jürgen Ich muss nochmal sagen, wie dankbar ich für die Diskussion bin: vielen dank für die ausführlichen Argumente und Gedanken, entschuldige, dass ich wieder vom tippfehlerverdächtigen Handy antworte. Aber zum Thema: Niggemeier erwartet offenbar mitten in der spektakulärsten Geschichte zumindest der letzte Monate ein Innehalten der Redaktionen, um gemeinsam eine Ethikdiskussion noch einmal zu führen, die bereits geführt ist und in ratschlagen des presserates gemündet hat (die hier wie besprochen nicht greifen), oder aber die Übernahme von Empfehlungen eines Interessenverbandes. Eines ganz tollen Verbandes, aber trotzdem. Beide Ideen Ehren jeden, der gegen Suizide arbeiten und etwas bewegen will, aber im Prinzip keinen journalisten. Als journalist habe ich meine Seite gewählt, und das ist die der offenen Information, nicht die der geführten Information. Ich habe schon gesagt, dass ich die generelle suizidausnahme jenseits des zeitgeschichtlichen Ereignisses befürworte, aber das greift hier nicht. Wer journalist werden will, dabei aber nicht damit leben, dass seine öffentlichen Artikel oder Sendungen folgen in der Realität haben ist im falschen Job. Insofern kann mannjedes bisschen Journalismus in Menschenleben aufwiegen, und wer weiß wie viele Künstler sich nicht umgebracht hätten, wenn die Kritiken besser gewesen wären. Noch einmal: die Berichterstattung zu Robert Enkes Tod war kein glanzstück. Aber das nicht deshalb, weil sie den Empfehlungen einer Gesellschaft zur suizidprävention nicht entsprochen hat. Das zu behaupten und den Kollegen dabei fahrlässige Tötung vorzuwerfen (allen außer denen, bei denen man zufällig anfestellt ist natürlich) finde ich grauenhaft schlechten Stil. Falsch ist es außerdem. Also: das Argument, dass diese berichterstattung in Menschenleben abzurechnen ist ist dann statthaft, wenn wir absolut jede handlung in Menschenleben aufwiegen. Dann muss man ehrlicherweise auch sagen: wer so über Enkes Tod berichtet ist fast so ein Schwein wie jemand, der mit dem Auto zur Arbeit fährt und dadurch Menschen gefährdet. Wenn das plötzlich das Argument ist, dann meinetwegen. Aber Niggemeier ist hier weit, weit weg von jeder realistischen Art, Journalismus zu machen. Das aber mit dem Ton moralischer Überlegenheit. Uncool.

