Wenn Qualitätsmedien nichts sagen

Über die Schweinegrippe will ich gar nicht reden, und das ganze Chaos drum herum, und es haben ja auch nicht die Medien dran schuld. Ich habe ein noch viel deprimierenderes Stichwort, das mit Sicherheit keiner mehr hören kann und will, aber ich warte nun seit Wochen und Monaten, dass irgendwann mal jemand sagt, was Sache ist, und es passiert nicht. Also nun ich: Es ist aus meiner Sicht eine Schande, was in diesem Land im Namen des Volkes mit John Demjanjuk passiert. Unter unser aller Augen, obwohl wir alle Fakten haben, die zur Bewertung des Falles auch aus medialer Sicht nötig sind. Offenbar will sich keiner an dem Nazi-Dreck die Finger verbrennen, und deshalb sagt niemand etwas. Das ist feige und falsch, und ich verbrenne mich jetzt.

Kennen Sie den Fall? Wahrscheinlich ja. Er wurde ausführlich auf allen Kanälen besprochen, aber ich gebe zu, bei mir ist zuerst nicht viel mehr hängen geblieben als: Ehemaliger KZ-Wächter. Was in meinen Synapsen sofort den Reflex auslöst: Für immer wegsperren. Fertig. Aber tatsächlich ist der Fall ein bisschen mehr als das.

Demjanjuk wäre, so weit ich das überblicken kann, der erste Ausländer, den ein deutsches Gericht wegen seiner Nazi-Kollaboration verurteilen würde. Er ist angeklagt, Beihilfe zur Ermordung von 27900 Menschen im Vernichtungslager Sobibor geleistet zu haben (schon diese Zahl lässt erschauern, denn sie setzt sich zusammen aus der Zahl der in Viehwaggons nach Sobibor verfrachteten Opfer minus einer gerundeten Toleranz von solchen, die hochgerechnet wahrscheinlich schon auf der Fahrt gestorben sind). Und das glaubt das Gericht Demjanjuk nachweisen zu können: Das er in Sobibor war. Es gibt einen Ausweis und einen Verlegungsbefehl – und möglicherweise Zeugen, aber dazu kommen wir noch.

John, damals noch Ivan, Demjanjuk war ein ukrainischer Bauernjunge, der im Krieg erst in die Rote Armee und dann in Kriegsgefangenschaft geriet. Aus dieser Gefangenschaft heraus wurde er zum „Trawniki“, zu einem von 4000 bis 5000 von der SS ausgebildeten Helfer. Diese Trawniki, alle zwischen 18 und 22 Jahren alt, hatten sich zumeist „freiwillig“ gemeldet – jedenfalls so freiwillig, wie man die Möglichkeit annimmt, seine Lage in der Kriegsgefangenschaft zu verbessern. Er war als Wächter in mehreren KZ stationiert, auch in der Außensicherung von dem reinen Vernichtungslager Sobibor, wo während der höchstwahrscheinlichen Zeit seiner Stationierung von März bis September 1943 mindestens 29000 Menschen umgebracht wurden.

Er war da.

Das ist es, was wir ihm vorwerfen: Er war da. Es ist ein schwer wiegender Vorwurf, und er ist offenbar einigermaßen gut zu belegen: Ivan, später John, Demjanjuk war ein KZ-Wächter, und das ist ein Verbrechen. Natürlich ist es das. Es gab Kriegsgefangene der Wehrmacht, die sich nicht freiwillig als SS-Schergen verpflichten ließen, selbst unter der halb erzwungenen Freiwilligkeit nicht. Aus meiner Sicht muss John Demjanjuk für diesen schweren Fehler, den er als junger Mann begangen hat, bestraft werden.

Und genau das ist längst passiert: Demjanjuk wurde in Israel zum Tode verurteilt und saß sieben Jahre im Gefängnis, weil Zeugen ihn als „Iwan den Schrecklichen“ identifiziert hatten, einen berüchtigt grausamen Aufseher im Lager Treblinka – erwiesenermaßen ein Fehlurteil, das auch deshalb möglich wurde, weil das amerikanische Justizministerium bei Demjanjuks Auslieferung an Israel entlastende Unterlagen zurückgehalten hatte (Demjanjuk war nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten emigriert, nannte sich nun John und wurde US-Staatsbürger). Zeugen hatten ihn eindeutig identifiziert, damals, obwohl er es nicht war. Und die Wahrscheinlichkeit, dass heute, noch viel später, die Zeugenaussagen verlässlicher sind, ist eher gering. Er war da – das ist es, was wir beweisen können, in meinem Namen und in Ihrem.

