Die letzten unserer Art?


Ich habe an anderer Stelle schon ausgeführt, warum ich nicht glaube, dass „der Journalismus“ aussterben wird. Aber ich glaube, dass viele Spezies innerhalb des Systems Journalismus bedroht sind (oder bereits ausgestorben. RIP, Schriftsetzer). Als ehemaligem Waldorfschüler und erklärtem Neo-Öko wird es nicht überraschend sein, dass ich jedes System als Ökosystem begreife, das nach den Gesetzen der Ökologie funktioniert. Und ich kann mich nicht erinnern (allerdings war es auch knapp vor meiner Zeit), dass um die Setzer, Fotolaboranten und ähnliche Opfer des technischen Fortschritts so viel Aufhebens gemacht wurde wie heute um diejenigen, die den so genannten „Qualitätsjournalismus“ bieten. Veränderung nach technischen Fortschritten scheint uns unvermeidlich. Inhaltliche Veränderung dagegen bekämpfen wir geradezu instinktiv.
Während die Nachricht als reine Information eine gute Zeit hat, während sie schneller und meiner Meinung nach im Regelfall auch korrekter und ausführlicher um die Welt reist als früher (was auch ein Verdienst der Watchblog-Kultur ist, die falsche Informationen recht schnell aufdeckt), erlebt nicht der Journalismus in seiner Kernfunktion einen Niedergang, wohl aber viele großartige, gewachsene und vielleicht sogar wichtige journalistische Formen. Wir könnten einige aufzählen, aber ich beschränke mich auf die, an der man es am deutlichsten sehen kann (und die mir – Disclosure – die liebste ist). Wir erleben in den letzten Jahren den Niedergang der Reportage. Und es steht keineswegs fest, dass sie am Ende der Entwicklung nicht ausgelöscht sein wird. Für mich ist das – wieder instinktiv – eine furchtbare Vorstellung. Aber wir müssen untersuchen, warum es so ist, ob es vermieden werden kann oder sogar muss und was, wenn die Reportage tatsächlich eine wichtige Funktion erfüllt haben sollte, an ihre Stelle treten kann, wenn sie nicht zu retten sein sollte.
Ich weiß selbst, dass die journalistischen Darstellungsformen nirgendwo so unsauber definiert sind wie rund um Reportage, Feature und Verwandte, deshalb definiere ich die Reportage so, wie ich sie für mich immer definiert habe: Reportage ist, wenn ein Reporter geht und sich etwas mit eigenen Augen ansieht und darüber berichtet, dabei aber nicht nur die Fakten darlegt, sondern Auge und Ohr der Leser ist, um es ihnen zu ermöglichen, sich selbst ein Bild von einer Situation zu machen, das über statistische Daten hinaus geht. Für mich ist es die Königsform, weil selten eine andere Form den Leser so nah an das Erleben heranbringt wie die gute, geschriebene und im besten Fall auch gut geschriebene Reportage. Ein Fernsehteam verändert fast jede Situation allein durch seine Anwesenheit zu sehr, um noch eine tiefere Wahrheit einfangen zu können, außerdem liegt es in ihrer Natur (wie in geringerem Maße auch bei Fotografen), das Wichtigste nicht im Bild zu haben oder nachstellen zu müssen. Gute Reportagefotografen waren und sind Könige des Journalismus, aber sie werden immer weniger, obwohl sie ohnehin längst nicht mehr zahlreich waren, weil das Geschäft einfach keine Familien mehr ernährt.