  19. @mikis Die Diskussion mag geführt sein, den Faden noch einmal aufzunehmen, scheint aber notwendig. Wann, wenn nicht jetzt? Soll man warten, bis sich der erste Schnee des Vergessens über die mediale Berichterstattung gelegt hat?
    Journalismus ohne Tabus, immer der Wahrhaftigkeit verpflichtet. Welch hehres Ansinnen. Da ist aber noch der Pressekodex, der ein wenig Orientierung geben sollte. Aber dem steht wohl die Realität entgegen.
    Wie schon geschrieben, die Medien bestehen nicht nur aus Journalisten. Die können, insbesondere wenn sie sich als Freie durch den Alltag schlagen, sich den Luxus der Wahrhaftigkeit auch gar nicht immer leisten.
    Vor einiger Zeit übernahm ich den Auftrag, eine Restaurantkritik zu schreiben. Veröffentlicht wurde sie allerdings nicht. Der Betreiber war ein Werbekunde des Verlags, das Medium, wie ich per Mail erfuhr, kein „Nörgel-Magazin“. Immerhin, die Redaktion hat die Rechnung übernommen. Irgendwann traf ich in geselliger Runde auf den Redakteur einer Lokalzeitung. Alsbald beklagte er sich. Nicht etwa wegen der Arbeitsbedingungen. Nein, weil alles wofür man sich in der Vergangenheit medial eingesetzt hätte, nun „den Bach runtergeht.“ In diese Kategorie gehört auch der Fall eines Freundes. Gemeinsam mit einem Kollegen hatte er die Geschichte eines Netzwerkes, welches ein öffentliches Unternehmen über Jahre zum eigenen Vorteil finanziell ausweidete, veröffentlicht. Daraufhin berichtete auch die Regionalzeitung. Die hatte allerdings nur positive Nachrichten über das Unternehmen zu verkünden. Dieser Tage erhielt ich die Mail einer Redakteurin, „entschuldige die verspätete Antwort, es war zuletzt ein bisschen chaotisch hier. Ich finde den Text trotzdem schön und würde ihn in den nächsten Tagen noch mitnehmen… kann allerdings leider kein Honorar zahlen, ich hoffe,…es ist okay für Dich“. Diese chaotischen Tage beschreiben einen Zeitraum von drei Wochen. Zwischenzeitlich fand sich aber noch ein Abnehmer. Der „Gewinn“, nach Abzug der reinen Recherchekosten (die Geschichte spielte an zwei Orten), entspricht in etwa dem Alg-2 Tagesatz. Das gehört eben auch zur Realität.
    Hört man sich im Kollegenkreis um, können viele von ähnlichen Erfahrungen berichten. Schreibende Praktikanten, Schüler, Studenten und Rentner stehen vielfach in direkter Konkurrenz zu Berufskollegen. Zudem sinken die Honorare stetig. Bisweilen verfallen unter diesen Bedingungen auch die guten Sitten zwischen den Kollegen. Vor einiger Zeit erhielt ich die Mail einer Redaktion. Eine Kollegin, mit der ich bis dahin gelegentlich zusammengearbeitet hatte, wies darauf hin, dass in einem veröffentlichten Artikel unrichtige Tatsachenbehauptungen aufgestellt worden seien. Früher hätte man sich gegenseitig darauf aufmerksam gemacht und direkt nachgefragt. Heute nimmt man den Weg über Dritte und kratzt somit ein wenig am Lack der Kollegen. Übrigens, die Kollegin hatte sich geirrt. Obgleich nicht aus dem Elfenbeinturm kommend, finde ich Niggemeiers Kritik zutreffend und berechtigt. Denn es geht nicht um kritisierte Künstler, Autofahrer oder sonstige Personen, es geht bei dieser Art Berichterstattung um die Wirkung auf psychisch Erkrankte, immerhin ein Personenkreis von ca. 4 Mio. Der Dissens über die Verantwortung der Medien wird wohl bleiben.

  20. @Jürgen Ich könnte nicht mehr einer Meinung mit dir sein, und viele der Geschichten kenne ich ähnlich, sie geben sicher ein stimmiges Bild ab. Bis auf, wie gesagt, den einen Punkt sind wir uns einig und wollen wahrscheinlich auch das gleiche. Mir liegen die vier Millionen Kranken am Herzen. m Gegensatz zu dir glaube ich, dass mehr Betroffenen durch die Berichterstattung geholfen als geschadet wurde, weil ich weiß, dass viele Depressive an dem Gefühl leiden, Versager zu sein und die einzigen, denen es so geht. Aber wie dem auch sei: gerade wiel Niggemeier in der Lage ist, die Argumentation mit dem Florett zu führen, stört mich die Hammermethode mit der konstruierten Inkaufnahme von Toten durch die Berichterstattung (wäre er nicht normalerweise so gut hätten wir auch hier nicht so ausführlich diskutiert, nehme ich an). Was aber nichts daran ändert: Für den Journalismus ist das keine gute Zeit. Obwohl es die sein könnte. Stefan Niggemeier gehört ja auch zu denen, die vormachen, wie weit private Initiative reichen kann und wie viel Einfluss so ein Blog gewinnen kann.

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