Eine kleine Anekdote aus dem Prozess in Israel muss man vielleicht noch erzählen: Demjanjuk leugnet bis heute, Trawniki gewesen zu sein. Er will über die drei Jahre einfacher Kriegsgefangener gewesen sein. Das Gericht glaubte ihm nicht: In dem Lager Chelm, in dem er saß, hätte er die Zeit unmöglich überleben können, dafür wären die Zustände zu schlecht gewesen.

Das ist die Situation: Ein Kriegsgefangener in einem Lager, in dem die Zustände so sind, dass es als ausgeschlossen gelten muss, dass hier ein Gefangener lange überlebt. Er ist damals 22 Jahre alt und meldet sich freiwillig, um aus dem Lager zu kommen. Wie gesagt: Mit der Arroganz des später Geborenen halte ich trotzdem daran fest, dass es unser Menschsein gebietet, nicht als Aufseher in einem KZ zu „arbeiten“, nicht in einem Vernichtungslager Menschen aus Viehwaggons in Gaskammern zu treiben. Das war verbrecherisch. Aber John Demjanjuk hat sieben Jahre lang in einem israelischen Gefängnis gesessen, seine Hinrichtung vor Augen, für Verbrechen, die er nicht begangen hat. Er ist mehrfach in den USA aus- und wieder eingebürgert worden, hatte Auslieferungen in die Ukraine und nach Deutschland vor Augen und landet nun, als alter, kranker Mann, hier – um von den Leuten verurteilt zu werden, die ihn aus seiner Sicht erst in die Situation gebracht haben, in der er Verbrechen begehen konnte.

Keine dieser Informationen ist geheim. Sie sind so alle – wenn auch nicht alle gleichzeitig – in deutschen Qualitätsmedien zu finden, aber wie das so ist, wenn man nur Fakten, Fakten, Fakten aneinander reiht: Es ist kein Bild entstanden über die Schlagworte „Ivan der Schreckliche“, „KZ-Wächter“ und „Beihilfe zum tausendfachen Mord“ hinaus.

Ich glaube, wir haben den falschen Mann, um ein Exempel an ihm zu statuieren. Aus meiner Sicht ist er kein Unschuldiger, aber er ist auch nicht nur Täter, sondern die Figur seiner eigenen Tragödie.

Er wäre der erste Trawniki, der in Deutschland verurteilt würde – im Ausland sind viele der „Kollaborateure“ zu teilweise langen Strafen verurteilt oder hingerichtet worden. Aber SS-Wächter aus Sobibor sind bereits in Deutschland verurteilt worden: Der Lagerkommandant Franz Stangl und ein weiterer SS-Mann zu lebenslanger Haft, ein weiterer beging vor dem Urteil Selbstmord. Vier SS-Wächter erhielten Haftstrafen zwischen drei und acht Jahren. Vier weitere wurden freigesprochen. Obwohl sie da waren.

Ich hasse die Tatsache, dass ich plötzlich mit einem Nazi-Schergen mitfühlen soll. Aber man kann auch nicht einfach eine Geschichte gar nicht erzählen.

 

3 Antworten auf „Wenn Qualitätsmedien nichts sagen“

  1. Wichtig, und Voraussetzung für eine so diffrenzierte Stellungnahme, finde ich die Feststellung, daß er kein Unschuldiger ist und möglicherweise dennoch ungerecht behandelt wird. Das setzt eine gewisse Hinauswachsen über das Schwarz-Weiß-Schema von den Unschuldigen Guten und den Todeswürdigen Bösen voraus, das ich mir von den Massenmedien nicht mehr erhoffe, von der Justiz aber schon…!

  2. Ich verstehe die Fakten des Beitrags (die ich in den letzten Monaten auch so in etwa aus verschiedenen Medien zusammenreimen könnte): Demanjik war wohl KZ-Mann, aber das Ausmaß der Schuld ist bislang nicht (öffentlich) bekannt und man fragt sich, was das ganze soll. Aber was nun? Wer soll nun wie alles anders berichten oder entscheiden? Wer hat was genau falsch gemacht und soll es nun anders tun? Will sagen: Ich kapiere den Beitrag nicht wirklich – und sein Motiv auch nicht.

  3. Sorry, dann nochmal ganz knapp: wir werden nichts herausfinden. Wir werden beweisen, dass er da war. Mehr werfen wir ihm nicht vor. Und dafür hat er, meiner Meinung nach, bereits gebüßt. Das ist unfair. Und niemand sagt es, weil ein Nazi-Kollaborateur eben eklig ist. Das war meine Motivation. Ist es so verständlicher?

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