Diese Art der Reportage ist teuer, vor allem, weil sie zeitintensiv ist, manchmal auch, weil Reisekosten anfallen. Gleichzeitig zieht sie nicht viele Anzeigen (Modeproduktionen sind teurer, refinanzieren sich aber eher selbst). Ich erinnere mich noch, als festangestellter Redakteur eine Woche und länger „auf Reportage“ gewesen zu sein. Das war vor zehn Jahren. Noch einmal zehn Jahre davor müssen es, wenn man den älteren Kollegen glaubt, auch mal mehrere Wochen gewesen sein, die sie unterwegs waren. Heute leisten sich nur noch wenige Magazine überhaupt noch Reportagen, die nicht von Reiseveranstaltern gesponsort werden. Redakteure sind viel zu teuer, um sie eine Woche wegfahren zu lassen, deshalb schreiben fast nur noch Freie überhaupt Magazin-Reportagen (und rechnen das mental oft in ihren Urlaub mit ein, damit es sich lohnt). Vom Zeilengeld der Zeitungen lassen sich im Regelfall nur sehr lokale Themen behandeln, die nicht mehr als ein paar Stunden Recherche vor Ort erfordern. Und dabei spreche ich nur von Schreibern. Die große Fotoreportage wird nur noch von den allerbesten Magazinen gepflegt. Zwei-Mann-Teams eine Woche an einem entfernten Ort – was einmal ganz normaler Arbeitsalltag war, ist heute ein seltener Höhepunkt.
Für Reporter ist das eine Katastrophe. Als (wenn auch privilegiertes) Semi-Migrantenkind habe ich jeden Sommer meiner Jugend in dem selben griechischen Inseldorf verbracht, und die Welt zu sehen war einer der Gründe für mich, diesen Beruf zu ergreifen. Ich habe dann auch jede Möglichkeit genutzt, Neues zu sehen.
Was der Niedergang der Reportage für den Leser bedeutet, mag ich nicht beurteilen, aber mit Sicherheit ist es für sie nicht so schlimm wie für mich. Allerdings ist es auch nicht Aufgabe einer zahlenden Öffentlichkeit, mir zu ermöglichen, während meiner Arbeitszeit die Welt kennen zu lernen.
Ich bin aber sicher, dass der hausgemachte Teil der Printkrise auch damit zu tun hat, dass die Redaktionen die Sparvorgaben der Verlage zuerst einmal dadurch zu erfüllen versucht haben, dass sie an den Highlights gespart haben. Das war – damit das betont ist – vor der aktuellen Anzeigenkrise. Die Reportagen werden seit Jahren immer weniger, was die Fotografen mehrfach getroffen hat, weil sie gleichzeitig niedrigere Tagessätze, die teure Umstellung auf digitales Equipment und wegbrechende Aufträge zu verkraften hatten. Ich kenne etablierte Kollegen, die kellnern oder bei Pornofilmen Regie führen mussten, um über die Runden zu kommen (was nicht in jedem Fall unangenehm sein muss, aber eben nicht mehr der eigenen Vorstellung vom Beruf entspricht).
Wie dem auch sei: Kurzfristig hat es die Renditen der Verlage erhöht. Aber es hat Zeitschriften fast auf ganzer Breite mittelmäßiger gemacht, und diese Tatsache tritt uns gerade mit der Gewalt eines wütenden Maultiers dahin, wo es am meisten wehtut. Wenn wir darüber sprechen, dass wir uns darauf besinnen müssen, die Dinge gut zu machen, die nur Print kann, dann stehen Chefredakteure überall in der Republik gleichzeitig vor der Frage, dass sie in ihrem Magazin das tun müssen, was nur ihr Magazin kann – oder wenigstens besser kann als alle anderen. Man nannte das früher Profil. Heute hat es keinen Namen mehr, weil es so etwas nur noch selten gibt. Um es klar zu sagen: Selbst wenn Helmut Markwort und Uli Baur* etwas einfällt, das der Focus ihrer Meinung nach besser kann als alle Mitbewerber, dann würde ich doch gerne den Leser sehen, der das glaubt.
Heute, wo exklusive Scoops selten halten, bis ein Wochenmagazin erscheint, und wo sie so schnell Allgemeingut werden, dass ihrem journalistischen Urheber nur noch selten der Ruhm und die Aufmerksamkeit zukommen, die sie verdienen würden, wäre die Reportage vielleicht ein Mittel der Abgrenzung. Vielleicht ist es eine Branchen-Innensicht, dass beim Spiegel auch die Osangs, Brinkbäumers und Smoltczyks den Erfolg ausmachen, aber wenn sich die Innen- von der Außensicht so sehr unterscheiden würde, dann würden wir noch viel grundsätzlicher etwas falsch machen, und darüber möchte ich an dieser Stelle lieber nicht nachdenken.
Die große Reportage ist ein langsames, gründliches, tiefes und nicht zuletzt durch Ästhetik wirkendes Mittel. Alles Attribute, für die es im Internet noch keine Konkurrenz gibt (obwohl die Werkzeuge längst zur Verfügung stehen, am besten hier, aber das ist ein Thema für einen der nächsten Tage).
Wenn wir das Ökosystem Journalismus einer Spezies berauben, schwächen wir ihn, denn die Stabilität eines Ökosystems beruht auf ihrer Vielfalt. Andere Spezies würden folgen wie die Blumen den Bienen (endlich mal ein bisschen Sex in diesem Blog. Verdammt, das hat gedauert!). Auf der anderen Seite ist eine weitere Regel, dass kein Ökosystem es trägt, wenn eine bestimmte Spezies mehr als eine bestimmte Menge Ressourcen verbraucht, und vielleicht befindet sich meine Lieblingsform auch gerade auf einem gesunden, natürlichen Abschwung durch Auslese.
Ich bin ein großer Fan digitaler Kommunikation, vor allem, wenn sie live geschieht. Ich habe stundenlang vor den Twitterfeeds aus dem Iran gesessen und war berührt, aufgeregt, wütend und traurig über das, was zu lesen war (bzw. das Bild, das es in mir ausgelöst hat). Aber ich hätte eine Woche oder sogar jetzt noch gern die große Geschichte des fantastischen Reporters gelesen, der vor Ort war. In diesem Fall ging es nicht. Aber im Regelfall ist der einzelne Reporter das einzige unauffällige, bewegliche, wunderbar scharfe Werkzeug dafür, die Wahrheit aus den Ereignissen zu schälen und sie für die Welt erlebbar zu machen.  Was die Tweets aus dem Iran an roher, direkter Kraft hatten, hätte eine großartige Reportage in ein Gesamtbild einordnen können. Für mich sieht es so aus, als hätten wir mit der Reportage die beste einzelne Waffe in unserem Arsenal verkümmern lassen.
Nun gewinnen große Waffen keine Kriege, sonst hätten Afghanistan und der Irak längst flächendeckend McDonald’s-Filialen. Die Schlachten, auch unsere, gewinnt man durch ausdauernde, anhaltende kleine Schritte, immer und immer wieder, durch überraschende Bewegungen und einen ständigen Fluss von Ideen. Aber wir stecken in einer Schlacht, in der der andere schneller ist, mehr und bessere Ideen hat und viel mehr Ausdauer – im Internet sind Manpower, Kreativität, Ausdauer und Ressourcen nah an unendlich. Das ist im Prinzip ein Grund zur Freude, aber als Magazinmacher (der damit auch noch Geld verdienen soll) ist es eine Last. Und meiner Meinung nach ist es vernünftig, dabei auf solche Vorteile zu bauen, wie sie nur wir haben – auf die überlegene Feuerkraft, die große Waffe, die nur wir abfeuern können, weil wir die Mittel haben: das Handwerk, die Aufmerksamkeit, die Glaubwürdigkeit. Wer außer uns kann großartige Reportagen?
Dabei muss gesagt sein: Alles andere müssen wir trotzdem tun: das rennen, ausdauern und beweglich sein. Nur werden wir da nicht unbedingt besser sein als eine Hausfrau im Taunus mit einem DSL-Anschluss. Aber schick die mal nach Afghanistan.

 

*mit denen beiden ich persönlich nur gute Erfahrungen gemacht habe und die ich für gute Journalisten halte. Aber sie haben meiner Meinung nach das Pech, ein Magazin erfunden und groß gemacht zu haben, dessen kaufmännischer Erfolg zu lange überdeckt hat, dass ihm publizistisch einiges fehlte.

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